Liebe Lese-Community, bitte folgen Sie weiterhin den (nicht immer ganz) regelmäßigen Fortsetzungen. Es wird immer spannender. Unser Motto lautet (nicht nur in diesem Buch): Vorwärts zum Happyend
Die nachfolgende kostenlose Fortsetzungsreihe erfolgt aus dem Roman SEIN ERSTES BUCH von Alexander Richter-Kariger
Ideal für das Ifon, aber auch als ausgedruckter Text gut lesbar.
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II. Teil (dieser wunderbaren Geschichte) VOR, HINTER UND AUF DEM DEICH
Folge 16 vom 15. April. 2020
Wurde es gut? Es hätte das
Finale jenes mittelmäßigen, kitschigen Films, in dem ich mich scheinbar befand,
werden können. Ein Happyend wie es die Crash-Writer in ihren Soft-Romanzen nicht
besser hinzukriegen vermochten. Und es wurde auch eines. Egal, dass es sich
irgendwann als zeitlich befristet erwies und somit nur in Teilen stattfand. Aber
so ist das in Filmen. Sobald Sie sich
gekriegt haben, die Hauptakteure – meistens eine Frau und ein Mann – und
für die Sekundär-Heldinnen und Sekundär-Helden auch ein paar Glücks-Brosamen
abgefallen sind, lässt der Regisseur ausblenden. Wie es nach dem Happyend
weitergeht, welche Schwierigkeiten und Unleidlichkeiten sich ergeben, das soll
keiner mehr erfahren. Egal, Edward Erster
zog prompt mit uns an die Küste. Tineke quartierte ihn in der oberen Etage des
kleinen Landhauses ein. Sie erklärte ihrer Großmutter, dass Edward Erster nun
eine Weile mit im Haus wohnen würde. Ich natürlich auch. Erasmus, der
Schriftsteller, der Schmalliche. Und
sie nahm Abschied. Schon am nächsten Tag. Von der Großmutter, von mir. In
wenigen Tagen fing sie die neue Stelle an. Aber sie versprach wiederzukommen.
Mir und der Henriette. Sobald es möglich sei. Wir ließen sie
ziehen. Mit dem Zug. Wir standen am Bahnhof und winkten ihr hinterher. Ich, die
Henriette. Und Edward Erster. Danach kehrten wir zurück. Edward Erster in das
Obergeschoss, ich nahm im Wohnzimmer der Henriette Quartier.
Wir mussten uns
erst an die neue Situation gewöhnen. Wir zwei Ersters zusammen mit der alten
Frau, die alte Frau mit uns zwei Ersters.
Ich hatte keine
sonderlichen Probleme. Zuerst. Auch die Henriette nicht. Sie hörte ja nicht so
gut, sie lebte ohnehin anspruchslos, und sie war zufrieden, nicht allein zu sein.
Und Edward
Erster? Er war zunächst bestrebt, dankbar zu wirken. Er gab sich ausgewählt höflich
und bemühte sich um ein bescheidenes Auftreten, er klagte nicht, versuchte
nicht aufdringlich zu sein und nicht gelangweilt auszusehen. Natürlich, ich
kannte ihn gut genug, um seine heimlich gerümpfte Nase nicht zu bemerken. Die
kleinen Stuben in der engen Dachwohnung, das zugige, altmodische Badezimmer, in
dem die Toilettenspülung immer wieder klemmte, wodurch das Spülwasser manchmal
minutenlang rauschte; und der Blick aus dem Fenster, der außer dem Deich und der
riesigen Wiese als Nachbargrundstück nichts bot als Sträucher und ein paar gekräuselte
Schafe, die sich ihm gegenüber auch noch in erklärter Abwehrhaltung
positioniert hatten und ihre Blöklaute ausgerechnet während seiner Ruhe- oder
Nachdenkzeiten von sich gaben. Dazu die Henriette, die nach Tinekes Abreise
mehr denn je die Begriffe und Namen verwechselte und für einen Weltgewandten
wie Edward Erster kaum als Gesprächspartnerin taugte. Lediglich bei der
Titulierung des neuen Hausgastes vergriff sich die Henriette niemals mit den
Worten. „Der ältere Herr“, so nannte sie Edward, der wiederum die zahlreichen
kleinen und größeren Malheurs seiner Gastgeberin zwar begreifen, sie jedoch nicht
wirklich überwinden konnte. Immer mal nickte sie ein, manchmal, wenn sie
besonders erschöpft war, mussten wir, was heißt ich, ihr das Brot zu Häppchen
schneiden, und beim Essen schmatzte sie sowieso und ließ dauernd ein paar
Bröckchen runterfallen. Beim Trinken schlabberte sie und in manch unpassender Situation
passierte ihr diese und jene Unachtsamkeit, die nach Edwards Auffassung nicht
gerade zum guten Ton gehörte. All dies war
ungewollt, man konnte es nicht unbedingt appetitlich nennen. Und wenn man solch
ein feiner Pinkel wie Herr Dr. Erster war, so verursachte einem die
Gesellschaft der alten Frau nicht eben das ausgemachte Wohlfühlklima.
Dann das
Erscheinen von Dominique, die nun ihren professionellen Pflegedienst gegründet
hatte und mit Betreuungsfällen noch nicht voll ausgelastet war. Sie kam immer
mal wieder, um nach der Henriette zu schauen, ihr dieses und jenes zu helfen
und mit ihr kleinere Sprachübungen zu absolvieren. An manchen Tagen erschien
sie gar nicht, mitunter jedoch kam sie zweimal, morgens und abends, wobei ihr
aufmerksamer Blick Edward Erster nicht aussparte. Ein
potenzieller Klient?
Edward Erster,
der gerade mal vier, genauer dreieinhalb Jahre weniger als die Henriette
zählte, bemerkte es natürlich. Nein, er redete darüber nicht. Doch seine
Gedanken ließen sich unschwer erraten. Von mir. Er maß sich an ihr, mit ihr. Er
verglich. Sich mit der Henriette.
Rein äußerlich
ein himmelweiter Unterschied. Hier die alte Frau, die an den Folgen eines
Schlaganfalls litt, da der geschniegelte, körperlich unerschütterliche Gockel,
der noch immer in tiefen Zügen vom Kelch des Lebens nicht nur trank, sondern
soff. Sichtlich schauderte es ihn, wenn morgens und also zuweilen auch abends die
Pflegekraft anrückte und der alten Frau dieses und jenes half, sie in
Ausnahmefällen sogar sanitärhygienisch runderneuerte. Bekam der lebensgestählte
Ex-Großunternehmer nicht vorgeführt, was einen Menschen im fortgeschrittenen
Alter alles erwarten konnte? Vielleicht nach Verlauf eben dieser dreieinhalb
Jahre Altersunterschied? Oder noch früher, morgen vielleicht? Edward Erster verdrückte
sich sooft wie möglich. Insonderheit, wenn er Dominiques Erscheinen mutmaßte. Er
schimpfte auf der Treppe vor sich hin, wobei er Dominique, die durchaus stabil
und muskulös gebaut war und zupacken konnte wie ein Möbelhucker, als ein angriffslustiges Mannweib bezeichnete.
Er verzog sich in die kleine Dachwohnung oder er setzte sich in den Garten. Er folgte
genau dreimal meinem Ratschlag, es täglich mit einer Deichwanderung zu
versuchen. Danach orientierte er sich anderweitig. Er kam am vierten Tag mit
einem gebrauchten Wagen an. Ein grauer, von zig tausend Kilometern Fahrleistung
gezeichneter Kombi, wie es sie in dieser Küstenregion und in allen anderen
Landesteilen zuhauf gab, mit dem er folglich nicht auffallen würde. Er sagte:
„Wenn ich mit dem Hawk in der Kreisstadt aufkreuzte, wäre ich doch in drei
Minuten enttarnt. Diese Karre habe ich für wenig Geld von einem Mann geborgt,
der behauptet, der Nachbar von Tinekes Großmutter zu sein.“ Er warf
kopfschüttelnd einen längeren Blick auf die Wiese neben dem Grundstück der
Henriette. Er feixte: „Der Kerl hat nicht mal nach meinem Namen gefragt. Wie
naiv.“
Ich dachte, es
könne, dürfe, müsse sich um Clements handeln. Der Eiermann, der nicht als
solcher bezeichnet werden wollte und es dennoch war. Dem gehörte das
Grundstück. Egal, dass dort kein Haus stand, sondern nur die kommunikationsdesinteressierten
Schafe weideten.
Ich sagte es Edward
Erster. Der machte ein erstauntes Gesicht, und etwas schien hinter seiner Stirn
vorzugehen. Allerdings konnte er das Lästern nicht lassen: „Wenn ihm das
Grundstück wirklich gehört, dann gehören dem Kerl bestimmt auch diese widerlichen
Schafe. Ich hätte ihm mal noch auftragen sollen, dass er die Viecher wenigstens
nachts zum Schweigen bringen soll. Die blöken und blöken und kosten mich den
Schlaf.“
„Es ist deine
Rastlosigkeit, die dich den Schlaf kostet“, widersprach ich. „Zugleich bist du
aber auch nicht ausgelastet und weißt mit dem Leben am Deich nichts anzufangen.
Die Schafe sind nachts jedenfalls still.“
Er sah mich
zweifelnd an. „Dass du über keine echte Wahrnehmung mehr verfügst, wundert mich
nicht, Erasmus. Du sitzt stundenlang vor deinem Monitor und haust noch und noch
auf die Tasten. Das kann doch nicht gut sein. Diese monotone Schreiberei. Auf
diese Weise kann doch kein spannendes Buch zustande kommen. Da muss einer doch vielmehr
krank dabei werden. Im Kopf. Und Haltungsschäden wirst du dir auch zuziehen.
Wenn du nicht schon welche hast.“ Es war, als wolle er explodieren. „Sollen wir
nicht mal was unternehmen?“
„Was?“, fragte
ich, und „Wie?“, fragte ich ebenfalls, und dabei hatte ich Mühe, ruhig und
beherrscht zu bleiben. Nicht nur, dass ich intensiv an meinen Manuskripten zu
arbeiten hatte, wollte ich auch die Henriette nicht allein lassen.
Er zog ab,
brummelte und kündigte an, trotz der möglichen Querelen nach Berlin gehen zu
wollen. In seine Villa. Er würde bei Hanni vorfahren und mit ihr reinen Tisch
machen. Das berühmte Ende mit Schrecken. Hanni, die schöne Blondine, die nicht halb
so alt war wie er.
Nein, er ging nicht. Nicht
gleich. Er stieg in den Kombi und fuhr los. Am nächsten Tag und auch an den
nachfolgenden Tagen. Meistens fuhr er in die Kreisstadt. Oder in eine andere
Mini-Metropole. Doch er verriet nicht, was er dort tat, mit wem er Kontakt
aufnahm. Ließ er sich zu neuerlichen Amüsements hinreißen, leitete er Geschäfte
ein oder hatte er ein passables Wellness-Center entdeckt? Keine Auskunft. Dabei
blieb er immer lange weg. Vom Morgen bis zum Abend. Als ich einmal, da er noch
später als sonst zurückkehrte und eine prall gefüllte Aktentasche mit sich
trug, direkt nach den Zielen und Inhalten seiner Touren fragte, blieb er zunächst
stumm. Er stapfte gewichtig die Treppe hinauf. Auch danach, da er in seiner
Wohnung war, hörte ich ihn laufen. Die Holzdielen knarrten, es pochte unter
seinen Schritten. Schließlich hörte ich ihn reden. Selbstgespräche? Nein, das
Handy. Ich verstand nicht, was er sagte. Bis er laut wurde, weil offenbar die
Verbindung unterbrochen war. Mehrmals versuchte er, neu in die Leitung zu
kommen. Ohne Erfolg. Da kam er schließlich wieder herunter. Der Hall und das
Tempo seiner Tritte ließen mich mühelos auf seine Verfassung schließen. Wut, Ärger.
Was noch?
„Hier ist
wirklich der Hund begraben! Ich kriege mal wieder keine Handy-Verbindung!“ Er
starrte mich an. Ich behielt die Ruhe. „Es wird sich um atmosphärische
Störungen handeln.“ Ich kehrte mich ab. Absichtlich, zur Demonstration meines
Desinteresses. Ich bot ihm aber wenigstens an: „Du kannst ja, wenn das Gespräch
so dringend ist, den Festnetz-Anschluss benutzen.“ Er lachte laut
auf. Es klang bitter. Und höhnisch. Aber auch ziemlich verzweifelt. Irgendwie
war es ein Fass, das überlief, überschäumte. „Festnetz! Natürlich, bei dir im
Wohnzimmer. Da darf ich sprechen. Und du sitzt vor deinem komischen Laptop und
tust, als würdest du an deinem Buch arbeiten. Aber solche Ohren.“ Als ich mich
ihm nochmals zuwandte, hatte er die flachen Hände hinter seine Ohrmuscheln
gelegt. Ich grinste und wandte mich wieder ab. Ich gab keinerlei Erwiderung.
Weil es so lächerlich war, weil ich ihn auf jeden Fall allein hätte
telefonieren lassen. Da schäumte er endgültig auf. „Ich weiß, mein lieber Neffe,
dass ich dir zu Dank verpflichtet sein muss, weil du mir in dieser noblen,
diskreten Stätte Unterkunft gewährst. Trotzdem solltest du es mit deiner
Arroganz und deinem Egoismus nicht auf die Spitze treiben. Sonst wirst du –.“
Er brach die Drohung noch rechtzeitig ab und verschwand wieder in sein
Obergeschoss. Und keine halbe Minute später hörte ich ihn telefonieren. Das
Netz für Mobiltelefone hatte ihn wieder aufgenommen.
Dass er mir
fast mit dem Entzug der Erbschaft gedroht hatte, war wieder vergessen. Für ihn.
Erben und Vererben hätte mit Sterben zu tun gehabt. Nicht er, auf den das
zutraf, nicht für ihn, dem das gelten mochte. Und dieses Vermögen, über das er
verfügte, war für mich ohnehin unvorstellbar. Eine Fiktion mit einer stattlichen
Anzahl von Nullen vor dem Komma, vor denen eine Zahl zwischen eins und neunhundertneunundneunzig
stand. Egal, dass der Teil, den Edward von Immobilien in Aktien umgewandelt
hatte, zur Halbierung einer dieser Nullen, vermutlich der hintersten,
beigetragen hatte, was allerdings, so der bereits zitierte Finanzberater des Edward
Erster, kein Bleibe-Zustand sein würde. „Aktien fallen, und steigen. Und Nullen
verschwinden und tauchen wieder auf. Man muss nur warten können.“ Edward Erster
hatte das in einer für ihn typisch wissend zynischen Art ergänzt: „Bei dieser
Null von Finanzberater möchte ich das allerdings nicht hoffen. Auf den werde
ich gewiss nicht warten.“
Die unvollendet angedrohte
Verweigerung der Erbschaft brachte mich total in Not. Sie versetzte mich in
Aufregung, und zugleich lähmte sie mich. Doch der Grund war nicht die Erbschaft
als solche, schon gar nicht die ansatzweise geäußerte Ankündigung ihrer Blockade,
sondern die Assoziation, die mich unwillkürlich an etwas erinnerte: Autobahnbrücke
sieben, Fernreisebahnhof. Der Termin war unheimlich nahe, ich aber hatte ihn zuletzt
ignoriert, verdrängt, weil ich nicht mehr wusste, wie ich ihn wahrnehmen
konnte. Ob ich ihn wahrnehmen wollte.
Noch knapp eine
Woche, dann sollte die Reise zu meinem Vater beginnen. Mein Vater war
derjenige, der in der Erbfolge vor mir stand. Als Einziger. Nach ihm, so Edward
Erster wider Erwarten vor mir sterben sollte, folgte ich; danach gab es verwandtschaftlich
gesehen keinen Erbberechtigten mehr.
Ob mein Vater,
Professor Ernesto Erster, in diese Erbfolge jemals würde eintreten können,
blieb sowieso fraglich. Edward Erster und ich wussten nicht genau, wann er
zurückkehren würde, ob überhaupt. Er selbst hatte sich dazu nicht geäußert. Und
so wie ich ihn bei unserem Gespräch vor dreieinhalb Jahren verstanden hatte, war
der Job, auf den er – und Hunderte Mitbewerber – sich so lange vorbereitet hatten,
endgültig zu seinem Lebensinhalt geworden. Wenn er also niemals wiederkam, dann
war es, weil er es so wollte. Somit hatte es vielleicht
mehr mit Neugierde und Bruderliebe zu tun, als Edward Erster am nächsten Morgen
gleich nach dem Aufstehen zu mir in die Küche kam und feststellte: „Ich
beobachte dich seit Tagen, Erasmus. Mit dir stimmt etwas nicht. Du wirkst so
was von unruhig, als wärst du innerlich total zerrissen. Hat das vielleicht mit
einem neuerlichen Wiedersehen zu tun? Nach meinen Berechnungen könnte es jetzt wieder
soweit sein.“ Er seufzte. Es klang bedauernd. „Ich weiß, dass ich dir mit
solchen Fragen auf die Nerven gehe und dich nur zusätzlich belaste. Trotzdem,
Ernesto ist für mich noch mehr als ein Bruder. Ich war derjenige, der ihn
aufgezogen hat. Ich habe dafür gesorgt, dass er Ende der Sechziger nicht noch
tiefer in die Studentenrevolte gerutscht ist. Glaub mal, da hätte nicht viel
gefehlt und er wäre in den Untergrund gegangen und im Knast gelandet. Und
nebenbei hatte ich meine Firma am Hals. Ich war drauf und dran, noch weiter auf
den ausländischen Markt zu stoßen, ein Weltimperium zu gründen. Damals, als
noch alle darüber lachten, hatte ich schon Strategien für die Märkte in China
und Indien. Die Pläne lagen ausgearbeitet in meinem Safe. Nein, stattdessen
habe ich mir die Zeit genommen, mich um Ernesto zu kümmern. Wie ich es
versprochen hatte. Deinen Großeltern. Dass ich dann selbst noch geheiratet und
eine Familie gegründet hätte, daran war schon gar nicht zu denken. Und als später
die stürmische Phase vorbei war, ist Ernesto monatelang in diesem geheimen Camp
gewesen. Nur um seine völlig verrückte Idee in die Tat umzusetzen. Nach Hause
kam er in Monatsabständen, für ein paar Tage. Da blieb mir nichts anderes
übrig, als auch noch deine Erziehung zu übernehmen. Deine Mutter war ja nicht
in der Lage dazu. Dauernd nur ihr Gejammer, diese Vorwürfe, mit denen sie über
uns Ersters hergezogen ist. Nur meine Schecks, die hat sie kommentarlos und mit
ausgemachtem Selbstverständnis eingestrichen. Sogar, als sie nachher mit diesem
blassgesichtigen Adelssöhnchen abgezogen ist, brauchte sie noch Geld. Nach
Rumänien. In die Walachei. Oder sogar nach Transsilvanien. Vampire haschen. Wenn
es wenigstens Monaco gewesen wäre. Hast du das vergessen? Ihre einzigen
Lebenszeichen waren die Kurzmeldungen mit der Forderung: Den nächsten Scheck gleich an die neue Adresse schicken, sonst dauert
das wieder so lange, bis er ankommt. Und
da die Umtauschkurse dauernd schlechter werden, kann es ruhig etwas mehr sein.
Du warst doch schon alt genug. Du musst das doch wissen. Kein Wort des Dankes
an mich oder des schlechten Gewissens dir gegenüber. Und was den Tauschkurs
anging, das war genau das Gegenteil, von dem, was sie meinte.“ Er lachte,
schüttelte fassungslos den Kopf. „Das Papiergeld in diesem Transsilvanien
verlor fast schon von Stunde zu Stunde an Wert. Sie muss also super gut
dagestanden haben. Trotzdem weiß ich bis heute nicht, was sie mit dem vielen
Geld angestellt hat.“ Ich schwieg
verbissen. Ich schwamm in einem Meer voller Gewissenskonflikte, aufgezwungener
Verhaltensweisen und scheinbar unlösbarer Fragen. Eigener Fragen und der Fragen
meines Onkels. Ein Zwiespalt zwischen Verteufelung und Dankbarkeit. Ich kannte
die Geschichte unserer Familie nur bruchstückweise, denn mein Vater hatte kaum
davon gesprochen, und Edward hielt sich mit der Berichterstattung ebenfalls
zurück – ausgenommen jene Szenen, in denen er mir mit unnachahmlicher
Theatralik noch und noch sein ganzes von Tragik nur so triefendes Selbstmitleid
auftischte. Mein Großvater
war der „Echt-Kakao-Schokoladentafel-Produzent“ Egon-Erich Erster. Ihm gehörte
eine Fabrik in Berlin-Spandau, die ein halbes Jahr vor dem Ende des Krieges völlig
zerbombt wurde. Egon-Erich Erster selbst erlitt bei dem Bombeangriff schwere
Verletzungen, weil er die Fabrik trotz Warnung nicht hatte verlassen wollen. Er
wurde Invalide und konnte den Betrieb nicht wieder aufbauen. Deshalb überschrieb
er Edward den Grund und Boden sowie die Trümmer und Ruinen. Er drillte den Sohn
mit Rezepten und technologischen Verfahren und impfte ihm unaufhörlich den
Grundsatz ein: „Uns Ersters gehört der erste Platz auf dem Schokoladenmarkt.“ Edward
konnte gar nicht anders, er musste, kaum achtzehn Jahre, die Ärmel hochkrempeln
und die Firma neu aufbauen. Das war um 1950, in dieser Zeit wurde mein Vater
Ernesto geboren. Kurze Zeit später starb Egon-Erich Erster. Seine letzten Worte
sollen gewesen sein: „Edward, dir übergebe ich alles. Die Firma, die Familie
und die Verantwortung.“ Die Pose, die Edward einnimmt, wenn er diesen zum
Klassiker gewordenen Satz, insbesondere die letzten drei Worte, wiederholt,
könnte ich mit geschlossenen Augen nachstellen. Zurückgeworfener Kopf, Hände breit
gefächert auf das Gesicht gelegt, Füße leicht abgespreizt. Dazu der ewig
gleiche Kommentar: „Als ob mir das Spaß gemacht hat. Als ob ich was dafür
konnte, dass Egon-Erich trotz seiner Invalidität und seines nicht gerade
jugendlichen Alters noch ein Kind in die Welt gesetzt hat. So ein sonderbares,
eigensinniges auch noch. Als ob ich nicht auch was Renommierteres hätte werden
wollen. Werden können. Wissenschaftler. Professor. Wie mein Bruder.“
Nun ja, einen
Doktor-Titel hat sich Edward Erster dennoch verschafft. Er hat – im Gegensatz
zu manch anderen wohlgefälligen Rückschauen – niemals über das Thema und den
Verlauf seiner Dissertation gesprochen. Auch nicht über die Summe, die – als
Spende getarnt – zwecks besseren Gelingens geflossen sein dürfte.
Dass er fleißig
war und für den Markt einen guten Riecher hatte, dass er zudem mit Geld und mit
seinen Angestellten gut umgehen konnte, beweist der unglaubliche Erfolg, den er
mit seiner Firma hatte.
Folge
17 vom 16. April. 2020
Ich
entschied mich, Edward Erster nichts zu sagen. Es ging nicht um ihn. Um mich
ging es. Vielleicht war es die letzte Gelegenheit, meinen Vater zu sehen. Wenn
sich Ernesto entschloss, seiner Bestimmung endgültig zu folgen, würde der
Kontakt demnächst zwangsläufig abreißen, es würde bestenfalls schriftliche
Mitteilungen geben. Von ihm, an ihn. Zeitversetzt. Mit Pausen von mehreren
Jahren. Bei der Vorstellung an diese Variante wurde mir schwindelig. Egal, dass
ich mein Leben lang von meinem Vater nicht viel gehabt hatte. Es würde
unfassbar sein.
Ich war mir einfach nicht sicher, dass Edward Erster, so
ich ihm – wie nach dem Termin vor dreieinhalb Jahren – auch nur eine Andeutung
über das vereinbarte Treffen an Autobahnbrücke sieben machte, diese für sich
behielt. Diese Sicherheitsleute konnten dahinter kommen. Das Treffen würde
platzen. Alles konnte vorbei sein. Für immer.
Ich fühlte mich überfordert. Ich schwitzte. Ich musste dennoch
meine Aufgaben erledigen. Ich kehrte mich knirschend von Edward ab. Ich half
zunächst der Henriette aus dem Bett, die ausgerechnet an diesem Morgen
auffällig kränkelte. Ich stand danach in der Haustür. Ich schnappte nach Luft.
Friesische Seeluft, salzig und rau, sauerstoffhaltig und reinigend. Ich wartete
auf Dominique. Warum kam ausgerechnet heute das Mannweib nicht? Edward Erster hatte sich wieder in die obere Etage verzogen,
er polterte, er schimpfte, weil die Spülung der Toilette nicht zu stoppen war. Vielleicht
war es sein Ärger über mich. Er rief nach mir. „Hilf mir doch mal, Erasmus. Wenigstens
hier. Du bist schließlich mein Vermieter.“
Vermieter, auch das noch. Aber es stimmte, ich hatte ihm
die Wohnung vermietet, er hatte die Miete für ein Jahr im voraus gelöhnt. Zuzüglich
einer Kaution. Gegen eine ordnungsgemäße Quittung. Darauf hatte er bestanden;
ich ebenfalls. Eine legale Einnahme, die nichts mit Zuwendung oder Geschenk zu
tun haben sollte.
Das Telefon klingelte, zugleich fuhr Dominiques Wagen vor.
Nun doch noch. Viel später als sonst. Die Henriette quakte. Sie suchte die
Kuckucksuhren, womit sie ihre Hausschuhe meinte. Ich ließ die Tür offen, rief Edward
Erster zu, er möge warten, zog Henriettes Schlappen unter dem Teppich hervor
und angelte nach dem Telefonhörer. Der erste Anruf in dieser Woche. Tineke meldete sich. „Hallo, mein Lieber. Wollte dir nur
kurz sagen, dass wir am Wochenende zusammen sein werden. Es wird wunderbar. Du,
ich sehne mich nach Ruhe. Und nach dir. Hier herrscht voll die Hektik. Aber die
Arbeit macht echt Spaß, und ich komme gut klar. Professor Kurz ist genau der
Chef, den ich brauche. Du, ich muss dich was fragen: Hast du was dagegen, wenn
ich Jonathan mitbringe? Weißt doch, die Latzschürze aus der WeGe. Er ist hier
immer so allein. Hat nur die Hamster. Die gedeihen übrigens prächtig. Kannst du
deinem Onkel ruhig mal mitteilen. Und dann kannst du ihm sagen, dass Jonathan
in seiner Villa war und die Post für ihn abgeholt hat. Zwei Kisten. Wir bringen
sie mit. Du, ich muss Schluss machen. Ich ersticke in Arbeit.“ Offenbar rief
sie von der Klinik aus an. Lauter werdende Stimmen, allerlei Geräusche im
Hintergrund. „Übrigens, Jonathan hat dein Manuskript gelesen. Er ist
begeistert. Wird er dir aber selbst sagen. Tschüss und tausend Küsse.“ Als ich den Hörer auflegte, stand das Mannweib bereits in der Wohnung. Dabei
sah sie gar nicht aus wie ein Mannweib. Oder machten kräftige Schultern und
stramme Beine ein solches aus? Sie hatte ein freundliches Gesicht. Sie war
freundlich. Wäre sie sonst in ihren freien Stunden gekommen, um die Henriette
umsonst zu betreuen? Sie lachte und setzte sich zur Henriette an den Tisch. Sie
erzählte von den mageren Ereignissen in der Ortschaft. Die Henriette lauschte
andächtig. Das Magere, das Wenige war viel. Für sie. Und alles war gut. Bei
ihr. Auf einmal.
Aus der oberen Wohnung hörte ich wieder Edward Erster schimpfen.
Die Spülung, welches Problem. Nein, doch nicht. Im selben Moment ebbte das
Rauschen ab. „Hehe, wie ich das nun hingekriegt habe“, jubelte der
Großkapitalist. „Ein Geistesmensch, der auch Handwerkerqualitäten entwickelt.“
Ich deckte den Tisch für das Frühstück und bot Dominique an, daran
teilzunehmen. Sie lehnte ab. „Bin knapp mit der Zeit. Neuerdings kriege ich immer
mehr Aufträge. Es spricht sich rum, dass es mich gibt. Meinen Pflegedienst.“
Ich gratulierte ihr. „Und dass du gute Arbeit leistest“,
bestätigte ich. Wir duzten uns seit ein paar Tagen.“ Sie sauste los, blieb an der Tür stehen und sagte noch:
„Wenn es wieder ruhiger ist, frühstücke ich mal mit dir und der Henriette. Und
wenn sich dieser feine Pinkel von da oben nicht zu schade ist, darf er sogar
dabei sein.“ Sie verschwand, und nachdem das Motorgeräusch ihres Bullis
verhallt war, kam Edward Erster herunter. Er trug seinen aus teuerster Seide
handgeschneiderten Morgenrock, dessen japanische Muster und Farben die frisch kurierte
Henriette gewaltig beeindruckten. „Schönes Strickzeug“, sagte sie, und ich
überlegte, ob ich nicht mal alle ihre Äußerungen aufzeichnen und zu einer
kleinen Geschichte verarbeiten sollte.
Wir
frühstückten also wieder zu dritt. Wir schwiegen. Nur das Schmatzeln und das Schlorpen
der Zweiundachtzigjährigen untermalte die Szene. Endlich sagte ich: „Am Wochenende
kommt Tineke.“ Da leuchteten die Augen der Henriette. Sie sagte, wir müssten
dann aber unbedingt frischen Kohlrabi zum Frühstück haben. Nach einigem Hin und
Her kamen Edward Erster und ich dahinter, was sie meinte: Brötchen, frisch vom
Bäcker. Ich sagte: „Tineke bringt noch den Mitbewohner aus ihrer Berliner Zweier-Wohngemeinschaft
mit. Er heißt Jonathan. Den schicken wir einkaufen.“ Die Henriette lächelte. Edward Erster jedoch verzog das
Gesicht. „Wird ja wohl bisschen eng, wenn noch ein Schlafgast kommt. Tineke, er
und wir drei.“ Er straffte sich. „Bilde dir nicht ein, dass dieses Früchtchen
womöglich in meiner Wohnung schlafen könnte. Als rechtmäßiger Mieter stelle ich
hiermit klar: Wer die obere Etage betritt und wer nicht, das bestimme allein
ich. Da habe ich das Gesetz, die Verfassung auf meiner Seite. Die Wohnung ist
so unantastbar wie die Menschenwürde.“
„In deine Berliner Villa durfte er ja auch. Er hat
immerhin deine Post geholt. Tineke und er bringen sie mit.“ Welch eine
Geheimniskrämerei, dachte ich. Er hätte sie auch per Nachsendeantrag an die
Küste schicken lassen können. Oder wäre er dadurch enttarnt worden? „Das mit der Post ist nur nebensächlich. Über die
wichtigen Sendungen bin ich längst informiert. Oder denkst du ich kann es mir
leisten, eine Woche lang keine Briefe zu lesen?“ Er griente erhaben. Er wurde
jetzt jedoch versöhnlicher. „Falls er länger bleibt, euer Hausfreund, können
wir von mir aus doch mal über eine Unterbringung in meinem Wohnzimmer sprechen.
Womöglich gehe ich nächste Woche nach Berlin, dann brauche ich die Bude da oben
erstmal nicht. Ich habe Hanni eine Mail geschickt und ihr mitgeteilt, dass ich inzwischen
ins Lager der Unternehmer zurückgekehrt bin. Damit ist das Projekt mit der
getürkten Senioren-Gemeinschaft in meinem Haus gestorben.“
Ich staunte, ich fragte: „Was hast du vor?“
Er überhörte es. Er setzte eine erhabene Miene auf und dozierte:
„Im Übrigen muss sich jemand wie ich vor niemandem verstecken. Und dann auch
noch hier. Hinterm Deich.“ Er erhob sich. „Irgendwie muss ja auch mein Auto aus
der Schweiz abgeholt werden.“
Ich überlegte, ich sagte dann möglichst gleichgültig: „Ich
könnte das übernehmen. Warum nicht. Mir würd’s auch gut tun, hier mal ein paar
Tage wegzukommen. Ich würde, wenn ich das mache, noch einen anderen Termin
damit verbinden. Allerdings“, ich zögerte, ehe ich weiter sprach, „müsstest du wenigstens
bis zu meiner Rückkehr bei der Henriette bleiben. Genau vier Wochen. Allein
wollen wir sie schließlich nicht lassen?“
Er fiel wieder auf den Stuhl zurück. Er fächelte sich
ostentativ Luft ins Gesicht. Mit einem Seitenblick auf die Oma flüsterte er:
„Was verlangst du eigentlich noch alles von mir. In vier Wochen bin ich hier
lebendig gestorben.“ Doch er straffte sich auch jetzt wieder. „Das geht bei mir
zeitlich nicht. Ist aber kein Problem, wir werden jemanden finden, der diese Aufgabe
übernimmt. So eine Person wird ja wohl keine Unsumme kosten.“
„Wir können doch hier nicht eine x-beliebige Pflegekraft
herstecken. Das können wir ihr nicht antun.“ Ich flüsterte gleichfalls, war
aber aufgeregt. Die Henriette in fremde Hände geben?
„Gib zu, deine Reise hat etwas mit deinem Vater zu tun.
Du hast Gelegenheit, ihn zu sehen.“
Ich schwieg, erhob mich ebenfalls. Ich bemühte mich, beherrscht
zu bleiben. Aber es brach schließlich aus mir heraus: „Hör auf, mich zu
tyrannisieren und mir das bisschen Freiheit, das ich habe, streitig zu machen!
Es kann nicht dauernd nur um dich gehen.“
Er nahm diese kurze Gefühlsaufwallung gelassen. Er erschrak
nicht, er zeigte keine Regung. Zum Glück. Er blickte mich fast amüsiert an.
Diese Fähigkeit, kühl und emotionslos bleiben zu können, hatte ihm in den
vielen Jahrzehnten sehr geholfen, ein erfolgreicher Kapitalist zu werden, zu
bleiben. Irgendwie auch so etwas wie ein zweiter Vater. Mindestens ein zweiter.
Er sagte lediglich: „Na gut, ich will dir nicht weiter auf die Pelle rücken und
dich auch nicht weiter fragen. Wenn du den Wagen holst, bin ich ja froh. Und
dass du noch vier Wochen fort musst, das ist schon in Ordnung. Wir stellen
vorübergehend eine qualifizierte Pflegekraft ein, und ich bleibe für die Zeit
halt noch hier. Frühstück, Abendbrot, Zeitung oder Kreuzworträtsel. Ich denke,
ich kann mein neues Unternehmen auch von hier aus einfädeln. Bist du damit zufrieden?“
Und da ich nicht antwortete, versicherte er: „Und ich werde auch nicht mehr
fragen, zu wem du fährst. Selbst wenn ich es mir denken kann. Selbst wenn ich
es weiß. Vor allem: obwohl auch ich ein Recht auf Information habe.“ Ich fühlte mich erleichtert. Ich hatte dem launischen Dr.
Edward Erster mit einem verbalen Rundumschlag meine Meinung gesagt. Es hatte
ihn nicht beeindruckt. Äußerlich nicht. Aber er war auf Distanz gegangen, und
er hatte sich endlich mal weniger egoistisch als üblich gezeigt. Durch seine
Zusage war ich für die vier Wochen, die ich fort musste, bei der Betreuung der
Henriette abgesichert. Es ging nur noch darum, mein Fortbleiben vor Tineke zu
begründen. Ich hatte noch zwei Tage Zeit, um darüber nachzudenken.
Am
Vormittag saßen Edward Erster und die Henriette vor dem Haus. Die beiden
spielten Domino. Eine Beschäftigung, die für Edward Erster ansonsten
prinzipiell nie in Frage gekommen wäre. Heute jedoch zeigte er sich von einer
anderen Seite, und er war ungekannt geduldig, irgendwie sogar etwas freundlich.
Die Henriette wunderte und freute sich in einem. Sie bemühte sich, bloß nicht
einzuschlafen, und immerzu befühlte sie mit ihren knolligen Händen den Stoff
des exotischen Morgenmantels, den der gute Edward immer noch trug. Gegen elf verschwand Edward. „Habe in der Kreisstadt was
vor. Bitte plane mich nicht für dein wunderbares Mittagessen ein.“ Er hatte den
letzten Satz, speziell die letzten Worte dieses Satzes, mit unüberhörbarer
Süffisanz gesprochen. Eine halbe Stunde nachdem Edward Erster mit dem geborgtenKombi weggefahren war, klingelte es an
der Haustür. Ein Mann stand draußen. Gut siebzig Jahre, mittelgroß, ernstes
Gesicht, unauffällig gekleidet. Freundlich. Ich war zunächst misstrauisch. Ein
Vertreter, dachte ich, oder jemand, der kontrolliert, ob die Rundfunkgebühren
bezahlt werden. Die Henriette, die ihn offenbar kannte, sagte: „Der Agent. Der
kommt immer. Der bringt neue Noten.“ Sie überlegte angestrengt, ob er wirklich
Noten bringe, doch sie fand die richtigen Worte nicht.
Hatte das mit dem Treffen an Autobahnbrücke sieben zu tun?
Nein, es ließ sich anders an. „Ich bin’s mal wieder, der
Clements, euer Nachbar, der allerdings nicht neben euch wohnt.“ Er reichte mir
die Hand und er lachte über seinen Scherz.
„Erasmus. Ich bin der Freund von Tineke.“ Der Vorname beeindruckte ihn. Er versuchte ihn zu wiederholen,
was jedoch insofern misslang, als er den Namen Erasmus in Jerominus, nicht mal
in Jeronimus, verwandelte. Welch eine Metamorphose, welch kühner Gedankengang. Und
dann das Du, das er ohne Ansage benutzte. Ich nahm es an. Ich erwiderte es. „Tineke hat mir schon
von dir erzählt.“ Und ich dachte, Edward Erster, dem du ein Auto geliehen hast,
ebenfalls.
Das rührte ihn. „Ja. Die Kleine.“ Es schien für einige Augenblicke,
als wolle er nun Tinekes und seine Lebensgeschichte, sicher auch die der Henriette,
vor mir ausbreiten. Nein, er tat es nicht. Er kehrte in die Realität zurück und
fragte: „Braucht ihr Eier und Kartoffeln?“
Folge
19 vom 18. April. 2020 Lag
es an mir, an der Henriette oder an Edward Erster? Ich glaube, an Edward lag es
hauptsächlich. Er kapselte sich nicht mehr so vorsätzlich ab. Frühstückte mit
uns, war auch zum Abendessen da und führte eines Morgens sogar ein Gespräch mit
Dominique, deren Titulierung als Mannweib er plötzlich leugnete. Und vormittags
saß er tatsächlich abermals eine halbe Stunde mit der Henriette im Garten, um
ihr etwas aus der Zeitung vorzulesen und unter ihrer Zeugenschaft die Tücken
eines Kreuzworträtsels zu bezwingen. Anschließend verschwand er. Er stieg in den Kombi und gab
vor, in die Kreisstadt zu fahren. Auf meine Frage, was er in der Kreisstadt so
allgemein tue, gab er immer dieselbe Antwort. „Ich erledige dort Etliches.
Beispielsweise kann ich in einem Internet-Café Emails abrufen und welche
versenden. Ich kann dort auch im Internet wichtige Sachverhalte recherchieren.“
Und er drehte den Argumentations-Spieß gleich um. „Ist doch für euch gut. Ihr habt
beide eure Ruhe. Du für deine Schreiberei und deine künftige Schwiegeroma zum
Schlafen.“ Es klang, als tue er uns einen Gefallen. Und sein Tonfall war so bestimmend,
dass kein Widerspruch und keine weiteren Fragen aufkommen konnten. Dennoch
verriet sich am Abend ein Stück der Heimlichkeiten durch seine Ungeschicktheit.
Er trug eine Mappe unter dem Arm, und diese fiel, als er die Tür hinter sich
schloss, zu Boden. Einzelne Blätter rutschten heraus. Er bückte sich prompt, um
sie möglichst schnell aufzuheben und sie vor mir zu verbergen. Doch ich kam ihm
zuvor. Ich bekam eines davon zu fassen und las, bevor er es mir aus der Hand reißen
konnte, den Namen eines Notars und die Anmerkung Immobilienkaufvertrag.
Ich erschrak. Edward Erster hatte etwas vor, etwas, das gewiss
nicht im kleinen Stil aufgezogen werden würde.
Ich fragte ihn nicht. Nicht gleich, nicht am selben
Abend. Ich wollte eine günstige Gelegenheit abpassen. Kam sie?
Nein.
Oder doch.
Er ließ es sich, auch am nächsten Morgen, nicht nehmen,
mit der Henriette auf der Terrasse zu sitzen. Zeitungslektüre, Vollendung seines
kürzlich begonnenen Kreuzworträtsels. Nach einer halben Stunde verkündete er:
„Na, dann will ich mal. Die Pflicht ruft.“
Es war ein inhaltlich unbedeutender Satz. Er hatte ihn
aus fünf Jahrzehnten Unternehmer-Dasein beibehalten. Rein rhetorisch. Und doch war
er mir Anlass genug zu jener mich durchaus bewegenden Frage: „Diese Pflicht,
hat die was mit Immobilien zu tun?“ Er bedachte mich mit einem exemplarisch herablassenden
Blick. Spott und Überheblichkeit lagen darin. Ein anderer an meiner Stelle
hätte gekuscht oder es nicht für wert erachtet, mit einem solch arrogant sich
gebärdenden Menschen auf ein Gespräch einzulassen. Ich blieb beherzt. „Da ich nicht annehme, dass du inzwischen
bei einem Notar als Bürokraft angeheuert hast, vermute ich, du willst hier in
der Gegend ein Grundstück erwerben.“
Er kniff die Augen zusammen, er wandte sich schon ab.
Nein, da fiel ihm etwas ein. Eine unglaubliche Antwort. So unglaublich, auf
dass sie würde wahr sein können. „Das Stadium des Wollens ist längst
überschritten, mein lieber Neffe. Hab’s schon getan.“ Er klopfte auf die Mappe,
die ihm am Vorabend heruntergefallen war und die er auch jetzt bei sich hatte.
„Hier ist alles drin. Verkäufer, Käufer, Bezeichnung des Flurstücks, Ausmaße,
Bauantrag, diverse Anfragen an diverse Ämter.“ Er grinste gewaltig, als er voller
Verschlagenheit verkündete: „Aber ich verrate nichts. Nur so viel, mein neues Areal
liegt etwa zwanzig Kilometer entfernt, und es ist riesig. Trotzdem habe ich es
für einen Spottpreis eingekauft. Fast hätte ich noch Geld dazu bekommen.“
Ich konnte mich der Frage nicht enthalten, was er damit
vorhätte, es platzte förmlich aus mir heraus. Auch die Henriette, die ihn nur
zu gut verstanden hatte, machte fragende Kulleraugen.
Er wurde ernst, er tat, als lüfte er sein Geheimnis.
„Zunächst mal muss die ganze Fläche entwässert werden, damit das Gras, die
Butterblumen und die lästigen Schafe verschwinden. Danach wird sie neu vermessen,
aufgeteilt, befestigt, und dann kommt dort ein Flugplatz hin. Zunächst mit
kurzer Start- und Landebahn für kleine und mittelgroße Maschinen, von denen die
meisten mir gehören werden. Um genau zu sein, meiner Fluggesellschaft. Edward
Erster Airlines. EEA. Oder möchtest du beteiligt werden? Dann setzen wir noch
ein E davor. Edward Erasmus Erster Airlines. Oder wir machen es originell:
Edward Erasmus Erster Ehrlines. Vier E. Wo hat’s das schon mal gegeben?“
Ich sperrte den Mund auf, ich sagte schließlich: „Wie du
das sagst, könnte man fast meinen, es ist nicht mal ein Scherz.“
Er war empört, in seinen Augen brannte unversehens das
Feuer des Unternehmers. Des Innovators. Niemals, solange er lebte, würde es
verlöschen. Dieses Feuer und jenes, das für den weiblichen Part der Menschheit
loderte. „Es wird bombastisch. Die Region nimmt durch unser Projekt einen unglaublichen
wirtschaftlichen Aufschwung. Wir schaffen Touristen aus allen Teilen Europas
her, Tag und Nacht werden die Maschinen mit den vier großen E auf dem Bug an-
und abschwirren. Es wird einen Boom nach sich ziehen, der von der Infrastruktur
über die Gastronomie bis hin zum eigenen Fernsehsender alles in ein goldenes
Licht tauchen wird. Nicht nur goldenes Licht, es wird auch Gold regnen. Dollars,
Rubel, Pfund, Euros. Die Leute werden uns dankbar sein, wenn sich alles belebt
und endlich diese langweiligen Schafe, die man überall sieht, verschwinden.“
Erst jetzt bemerkte er, dass ihm die Henriette
aufmerksamer als sonst gelauscht hatte. Und vielleicht hatte sie nicht alles
begriffen, was Edward Erster angekündigt hatte. Eines aber dann doch: „Ist
grade schön, die vielen lieben Schafe. Die Ruhe. Die sollen nicht weg. Wird ja
dann zu schmallich.“ Sie blickte ihren und meinen Obermieter freundlich an. Und
sie fügte ziemlich schüchtern hinzu: „Nebenan ist ja auch ein Grundstück frei.
Das von Clements. Könnte man viel eher was Nützliches hinbauen. Ein Café. Oder
ein Seniorenheim. Keinen Landeplatz.“
Edward Erster stutzte, er grinste auch ein bisschen.
Jetzt nicht so verschlagen. Und es mochte sein, dass es hinter seiner
Hirnschale wiederum zu arbeiten begann. Nur wusste ich nicht, in welche
Richtung, mit welchem Ziel. Immerhin, wir drei schauten nun prompt hinüber. Drei-
oder viertausend Quadratmeter waren das. Wiese. Mit Schafen, mit Kräutern und
Gräsern, mit schwirrenden Insekten, einem winzigen Bach, mit alten und jungen
Weidenbüschen. Und mit einem Duft und mit Farben, die das Jahr über wechselten
und mal mehr und mal weniger intensiv auf die Geruchsorgane der wenigen Anwohner
und Passanten losstürmten.
Edward Erster sagte versonnen: „Das kleine Fleckchen, das
lohnt sich nicht. Ist ja auch viel zu schöne Natur.“ Und sein neuerliches
Lächeln wirkte noch einmal anders. Freundlicher, fast sogar gutmütig.
Es
mochte sein, wie es wollte, nun waren es nur zwei Tage, dann sollte Tineke
kommen. Und mit ihr, wenn es dabei blieb, dieser Jonathan.
Wir warteten, wir freuten uns. Jeder von uns dreien hatte
seine spezielle Vorfreude, seine eigene Erwartung. Selbst Edward Erster, der
irgendwelche allgemeinen Neuigkeiten aus der Hauptstadt hören wollte – autorisierte, authentische News – sah
dem Kommen der beiden mit Zuversicht entgegen. „Endlich mal wieder ein normales
Gespräch führen.“ Wie spitz er das daherzischelte, mit welch vorwurfsvollem
Blick er mich dabei fixierte. Er rechnete offenbar weniger auf Tineke als auf
Jonathan, den er nicht mal kannte. In ihm verfestigte sich zusehends die
Meinung, dieser Jonathan sei ein brauchbarer Gesprächspartner. Für ihn. Tineke und Jonathan hatten sich für den Freitag angekündigt.
Daher verkürzte Edward Erster an diesem Tag seinen Ausflug um einige Stunden
und kehrte schon vor der Vesper-Zeit zu uns zurück. Mit einem dicken Kuchen-Paket.
„Die werden Hunger haben, wenn sie kommen.“
Ich mochte seiner Freigebigkeit keinen Dämpfer erteilen
und ordnete mich seinem Plan unter, den Verzehr erst nach Eintreffen der beiden
„Berliner“ zu beginnen. Ich stellte ihm auch nicht die Frage, ob er wirklich
glaube, Jonathan, ein Öko-Freak, werde sich sozusagen voller Gier auf seine von
Fett strotzende Buttercremetorte stürzen. Von Tineke, die bestenfalls sagen
würde „Darf ich mal bei jemandem eine Löffelspitze kosten?“, ganz zu schweigen.
Und Edwards Vorstellung vom frühen Eintreffen der beiden teilte ich schon gar
nicht. Um zur Vesper hier sein zu können, hätten die beiden mindestens am
Mittag in Berlin losfahren müssen.
Edward Erster setzte sich darüber hinweg. Ex-Kapitalist, Konzern-Chef,
geheimnisvoller Neu-Gründer und Innovator. Ein Herrscher eben, der sich am
Abend, als die Erwarteten noch nicht eingetroffen waren, denn doch den
Realitäten beugen musste. Der Buttercremekuchen wanderte in den Kühlschrank. „Morgen
ist das Gebäck dann richtig durchgezogen. Da schmeckt die ganze Chose noch
besser.“ Selbst die Henriette gab ihren Warteplatz am Fenster auf.
Sie platzierte sich vor ihrem Fernsehapparat. Nachrichten schauen.
Ich bearbeitete das Handy. SMS: Wann ist endlich mit euch
zu rechnen?
SMS zurück: Wir fahren mit Jonathans Klapper-Auto. Das
dauert etwas länger. Lass dich einfach überraschen.
Ich schaltete den Laptop ein, um an der Geschichte zu arbeiten,
die ich inzwischen begonnen hatte. Es sollte ein Krimi werden, in dessen
Mittelpunkt ein Leuchtturm stand. Wiewohl ich für den Haupttitel noch keinen
rechten Einfall hatte, wusste ich den Untertitel schon: Ersters echter
Deich-Krimi.
„Na gut“, stöhnte Edward Erster, als im Fernsehprogramm
die Quiz-Sendung eingesetzt hatte, „da sich für mich offenbar keiner
interessiert und die Gäste ja wohl vor Mitternacht nicht kommen, geh ich jetzt
mal nach oben.“
Schlafen? Zehn Minuten später stand er wieder bei uns in der Küche.
Er hatte einen neuen Sommeranzug an, helllederne Sportschuhe an den Füßen und
ein elegantes Halstuch umgeschlungen. „Ich werd noch eben einen Ausflug machen.
Die Geschäfte sind ja fast bis Mitternacht geöffnet.“ Er wartete nicht, ob und
was ich ihm erwiderte. „Spätestens bis zum Frühstück.“
Nein, nicht bis zum Frühstück. Als er die Haustür
öffnete, stand Tineke draußen. „Schön, dass ihr uns auf die Sekunde genau die
Tür aufmacht.“ Edward Erster Edward stand verdattert, er reichte Tineke die
Hand, wurde aber mit einer vorsichtigen Umarmung begrüßt. Und er erwiderte
schlagfertig: „Hab mich extra für dich in Schale geworfen.“
Was
blieb mir von diesem Wiedersehen am eindruckvollsten in Erinnerung?
Keine Frage, Tinekes stürmische Küsse. Ihre Mutmaßung:
„Kann das sein, dass du während meiner Abwesenheit bisschen zugenommen hast?“
Sie knuffelte an meinem Rücken. „Die Seeluft bekommt dir also weiterhin richtig
gut.“
Jonathan umarmte mich ebenfalls. Es war auf eine innige,
sogar andächtige Art. Er sagte vorher: „Hab dein Manuskript gelesen, Erasmus.
Hat mich total beeindruckt. Besonders diese getürkte Hinrichtung. So was von
lebensnah. Wie du das alles so zum Ausdruck bringen konntest. Du, da find ich
mich in unzähligen Passagen wieder. Als wäre ich das selbst.“ Wenn dir solche Lobpreisungen zuteilwerden, egal wer sie
fabriziert hat, kannst du dich nicht mal gegen die Umarmung eines Mannes
wehren. Ich jedenfalls konnte es nicht, wiewohl ich die Zahl der bisherigen
Umarmungen mit Männern ganz gewiss an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Das Theater mit der Hamstersippe wirkte dafür umso ernüchternder.
Jonathan schwenkte den Käfig mit Petra Eins und deren Jungen in einer
Begeisterung, als hätte er den heiligen Gral aufgetan. „Es sind vier Junge.
Zweien habe ich Mädchennamen gegeben und zweien Jungensnamen. Polly und Petzy,
Presto und Pascal. Jetzt will ich mal hoffen, dass die Geschlechterverteilung
stimmt. Ansonsten bin ich für Änderungen offen.“ Blablabla. Er sah sich Beifall
heischend um. Und tatsächlich nickten ihm Edward Erster und die Henriette wohlwollend
zu, ich jedoch stöhnte tief in mich hinein. Welch eine Last wurde mir
aufgebürdet. Über wie viele Tage? Ich war froh, als ihn Tineke schnell wieder von
mir abdrängte. „Den Erasmus lass mal mir. Das ist mein Schatz“, sagte sie
gekünstelt schnippisch. Und zu mir flüsterte sie schnell: „Du gewöhnst dich an
ihn. Ganz bestimmt. Er hat so viele gute Seiten. Wirst sehen, du wirst noch
froh sein, dass er hier ist.“ Na gut, er offenbarte in der Tat auch Eigenschaften, die
ich sehr nützlich fand. „Ist womöglich noch was in der Küche zu tun? Soll ich
morgen früh vielleicht Brötchen holen?“ Er blickte tatendurstig in unsere
Gesichter. Ich nickte ermunternd. „Zu tun gibt’s bei uns immer was.“ Henriette
und Edward Erster schlossen sich der Aussage an. „Wir hatten ja sowieso
beschlossen, dass du zum Bäcker fährst. Nicht, weil wir dich ausnutzen wollten,
sondern damit du die schöne Landschaft am Morgen sehen kannst. Den Deich, die
Schafe.“ Er glaubte es. „Und den Hamsterkäfig schaffst du am besten nach
draußen. In den Stall.“ Auch diese Weisung nahm er widerspruchslos auf, zumal
ich ihm erklärte, dass Petra die Erste, als sie noch Peterchen Zwo hieß, in
eben diesem Gelass schon verschiedene Nächte verbracht hatte.
Jonathan war nach zwei Minuten wieder da. Er schwärmte.
„Mensch, was hier für Platz ist. Mensch, hier kannst du doch prima Hühner und Enten
halten.“
Ich lächelte unschlüssig. Können war nicht Wollen.
Folge
19 vom 18. April. 2020
Als es später um die Verteilung der
Schlafplätze ging, begann ich Jonathan schließlich doch zu mögen. Wie sollte
man fünf Leute auf die unterschiedlichen, keineswegs gemütlichen Betten
verteilen? Nein, nicht ganz richtig, wir waren nur noch zu viert. Edward Erster
war rechtzeitig in die obere Etage geflohen. Damit hatte er vorab die Teilnahme
an den Bett-Kämpfen und Liege-Diskussionen vermieden. Wir vier mussten nun
sehen, wie wir uns aufteilten. Tineke zögerte
nicht lange, sie schlug den pragmatischen Weg vor. „Ich schlafe mit der
Henriette in dem freien Bett. Ihr zwei geht ins Wohnzimmer. Einer auf die
Couch, der andere pustet sich die Luftmatratze auf!“
Ich grollte. „Ich
dachte, wir zwei gehören zusammen.“ Ich artikulierte es mit tonlosen
Mundbewegungen in ihre Richtung. Sie bewegte bedauernd ihre Achseln. Wenigstens
bot sie an: „Du kannst ja, wenn du möchtest, die Luftmatratze nehmen und dich wieder
neben mein Bett legen.“
Es war nicht
direkt eine Verheißung. Die Henriette schlief, seit Tineke nicht mehr hier war,
unruhig, sie lag nun nachts manche Stunde wach. Vielleicht musste sie zum Klo,
vielleicht brauchte sie ein Medikament. Oder sie hatte Hunger und Durst. Sie zog
dann unverhofft an der Strippe hinter ihrem Kissen, und prompt wurde das Licht
eingeschaltet. Also kriegte sie auch allerlei mit. Und das, was ich vorhatte, mit
Tineke nämlich, dann sowieso.
Da erwies sich
Jonathan unverhofft als Retter, ein bisschen sogar als Engel. „Ich könnte dort
schlafen. In dem zweiten Bett. Neben der Oma. Ich kann mich auch um sie
kümmern, wenn sie ein Problem hat. Hab ich wiederum kein Problem damit.“ Donnerwetter.
Das wollte er also auf sich nehmen. Wir schauten uns abwechselnd an. Tineke
mich, ich diesen vormals verspotteten Jonathan, dieser mich, Tineke ihn, er
Tineke, ich Tineke. Und zuletzt alle die Oma. „Dann geht ihr zusammen ins
Wohnzimmer. Tineke schläft auf der Couch und du schläfst auf der Luftmatratze.
Immerhin werdet ihr euch eine Menge zu erzählen haben.“
Er meinte das
ernst. Nicht nur, dass er in das zweite Bett geht und sich neben die Henriette
legt. Vor allem das andere: das Erzählen. „Ja“, entgegnete Tineke also, indem sie
ihn bestärkte, „eine Menge haben wir uns zu erzählen, ich bestimmt mehr als
Erasmus. Aus der Klinik, aus Berlin.“ Da sah Jonathan richtig froh und erfüllt
aus. Ein guter Mensch, bei dem die Glücks-Hormone unter anderen Gegebenheiten ausgeschüttet
wurden als beispielsweise bei mir. Einer, auf den man sich halt einstellen
musste. Nicht einfach nur auf ihn, sondern auf seine Reaktionen, seine Denk-
und Gefühlsstrukturen. „Gut“, sagte er gleich darauf entschlossen, „dann nehmen
wir das jetzt in Angriff. Das Projekt Nachtruhe.“ Prompt stand er vor Tineke
und verabschiedete sich bis zum Morgen mit einer hingebungsvollen Umarmung. Mein
Gott, dachte ich, es wird sich nicht vermeiden lassen, dass er dich ebenfalls …
Da hatte er mich dann auch schon fest umschlungen. „Erasmus, ich bin total
froh, dich zum Freund zu haben.“
Natürlich, wir brauchten die
Luftmatratze nicht. Als ich sie dennoch aufpusten wollte, um einen gewissen
Anschein der Anständigkeit zu wahren, schimpfte Tineke. „Leben wir im
Mittelalter? Willst du dich etwa nicht zu mir bekennen?“
Doch, ich
bekannte mich. Zu ihr, zu uns. Und ich bekannte für mich, dass ich mir jetzt
wieder wie in dem besagten Kitsch-Film dritter Ordnung vorkam, wo alles so
harmonisch und kuschelig verläuft, wo man nur mit glücklich machenden Menschen
zusammen lebt und somit selbst glücklich ist. Egal, dass es
in der Nacht zu Geräuschen kam, weil die Henriette zum Klo stolperte und ihr
Jonathan prompt hinterher lief. Danach wollte sie trinken und ein bisschen was
vorgelesen bekommen. Ganz mechanisch schob ich die Beine von der Couch, um nach
den Schlappen zu angeln. Ich dachte, sieh mal besser nach, ob alles in Ordnung
ist.
„Lass mal, er
macht das. Vielleicht besser als du.“ Tineke sagte es. Sie wusste es. Sie hielt
mich fest. Wir hatten die ganze Zeit über geredet.
Ich verharrte. Besser als du. Wie das klang. Fast beleidigend. „Ist er womöglich Altenpfleger?“,
knurrte ich leise. Sie stupste meinen Arm. „Erstens, Herr Erster, ist er ein
sehr gefühlvoller Mensch, und zweitens, mein lieber Erasmus, gehörst du mir. Zu
mir. Heute Nacht. Immer. Freu dich doch einfach, dass er so gut klarkommt.“ Ich
fiel zurück, halb neben, halb auf sie. Ich war wieder glücklich. Ich fasste
ihre Taille. Sie rückte ein Stück zur Seite. „He. Bin lange nicht fertig mit
meinen gesammelten Erzählungen. Und von dir habe ich fast noch gar nichts
erfahren. Wie lief’s denn mit dir und deinem Ex-Eskimo-Onkel? Und wie sind
deine beiden Mitbewohner miteinander ausgekommen?“ „Es ist besser
geworden“, sagte ich. „In den letzten Tagen hat sich Edward Erster meiner – wie
er sich ausdrückte – Schwiegeroma angenähert. Mit kleinen Zeitungslektüren und
mit Kreuzworträtselquälereien. Und ich glaube, auch sonst hat er aufgehört,
sich zu langweilen. Er ist ewig auf Achse. Keiner weiß, wo er sich rumtreibt,
und keiner weiß, was er treibt. Was er vorhat. Denn irgendwas hat er vor. Wenn
er nicht schon mitten drin steckt.“
Es klopfte.
„Ja!“, rief ich leicht missmutig und schob abermals die Füße in Richtung Boden.
Die Tür ging
einen Spalt auf, die Silhouette eines Mannes zeichnete sich vor dem mäßig
einfallenden Flurlicht ab. „Wollte nur hören, ob bei euch alles OK ist.“
„Doch, ja“,
erwiderte ich bemüht freundlich und gähnte auffällig. „Dann ist’s
gut.“
„Jaja.“
„Schlaft ihr
schon?“
„Naja, wir
fangen grad an.“
„Ist ja auch
schon Zeit dafür. Schon halb drei.“
„Ja, stimmt.
Sogar schon halb drei durch. Fünf nach halb.“
„Fünf nach
halb. Kuck an. Wird ja dann auch bald hell.“
„Ja, im Sommer.
Auf jeden Fall. Hier im Norden sowieso.“
„Im Winter
isses dafür eher dunkel.“
„Ach ja,
stimmt.“
Einige
Augenblicke schwiegen wir. Bis er fragte: „Braucht ihr noch was? Glas warme
Milch vielleicht. Mit Honig drin schläft sich’s besser. Ich meine, nicht
schlafen und dann nicht weiterschlafen können, sondern dass man mit warmer Milch
mit Honig besser einschläft.“
„Nee, geht auch
so. So um halb drei auf jeden Fall.“
„Sagtest du
nicht, es ist schon fünf nach halb?“ „Ja klar. Gleich
sogar zehn nach halb. Dann dauert’s nicht mehr lange, bis es richtig drei ist.“
„Richtig drei.
Mensch, ja.“
„Und dann kommt
das Licht. Also das Morgengrauen.“
„Manche sagen
auch Morgendämmerung.“
„Aber dafür
sagt niemand Abendgrauen.“
„Hm, ja. Wo
du’s sagst. Habe ich noch nie drüber nachgedacht.“
„Ich auch nicht
richtig.“
„Aber sonst, da
bist du doch echt einer, der viel denkt.“
„Schon. Wenn
du’s genau nimmst, denken natürlich alle Menschen viel.“
„Hm, klar. Man
kann gar nicht sein, ohne zu denken. Wirklich, du, das ist so was von
selbstverständlich, dass man gar nicht dran denkt. Dass man denkt. Immerzu.“
„Ja, man nimmt
das einfach so hin. Man sagt ja manchmal, ich denke an nichts. Stimmt aber
nicht. An irgendwas denkt man immer.“
„Du, weißt du,
was ich grade gedacht habe?“
„An das
Morgengrauen. Stimmt’s?“
„He, hab ich
tatsächlich. Ich habe gedacht, das Morgengrauen kommt jetzt gleich mit Macht.“
„Muss es auch,
wir sind hier im Norden. Noch weiter oben isses allerdings noch drastischer mit
dem Morgengrauen. Da isses noch mehr hell. Und noch eher. Oder ’s wird gar
nicht dunkel. Nachts.“
„Und ob. Die
haben’s im Norden im Sommer die ganze Nacht hell. Oben zum Polarkreis hin.
Schweden, Norwegen.“
Er wollte etwas
auf meine Bemerkung entgegnen, indem er möglicherweise noch andere am
Polarkreis liegende Länder aufzählte. Aber Tineke wurde das Gespräch nun zu
anstrengend. „Danke, Jonathan, dass du dich so um meine Henriette kümmerst. Das
kann ich gar nicht gutmachen.“ Sie gähnte, ich glaube, es war nicht mal
gekünstelt. „Wenn du morgen tatsächlich Brötchen holen willst, solltest du
jetzt ebenfalls schlafen. Ansonsten fährt aber auch einer von uns. Erasmus.
Oder ich.“
„Neinnein“,
versicherte Jonathan. „Das mache ich. Kannst dich drauf verlassen.“
Er hatte tatsächlich Brötchen
gebracht. Und noch mehr. Honig, Wurst, Käse. Der Tisch war großartig gedeckt. Altmodische
Kaffeekanne, Blümchenteller, Silberbesteck. Eine frische Tischdecke. Sogar Blumen.
Und am Hals der Kaffeekanne so ein altmodischer Tropfenfänger.
Edward Erster hatte
schon Platz genommen, neben ihm saß die Henriette, die geputzter als üblich
aussah. Tineke und ich staunten mit verschlafenen Gesichtern. „So schön hat es
hier die letzten fünf Jahre nicht ausgesehen.“ Großmutter und Enkeltochter
blickten sich tief in die Augen. Ein bisschen Wehmut. Viel mehr Freude. „Und
wie das riecht“, schwärmte Tineke weiter, „dieser herrliche Kaffeeduft. Dass du
den Kaffee so aufgegossen hast, wie das früher üblich war. Und dieser Schnuller
am Ausgießer; ich wusste gar nicht, dass wir dieses Ding noch haben.“ Jonathan fühlte
sich geschmeichelt. Er lächelte, es sah ein bisschen mädchenhaft aus.
Ich nickte
zustimmend. Ja, herrlich. Ich plumpste auf einen Stuhl. Ich gähnte.
„Nachtschwärmer“,
sagte Jonathan freundlich. „Na, wenigstens habt ihr euch nun über alles
unterhalten, und wir können nachher was zusammen machen.“
Ich schüttelte
den Kopf, Tineke ebenfalls. „Mein Vormittag gehört voll und ganz meiner Henriette.
Da bestehe ich drauf.“ Die Henriette lächelte dankbar.
„Und Tinekes
Nachmittag gehört mir. Darauf bestehe dann ich. Es gibt wirklich viel zu
erzählen.“ Alle sahen mich an. Jonathan staunte: „So lange, wie ihr heute Nacht
gequasselt habt, müsste eigentlich alles abgehakt sein.“
„Kann ich mir
nicht denken, dass sie die Nacht mit Reden verbracht haben“, meldete sich Edward
Erster prompt. „Aber gut, ich müsste sowieso nachher noch mal wegfahren. Möchte
jemand mitkommen?“ Er schaute Jonathan an. Der nickte beflissen. „Kleine
Rundfahrt? Immer. Bin zum ersten Mal in dieser Gegend.“ Er kratzte sich
verlegen. „Das heißt, dann kann ich ja nicht kochen. Für euch.“
Tineke seufzte.
„Ja, klar, wir werden verhungern, wenn du nicht am heimischen Herd stehst. Mit
deiner attraktiven Latzschürze. Für uns.“
„Ich dachte,
ihr freut euch?“ Tatsächlich sah er irgendwie gekränkt aus. Sogar, als würden
wir ihm eine Art Schmerz zugefügt haben.
„Wir haben ja
jetzt hervorragend gefrühstückt“, schlichtete Edward Erster. „Das hält vor. Nicht
nur im Magen, sondern vor allem im Kopf. Und im Herzen.“ Wie freundlich er
heute war. „Und wenn wir vom Ausflug zurückkommen, bringen wir was vom Imbiss
mit. Für alle.“
Während Tineke die Henriette im
Rollstuhl über die Deichstraße schob und Edward und Jonathan ihren Ausflug machten,
saß ich am Laptop. Ich starrte auf den Bildschirm, ich tippte immer neue Wörter
ein, die ich nach kurzer Zeit löschte, weil sie keinen Sinn ergeben hatten. Ich
stand wieder auf, goss mir aus der altmodischen Kanne den restlichen Kaffee
ein, ich trank, ich aß ein Stückchen von der Buttercremetorte, die von allen
vergessen im Kühlschrank ihrer bis jetzt noch ahnungslosen Opfer geharrt hatte.
Nein, diese neue Geschichte über den Mord am Leuchtturm kam nicht eine Zeile
voran. Die
Schreibblockade hatte mit dem Nachmittag zu tun. Mit mir und Tineke. Ich
wollte, musste es ihr endlich sagen: „Ab nächste Woche bin ich vier Wochen
nicht hier. Vielleicht, wenn mich alles zu sehr mitnimmt oder sich unerwartete
Folgen ergeben, noch ein, zwei Wochen länger. Es könnte sein, dass ich nach der
Rückkehr total geknickt bin. Deprimiert. Ich werde darüber nicht sprechen
dürfen. Nicht über den Grund, nicht über das Ziel meiner Reise. Vorher nicht.
Und hinterher? Mal sehen.“ Mehr konnte ich ihr nicht sagen. Dem Menschen, der
mir am nächsten stand. Inzwischen war es so.
Ich grübelte
und grübelte und merkte es kaum, als Tineke schon nach einer Stunde durch die
Tür kam. „Es ist ziemlich frisch heute. Nicht ganz das passende Wetter für
unsere Henriette.“ Jetzt sah sie mich richtig. „Du bist aber auch irgendwie
nicht so gut drauf. So wie du auf deinen Bildschirm starrst. Ist es wegen des
Buches? Oder kommst du hier im Haus nicht zurecht?“ „Ich muss nachher
in Ruhe mit dir über was Wichtiges reden!“, entgegnete ich. Ich war froh,
endlich einen Anfang zu haben. So unvermittelt hatte sich meine Bemerkung
ergeben.
Sie musterte
mich lange. Sie sah erstaunt aus. Besorgt. Verstört. „Das klingt nicht sehr
lustig, wie du das ankündigst. Was du ankündigst. Ich krieg direkt Angst.“ Sie
ließ die Henriette in ihrem Rollstuhl sitzen und kam zu mir. „Wenn es so ernst
ist, wie du grade aussiehst, dann lass uns gleich reden. Damit haben wir es
hinter uns. Alles andere kann ich nicht aushalten.“ Ich stand auf.
Ich ging zur Henriette. „Erst mal muss deine Henriette an ein warmes
Plätzchen.“
„Erasmus!“,
rief sie. „Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe: Ich kriege Angst, wenn du
so unergründlich ernst bist. Wenn du aussiehst wie ein Leichenbestatter. Was
heißt, ich kriege Angst. Ich habe sie schon, diese Angst. Fürchterliche Angst. Das
kann doch nur was Schlimmes sein, was du da ausbrütest.“ Sie wurde blass, hielt
sich die Hände vor den Bauch. Rannte zur Toilette. Ich stand da, neben dem Rollstuhl,
neben der Henriette. Ich stöhnte leise. Ich hatte es falsch angefangen. Und:
Hatte ich es mit dem falschen Anfang nicht schon beendet? Auf einmal hatte auch
ich Angst. Um sie, um uns.
Die Henriette
schniefte. Ich sah, wie sie fror. Ich half ihr aus dem Rollstuhl, sie lief allein
zu ihrem Lieblingsstuhl, von dem aus sie die ganze Küche überblicken konnte.
Ich wickelte sie in eine Wolldecke, und sie setzte sich. „Ich mach dir noch ein
Körnerkissen warm“, versprach ich. Ich ging zur Mikrowelle.
Nach drei
Minuten war das Kissen heiß, ich gab es ihr. Ich wollte etwas sagen, aber es
ging nicht.
Sie waren alle
da. Jetzt. Auf einmal. Edward, Jonathan. Die Henriette sowieso. Und Tineke. Sie
schauten drein wie Schattenvisagen in einem Gruselfilm und verbreiteten eine
seltsame Stimmung. Und sie starrten mich alle an. Schweigend, fragend,
fürchterlich. Ich erschrak, ich war total klein, ich wusste nicht, wie ich mich
verhalten sollte. „Hier ist das Kissen“, sagte ich endlich und stopfte es der
Henriette vor den Bauch. Ich zupfte und strich danach möglichst lange an der
Decke. Bis es zu auffällig wurde. Bis sie es als Ablenkungsmanöver erkannten.
Ich drehte mich
den anderen zu. Ich wurde auf einmal offensiv. Vielleicht auch aggressiv. „Was
ist los, warum seid ihr alle so still?“, fragte ich ungewöhnlich laut. Sie schwiegen
weiter. Nur die Henriette war zu hören, sie schnarchte leise. Ganz schnell war
sie eingepennt. Die Anstrengung, die plötzliche Wärme.
Endlich wurde
das Schweigen gebrochen. „Es geht Tineke nicht gut. Ihr ist ganz übel.“
Jonathan war es, der es sagte. Ich starrte ihn, danach Tineke an. Sie war
blass, fast grün im Gesicht. Ich empfand Scham, und es bestürzte mich. Trotzdem
konnte ich nicht mehr sagen als „ja“ und sie dabei weiter anstarren. „Es ist
wegen dir“, legte Jonathan nach. Seine Stimme war unerwartet hart geworden.
Seltsam gerecht. Sie hatte eine leicht schrille, eine hohe Tonlage. Es machte
mich ärgerlich, ich mochte ihn auf einmal nicht mehr. Mühsam beherrschte ich
mich. Aber die Lautstärke bekam ich nicht aus meiner Stimme heraus. Ich sagte:
„Es war gar nichts. Ich wollte nur mit ihr reden. Ihr was erklären. Und jetzt
seid ihr plötzlich alle da.“ Wieder
herrschte für Sekunden eine aufgeladene Stille. Selbst die Henriette hatte ihre
Schnarchgeräusche eingestellt. Sie schlummerte zwar weiter, aber der Atem ging
pfeifend. Da meldete sich Edward Erster. „Nach uns musst du dich nicht richten,
Erasmus. Wir können den Raum verlassen, du kannst aber auch mit Tineke auf den
Deich gehen. So wie du es ja angekündigt hattest. Auf jeden Fall solltest du
das in Ordnung bringen. Und falls es das ist, was ich vermute, solltest du ihr
ein bisschen mehr sagen als mir.“ Es klang anmaßend und altklug, was Edward
Erster da von sich gab. Und er stiftete damit nur noch zusätzliche Verwirrung. Er
säte Vermutungen, die in eine andere Richtung schweiften und einen anderen
Hintergrund hatten als die Gedanken von Tineke und Jonathan. Gleich verlieh
seine unheilschwangere Andeutung Jonathans Gesichtszügen eine unartige Spannung
und trieb Tineke die Tränen in die Augen. Ich warf Edward Erster einen bösen
Blick zu und strafte Jonathan mit Ignoranz. Lediglich dachte ich nun: Du hart gekochtes
Weichei, hätte ich ja wissen müssen, wie faulig du von innen bist. Aber ich
konnte die Situation nicht länger ertragen. Raus hier. Ich lief zur Tür, und da
sich Tineke nicht rührte, drehte ich mich nach ihr um und rief: „Dann komm doch
bitte mal mit!“
Folge
20 vom 19. April. 2020
Auf dem Deich war es heute stürmisch wie im Herbst. Diese
Wetterumschwünge, dachte ich kurz, sie passen so wunderbar zum Verhalten der
Menschen, zu ihren Launen, zu ihren Ansichten. Es dauerte keine halbe Minute
gemeinsamen Weges, bis ich anfing zu frieren. Ich hatte mich in der Aufregung
und der Eile zu dünn angezogen. Zurückgehen oder mich beklagen wollte ich aber
nicht. Schon weil es Mühe gemacht hatte, Tineke zum Mitgehen zu bewegen. Und
weil sie gemeint hätte, ich würde ihr dann ausweichen wollen. Weil ich ein
schlechtes Gewissen hätte. Weil Erklärungen sinnlos wären.
Ich hielt sie nun am Arm. Oder hielt
sie mich? Auf jeden Fall, sie widerstrebte und sie zog sich von mir weg. Sie
lief auf wackligen Beinen, und sie war auch immer noch blass im Gesicht, jetzt
fast bläulich. Vom Wind, von den kurzen heftigen Regenschauern. Sie kämpfte mit
ihren Tränen. Ich dachte: Es sollte nun nicht zu lange dauern, dass ich ihr das
sagte, was ich sagen durfte. Das von den vier Wochen. Aber ich versuchte
zunächst den Verlauf der letzten Viertelstunde zu rekonstruieren. Was war denn
passiert? Eigentlich nichts. Ich hatte nur angekündigt, ihr etwas sagen zu
wollen. Ja gut, mein Gesichtsausdruck. Darin hatte vor allem meine eigene
Furcht gelegen, meine Ohnmacht. All meine Unschlüssigkeit. Wohl auch alle
Kraft, mit der ich mich von innen heraus gegen Furcht und Ohnmacht zu wehren
suchte. Gegen das verordnete Schweigen. Gegen die Geheimhaltung. Und es waren
auch Wut und Verzweiflung. Ein kochendes Eismeer.
Endlich hörte ich mich sagen: „Tineke,
was ich dir erklären wollte, ist weiter nichts, als dass ich nächste Woche vier
Wochen weg muss. Es ist eine Einladung, ein Termin, über den ich mit niemandem
reden kann. Jedenfalls nicht vorher. Und ob hinterher, das kann ich dir nicht
versprechen. Möglicherweise kann ich es nicht.“ Sie blieb stehen. Sie sah mich an.
Und sie sah ganz leer aus. Doch ihre Gedanken füllten sich wieder, sie wiederholte
meine Worte und begriff langsam, was ich gesagt hatte: „Du musst vier Wochen
weg, und du kannst vorher und hinterher mit niemandem darüber reden. Über diese
vier Wochen. Am allerwenigsten mit mir.“ „Nein!“, schrie ich. „Nicht bloß
nicht mit dir. Schon gar nicht mit dir am allerwenigsten.“
„Wie? Was denn nun? Du kannst mit
mir nicht darüber reden, dass du vier Wochen weg musst und warum? Oder du
kannst mit mir darüber reden?“
Ich seufzte, ich stöhnte. Ich warf
qualvolle Blicke zu den düsteren Wolken am Himmel.
„Weißt du, Erasmus“, sie gab sich
plötzlich gefasst. So auf eine vorbestimmt resignierende Art. „Mach es doch so:
Lass die Erklärungen weg, da kommen eh nur fadenscheinige Ausreden heraus. Beschränke
dich einfach auf die Tatsachen. Sag, dass du eine alte Freundin wiedergetroffen
oder eine neue gefunden hast. Zu der willst du. Es ist deine Jugendliebe, ihr
habt damals schon zusammen im Sandkasten gesessen. Du hattest ihr Bild sowieso
immer im Hinterkopf. Oder es ist die schöne Blonde mit der dunklen Brille und
den Grübchen, von der du dein Leben lang geträumt hast. Sie ist dir vor ein
paar Tagen im Supermarkt über den Weg gelaufen, und ihr habt euch prompt ineinander
verknallt. Du bist genauso ihr Traummann wie sie deine Traumfrau ist. Und gib
zu, dass du mir gegenüber nur von vier Wochen sprichst, damit ich mehr Zeit
habe, mich auf die Trennung von dir vorzubereiten. Mit Sicherheit wirst du nicht
nur diese vier Wochen wegbleiben, sondern für immer.“
„Nein!“, schrie ich wieder. Noch viel
lauter als vorher, noch viel verzweifelter. Sie blieb unbeirrt, unbeeindruckt. Vor
allem blieb sie stolz und kühl. „Weißt du, Erasmus, es ist auf eine Art richtig
rührend, wie rücksichtsvoll du dich von mir trennst. Ich merke sogar, dass es
dir ein bisschen schwer fällt. Ein bisschen. Und ich bin auch bereit, es zu
akzeptieren. Ich verlange ja nur die Wahrheit, damit ich dich besser verstehen
und mich leichter damit abfinden kann. Wohin du mit deiner neuen Flamme gehst,
will ich nicht mal wissen.“
Ich machte einen kleinen Schritt und
eine halbe Drehung, und als ich direkt vor ihr stand, fasste ich sie an beiden
Oberarmen und zog sie an mich. Ich umschlang sie. Ganz fest. Ganz nah, als
würden wir ineinander schmelzen. „Das weiß ich, dass du das alles nicht ernst
meinst. Und ich auch nicht“, flüsterte ich laut in den Wind. Sie atmete tief
und dehnte ihre Atemzüge lange hinaus. „Ja“, erwiderte sie, „ernst meine ich es
nicht. Nicht vom Inhalt. Aber ich leide nun mal schrecklich, weil etwas
zwischen uns steht. Es macht mir Angst, wenn du Geheimnisse vor mir hast, wenn
du mir nicht vertraust.“ Sie schob mich ein Stück von sich. Ich sah ihr Gesicht.
Sie sah traurig aus, aber auch glücklich. Sie sagte: „Ich weiß ja, ich bin
dabei, dich zu vereinnahmen, zu sehr vielleicht. Und zu früh. So lange kennen
wir uns ja noch nicht, dass ich diese bedingungslose Vertrautheit von dir verlangen
könnte.“ Ich hielt sie immer noch fest, an den Schultern jetzt. Ich sah sie
auch so an, wie sie mich ansah, so fest, so intensiv. Auch ernst, aber nun
lockerer. Glücklich und traurig. „Diese Geheimnisse“, sagte ich, „sie haben
nicht direkt mit uns zu tun, mit dir und mir. Mit anderen Frauen sowieso nicht.
Es ist wegen meiner Familie. Ich hab versucht, dir diese Schwierigkeiten zu
erklären. Andeutungsweise jedenfalls. Dass es bei uns nicht normal zugeht. Bei
den Ersters.“
„Lass uns ein Stück laufen“, sagte
sie. Sie hakte sich in meinen Arm, sie zog an mir. Vorwärts zog sie. „Es ist
kalt.“ Sie seufzte. „Du frierst. Du zitterst. Du bist blass und hast blaue
Stellen im Gesicht. Frostbeule.“ „Und du, frierst du nicht? Obwohl du
zitterst? Du bist auch blass und hast auch blaue Stellen. Selber Frostbeule.“ „Nein“, entgegnete sie. „Keine
Frostbeule. Höchstens außen herum ist mir kalt. Das ist nicht schlimm und nicht
wichtig. Innen, ist mir dafür ganz warm. Wegen dir.“ Sie summte auf einmal das
Lied. „Butterfly, red white and blue.“ Und ich summte mit, ich sang sogar leise,
ich ergänzte: „You love flowers, I love you.“
„Weißt du noch“, fragte sie nachher,
„als wir vor ein paar Tagen frühmorgens auf der Lichtung im Wald Rast gemacht
haben?“
„Ja“, erwiderte ich. „Es war schön.
Nur kam kein Reh.“ Sie kicherte kurz. Sie sagte dann
ernst: „Ich fühle mich immer noch so. So glücklich. Trotz dem. Ich spüre auch,
dass wir uns näher kommen.“ Wir gingen einige Schritte
schweigend. Nachher sagte ich: „Ich werde in der nächsten Woche meinen Vater
sehen. Sie erlauben mir sogar, mit ihm zu sprechen. Das ist der Grund für diese
vier Wochen.“
In dem kleinen Küstenhaus hatten sie sich beruhigt. Sie
saßen um den Küchentisch herum und vertilgten zu dritt die Reste der Buttercremetorte.
Dazu tranken sie Tee, den sie in der Kanne auf einem Stövchen zu stehen hatten.
Jonathan teilte die letzten Stücke zwischen sich und der Henriette auf. Edward
Erster hatte ein kleines, sorgsam abgemessenes Stück auf dem Teller. Er hobelte
bei prüfendem Blick kleine Häppchen ab, die er auf der Zunge zergehen ließ.
Aha, dachte ich, Schokoladenproduzent bleibt man also für sein Leben. Ebenso Onkel mit Berufung zur Vaterfunktion.
Er sagte: „Ihr seht total durchgefroren aus. Trinkt mal bisschen Tee mit ’nem
Schuss Rum. Das wärmt. Und hier: Kuchen.“
Tineke ließ sich auf einen Stuhl
plumpsen. Sie wirkte noch durchgefrorener als ich, auch erschöpft. Sie war es
auch. Sie sagte: „Ich hätte eher Appetit auf was Herzhaftes.“ Sie blickte mit
einer gewissen Erwartung zu Jonathan. Der schüttelte den Kopf. „Ich bin grad
dabei, deine Oma zu versorgen. Danach mach ich für dich aber was besonders Schönes.“
Er bedachte mich mit einem kurzen Blick und fügte leicht schnippisch hinzu:
„Und wenn dieser Draufgänger da ab sofort wieder freundlich zu dir ist, kriegt
er auch was. Vielleicht einen extrascharfen Pfefferbeißer mit Zwiebelbeilage.
Damit ihm endlich die Tränen kommen.“ Tineke lächelte leise. „Vorhin. Alles
schon vergessen. Es war eher bei mir, dass es zu diesem Zwischenfall kam. Ich
habe überreagiert. Ich bin zu emotional.“ Sie schwieg eine Weile, ohne den
Blick von ihm zu nehmen. Schließlich fuhr sie fort: „Du, sag mal, du kümmerst
dich da so hingebungsvoll um meine Henriette. Könntest du dir vorstellen, den
Job für etwa vier Wochen zu übernehmen? Allein.“
Jonathans Blick wanderte skeptisch
von Tineke zu mir und von mir zurück zu Tineke, danach zur Henriette. „Was soll
das heißen? Geht er stiften?“ Er schüttelte in gespielter Empörtheit den Kopf.
„Ts, ts, ts. Kein Verlass auf die Künstler und Schriftsteller.“
„Neinnein.“ Das war Edward Erster,
der sich auf einmal in die Diskussion hing. „Ganz sicher geht er nicht stiften. Er soll meinen Wagen holen. Der steht immer
noch in der Garage. In diesem Hotel. In der Schweiz.“
„Und das dauert vier Wochen?“ Kurzes Schweigen. Nur das leichte
Schmatzen der Henriette. Tineke meldete sich jetzt: „Ich werde wahrscheinlich
mitfahren.“ Alle schauten wir zu Tineke, alle staunten wir. „Naja. Erasmus ist
aus seinem künstlerischen Gleichgewicht geraten. Er findet keine Konzentration
und kein Konzept für sein neues Werk. Ist es nicht wichtig, dass wir ihn
unterstützen? Ich, Edward, die Henriette. Und eben auch du.“ Edward Erster klatschte dezent
Beifall, die Henriette nickte eifrig. „Und deine Arbeit? Wie willst du
deinen Facharzt schaffen?“ Jonathan hatte eigentlich kapituliert. Aber es
gehörte zu seinem Stil, noch ein bisschen wichtig zu sein. Tineke lachte auf. In ihr Gesicht
zog rötliche Farbe, Wärme. „Ich freu mich so, dass du ja sagst, Jonathan.
Danke.“ Er seufzte. „Ja.“
Folge
21 vom 20. April. 2020
Wir beschlossen,
Mensch ärgere dich nicht zu spielen.
Es war Tinekes Idee. „Das wärmt auf. Es ist lustig.“ Sie hatte einen sichtlich
abgewetzten Karton, in dem sich die ebenfalls abgewetzten Männchen und das
Spielfeld befanden. „Mein Gott, wie oft wir da schon drüber gesessen und
unseren Spaß gehabt haben.“ Sie schaute zur Henriette, die zugleich nickte und
seufzte. Jonathan zweifelte. „Von wegen Spaß. Das Spiel beschert einem
kolossale Wutanfälle. Es wurde bereits mehrfach wissenschaftlich untersucht. Womöglich
schmeißt Erasmus alle meine Männchen raus, so dass ich Aggressionen gegen ihn
entwickle.“
„Muss es nicht heißen: Aggressionen für ihn?“, fragte ich dumm.
Er sah mich an, und sein Blick war friedlich, fast sanft. „Ist mir egal, ob für oder gegen. Ich möchte diese Aggressionen nicht haben. Du
bist für mich ein Bruder im Geiste. Und im Gefühl.“
„Seelenverwandtschaft nennt man das“, ergänzte Tineke. „Bei
Seelenverwandten ergeben sich eigentlich niemals Aggressionen. Weder für- noch
gegeneinander.“
Der Würfel rollte bereits. Tineke wollte der Henriette, als
sie an der Reihe war, das Würfeln abnehmen. Die Großmutter jedoch entriss der
Enkelin das entscheidende Spielinstrument. Sie konnte selbst würfeln. Sie
wollte es. Sie entwickelte Leidenschaft. Egal, dass wir dann doch ihre Männchen
rücken und ihr beim Abzählen der Felder helfen mussten. Sie kicherte herzhaft,
und sie räumte noch und noch alles weg, was da im Wege stand.
Edward Erster erwischte es gleich wiederholt. Er begann zu
schimpfen, hielt sich jedoch an den anderen Männchen, insonderheit an denen von
Jonathan, der als einziger einen geradezu behutsamen Spielstil an den Tag
legte, schadlos. Zusehends steigerte er sich in die Rausschmeiß-Attacken und
kommentierte sie auch noch mit passenden, nicht gerade von Zimperlichkeit
zeugenden Zwischenrufen. „Siehst du, warum kommst du auf mein Territorium.“
Oder er rechtfertigte sich: „Hast mich ja auch direkt vor Toresschluss
gefeuert.“ Dann jedoch stellten sich bei ihm unversehens Momente der Besinnung
ein. Vielleicht schämte er sich sogar für seinen Spieleifer, denn er murmelte
zur Selbstentschuldigung und so, dass es alle gerade noch hören sollten: „Himmel,
ich benehme mich ja völlig kindisch. Als ginge es um mein Leben. Warum nimmt
jemand wie ich überhaupt an diesem albernen Spiel teil? Warum bin ich nicht im
Golf-Club?“ Sekunden später war er wieder auf das Brett fixiert. Er ereiferte
sich: „Musste das sein, Henriette, dass du mein Männchen so gemein aufmischst?“ Und die Henriette freute sich ganz listig und froh; eine kleine Elster.
Dann war, fast unbemerkt, Tineke fertig. Alle Männchen waren
im sicheren Feld aufgereiht. Edward Erster nörgelte: „Die Kleine hat sich
klammheimlich in den sicheren Schober getrickst.“ Er wiegte unzufrieden,
zugleich bei anhaltender Leidenschaft den Kopf und schmiss den Würfel mit Wucht
über den Tisch. „Und bei mir geht gar nichts.“
Jonathan hingegen, obwohl er gerade ein einziges Männchen auf
die Zielreihe hatte bringen können, gab sich entspannt. „Ganz sicher werdet ihr
nicht erleben, dass ich ausraste. Nicht mit dem Nervenkostüm, über das ich
verfüge. Und wenn du mich noch zehnmal rauskantest, Chef.“ Er nannte Edward Erster,
seit er ihm zum ersten Mal gegenübergestanden hatte, Chef. Er verband damit den Respekt, den er vor dem Großkapitalisten
hatte. Doch es hatte auch etwas damit zu tun, dass er bei Edward Halt und
Orientierung suchte. Allerdings, als er sah, dass Tineke, die ihm vis–à–vis saß,
gesiegt hatte, sprang er auf, lief um den Tisch herum und umarmte die Siegerin.
„Glückwunsch, Zintchen. Ich freu mich so, dass du das geschafft hast. Ich gönn
dir das so sehr.“ Er hielt sie fest, er schloss sogar die Augen, schließlich
öffnete er sie wieder und sah zu mir. „Und du, du kannst dich wohl kein
bisschen freuen. Spielst hier den Eisblock. Als ob das zu deinem schönen Buch
passen würde. Da brennst du auf Sizilien ein Feuerwerk der Gefühle ab und entwirfst
sozusagen das Szenario der atemberaubenden Tragödie, und hier, wo deine reale
große Liebe sitzt und sich nach deiner Wärme sehnt, bleibst du steif wie ein
Stück Holz.“
Ich dachte, man sollte Jonathan bitten, ein Vorwort für das
Buch zu schreiben und es nach dem Erscheinen den wichtigen Medien zum Besprechen
geben. Es würde vielleicht den Inhalt übertreffen. Ich äußerte eine solche
Bitte allerdings nicht, denn ich sorgte mich plötzlich um Tineke. Ihr Gesicht
war, ohne dass ich es während des Spiels bemerkt hatte, rot angelaufen. Es
glühte. War es eine Erkältung, war es Grippe oder Fieber? Oder die Aufregung
der letzten Stunden.
Oder alles das?
Tineke gab
nicht zu, dass sie kränklich sein mochte. Sie wollte trotz der sichtlich in ihr
aufsteigenden Hitze weiter Mensch ärgere
dich nicht spielen. „Wirklich, mir geht’s gut. Warum sollten wir aufhören?“
Und als wir Übrigen uns eher unwillig zeigten: „Eine Runde wenigstens noch.“ Wir willigten ein.„Aber nur eine!“, bestimmte Jonathan.
Wir spielten also wieder. Jetzt freilich nicht mehr mit der
Leidenschaftlichkeit der ersten Partie. Wir schauten immerzu zu Tineke. Abwechselnd
oder alle zugleich. Mal verstohlen, mal unverhohlen. Immer besorgt, alle sehr freundlich.
Wir spielten rücksichtsvoll. Keiner wollte Tinekes Männchen vom Rundkurs
schubsen. Keiner sie aufregen, ihr wehtun. Und wenn es doch geschah, dass einer
ihrer Holzmannen vom Feld musste, weil es halt nicht anders ging, handelte sich
der betreffende Frevler die strafenden Blicke der Mitspieler ein, oder er
entschuldigte sich gleich von selbst, indem er beschwor, er habe eigentlich zu
ungelenk gewürfelt.Nach zwanzig Minuten hatten wir es geschafft. Tinekes zweiter
Sieg war unvermeidlich gewesen. Sie lächelte nun. Sie sah aber schlapp aus, das
Gesicht immer noch rot. Es glühte. Sie wird, ist krank, dachte ich.
Merkte sie es selbst nicht? Ignorierte sie es einfach? Wir
hätten nicht noch mal spielen sollen. Es war zu viel für sie gewesen.
Ich versuchte es ihr zu sagen: „Siehst aus, als kriegst du
’ne Grippe oder so was.“ Sie schüttelte ungläubig, unwillig den Kopf. „Mir
schlägt das Wetter auf die Natur. Ich fühle direkt, wie der Luftdruck zu
steigen beginnt. Morgen scheint die Sonne wieder, und es wird knallheiß.
Wetten?“
Dass sich manche Menschen umso standhafter geben mussten, je
schlechter es ihnen ging.
„Im Fernsehen haben sie was anderes angekündigt. Regen satt.“
Da Edward Erster das sagte, gab ich auf Tinekes Prognose schon mal gar nichts.
Wetterberichte waren eine seiner Leidenschaften.
Tinekes Lächeln zeigte an, dass sie es besser wusste. „Eine
Runde würde ich noch spielen. Wenn morgen die Sonne scheint, kommen wir ja
nicht dazu, weil wir draußen sind.“
Wir sahen uns fragend an. Bis Edward demonstrativ gähnte.
„Auf Dauer langweilt mich dieses altmodische Spiel ungeheuer. Es ist halt was
für alte Leute, die für nichts anderes taugen.“ Er warf einen freundlichen
Blick auf die Henriette. „Wir beide gehören da jedenfalls nicht dazu.“Die
Henriette nickte froh, und Edward Erster beschloss: „Ich werd mal nach oben in
meine Mönchsbehausung gehen, hab noch einiges durchzuarbeiten.“
Tineke schaute ihn staunend an: „Als Ruheständler? Einiges
durcharbeiten?“ Ihre Stimme war matt geworden.
„Grade als Ruheständler muss man ständig ein Auge auf seine
Geldanlagen haben“, erwiderte Edward Erster. „Aktienpakete und Immobilien
unterliegen allen möglichen Einflüssen.“
Jonathan bestätigte es beflissen: „Der Chef hat total Recht.
Obwohl unsereiner das ja nur theoretisch bestätigen kann.“ Er wandte sich an
mich: „Und du, großer Schriftsteller? Siehst auch ziemlich mitgenommen aus.“ Er
zwinkerte auffällig. „Gönn dir mal ’nen kleinen entspannenden Spätnachmittagsschlaf.
Und nimm deinen Schatz schön mit. Wer zusammen schläft, erholt sich doppelt.“
„Und meine Henriette?“
„Ach, da werde ich mich drum kümmern, Zintchen.“ Jonathan
drehte das Mensch-ärgere-dich-nicht-Brett um, und prompt lag ein anderes
Spielfeld auf dem Tisch. „Das ist doch was für uns beide. Oder?“ Er kramte in
dem Karton mit den Spielen und förderte noch mehr abgewetzte Holzmännchen
zutage.
Die Henriette freute sich. Sie sagte: „Hick-Hack, haben wir
lange nicht gespielt.“
„Halma“, sagte Tineke. „Das Spiel heißt Halma. Das spielt sie
furchtbar gern.“ Edward Erster, der schon aufgestanden war, ließ sich erneut
auf seinen Platz nieder und rückte ein Stück an das Spielfeld heran. „Probieren
würd’ ich das auch mal wieder. Es geht ja auch zu dritt.“ Er schaute
melancholisch. „Das ist doch sechzig oder wie viel Jahre her, dass wir das
gespielt haben. Deine Großeltern, Erasmus, irgendwelche Nachbarn und Freunde. Gleich
nach dem Krieg.“ Die aufgesetzte Rührung wollte ihn endgültig befallen.
Vielleicht auch Selbstmitleid. „Zuletzt kam ich ja kaum noch dazu mitzuspielen.
Musste ja immer für die Firma da sein. Während der Gründerjahre. Na ja, und
nachher, als ich Unternehmer wurde, musste ich mich rund um die Uhr um alles
kümmern.“ „Halma ist ätzend“, sagte ich und zog Tineke von ihrem Stuhl
empor.
„Musst ja nicht mitspielen.“ Jonathan klang leicht beleidigt.
„Wäre sowieso sinnvoller, du würdest endlich mal wieder was schreiben.“
Ich
brachte Tineke in das Wohnzimmer. Sie legte sich auf die Couch. Sie begann
jetzt zu frieren. Und sie schwitzte. „Du bist krank“, sagte ich. „Von diesem
kurzen Spaziergang im Regen und im Sturm. So schnell ist das also gegangen. Du
verträgst nichts. Das solltest du mal akzeptieren.“
Sie widersprach. „Es hat sich schon angebahnt, bevor ich kam.
Hab mich in Berlin in der Klinik angesteckt.“ Sie hustete. „Lässt sich halt
nicht vermeiden, dass ich mit Patienten zusammenkomme.“
Ich deckte sie zu, streifte ihr dicke Wollsocken über die Füße.
„Ich werde in Zukunft besser auf dich aufpassen“, beschloss ich. „Nicht nur
immer auf die Henriette.“Sie stöhnte und schloss die Augen. „Eher muss jemand auf dich
aufpassen.“ Ich schlich in die Küche. Dort kochte ich Tee, schob das
Kissen mit den Körnern in die Mikrowelle und legte es ihr, nachdem es heiß war,
auf den Bauch. „Hilfe!“, schrie sie leise. „So kann man natürlich auch jemanden
kurieren: Man verbrennt ihn.“ Ihre Zähne schlugen beim Sprechen klappernd aufeinander,
die Stirn wurde vom Schweiß nass. Sie stöhnte abermals und drehte sich auf die
Seite.
Sie schlief schnell ein.
Ich zupfte eine Weile an ihrer Decke, danach rückte ich
meinen Stuhl so, dass ich ihr Gesicht sehen konnte. Ich schaute sie ganz lange
an. Sie schlief unruhig, sie atmete durch den Mund, dadurch sah sie kindlich
und geradezu unschuldig aus. Fast unberührt. So zart. Ich begriff, dass ich
noch nie einen Menschen so gemocht, so geliebt hatte wie sie. Und ich fand es
jetzt schäbig, dass ich sie wegen meines Geständnisses in das kalte Wetter
geschleppt und ihr vorhin auf dem Deich noch nicht die komplette Wahrheit
gesagt hatte. Über meinen Vater, über jene bevorstehenden vier Wochen. Was ging
mich denn das Versteckspiel dieser fremden Leute an? Musste ich deswegen diese
Kluft zwischen Tineke und mir aufreißen? Ich fühlte mich Tineke gegenüber schuldig.
Ich war der Meinung, dass diese Erkältung, die sie so plötzlich umgeschmissen
hatte, keineswegs mit einer Ansteckung in der Klinik zu tun hatte. Sie hatte
sich das auf dem Deich zugezogen. Im Wind, im Regen. Wegen mir. Weil ich ihr
keine Zeit gelassen hatte, sich wärmer anzuziehen, weil ich sie mit meinen
Andeutungen psychisch zu stark unter Druck gesetzt hatte.
Ich sagte es ihr jetzt. Obwohl sie schlief. „Tineke, ich habe
dich schlecht behandelt. Ich habe dich regelrecht in die Enge getrieben, dich
in Panik versetzt. Es tut mir leid.“ Ich streichelte dabei ihr Gesicht. Es
erleichterte mich. Sie lächelte still und zaghaft. Und glücklich. Dabei schlief
sie doch immer noch. Ich war gerührt, und glücklich war ich sowieso. Mindestens
so wie sie. Ich sagte ihr: „Ich liebe dich, Tineke. So sehr habe ich noch nie
einen Menschen geliebt.“ Sie lächelte erneut. Wieder so still und so unschuldig
und so glücklich. Da konnte ich mich nicht länger zurückhalten. Egal, ob es
Konsequenzen haben würde, ich musste ihr einfach den Rest, die ganze Wahrheit sagen:
„Dass ich demnächst diese vier Wochen unterwegs sein werde, hat sehr
komplizierte Hintergründe. Aber es ist trotzdem nicht das, was du vielleicht doch
noch annimmst. Keine Weibergeschichte. Es steckt etwas dahinter, das nahezu
unglaublich klingt. Unglaubhaft. Ja, ich werde meinen Vater sehen. Aber nicht
von Angesicht zu Angesicht. Das heißt, von Angesicht zu Angesicht sehe ich ihn
schon. Trotzdem: Sein Gesicht ist auf einem Bildschirm. Bei mir. Und bei ihm
ist mein Gesicht auf dem Bildschirm. Und das auch nur, wenn diese ganzen komplizierten
Abstimmungen funktionieren. Ich weiß also nicht mal, ob man demnach von einer
Begegnung zwischen ihm und mir sprechen kann. Eine Begegnung, wo man sich bei
Kaffee und Kuchen gegenüber sitzt, ist es jedenfalls nicht. Es ist virtuell.“
Ich musste mich unterbrechen. Ich musste nachdenken. Ich hatte den Faden
verloren. Falls ich überhaupt einen geknüpft hatte. Ich kam auch nicht dazu,
mich zu sammeln und geordnet zu reden. Tineke fuhr auf einmal im Schlaf
zusammen. Sei es aus Unwohlsein oder wegen einer bösen Traumsequenz. Es kam ein
kleiner Aufschrei, der dennoch laut genug war, auf dass ihn Jonathan und Edward
Erster hörten. Prompt ging die Tür auf. „Was war das? Sollen wir nicht gleich
einen Arzt rufen? Oder hast du was gemacht? Mit ihr.“ Ich sprang auf und schob
die beiden aus dem Raum. „Es ist alles gut“, beruhigte ich die zwei. „Sie
kriegt halt etwas schwer Luft.“
Folge
22 vom 21. April. 2020
Ich wusste, dass die beiden nachher
weiter auf der Lauer lagen. Halma spielten sie nur als Alibi. Obwohl sie flüsterten,
fing ich noch ein paar Wortfetzen auf, in denen es um Tineke ging. Dass die Kleine besonderer Ruhe bedürfe und
womöglich einen Arzt brauche und wie es wohl in der nächsten Woche mit ihr
weitergehe, ob sie denn überhaupt nach Berlin reisen könne. Ich widerstand der
Versuchung, die Tür aufzureißen und den beiden zu versichern, es könne Tineke
nicht besser gehen als in meiner Obhut. Ich beschloss, diese wahrlich übertriebene
Fürsorge zu ignorieren und im Zimmer bei Tineke zu bleiben. Mich interessierte
kein Abendbrot, kein Halma. Ich ging auch nicht hinaus, als Dominique kam und
vielleicht gern mit Tineke gesprochen hätte. Das Mannweib, mit dem Edward
Erster heuer abermals einen seichten Dialog begann. Ich wusste, diese zwei
Kerle würden mit allem fertig werden, wenn ich für jene vier Wochen auf Reisen
ging. Mit der Betreuung der Henriette und mit ihren eigenen Bedürfnissen. Und
ihre Bedenken würden sich schlicht auflösen. Tineke schlief,
ich war an ihrer Seite. Ich hatte den
Laptop hochgefahren. Schreiben, darum ging es jetzt. Jonathan hatte es ja
selbst gesagt. „Dein erstes Buch, mach mal endlich was, damit es veröffentlicht
werden kann. Wofür bist du Schriftsteller?“ Hatte er es gesagt, oder war die
Frage, die Mahnung schlichtweg nur in meinem Kopf? Ich arbeitete
jetzt aber nicht an meinem ersten Buch. Ich hatte plötzlich die Idee für eine neue
Geschichte. Und zwar nicht einfach nur was Neues, sondern es war eine Idee, mit
der ich ein bisschen von dem erklären wollte, was ich sonst nicht erklären
durfte. Meinem Onkel nicht und nicht Tineke. Ich schrieb die Geschichte eines
jungen Mannes, der in bestimmten Abständen aus seiner Umgebung verschwindet, um
seinen Vater zu besuchen. Die Besuche dauern meistens um die vier Wochen. Da
sie aber anstrengend sind, schon weil er in dieser Zeit kaum schlafen kann, und
weil er danach auch nicht alles sofort verarbeitet hat, ist der junge Mann anschließend
auch durcheinander. Wo sich der
Vater befindet und was er treibt und wo der junge Mann demzufolge hinfährt und wo
er sich diese vier Wochen lang aufhält, das bleibt geheim. Der junge Mann darf
es nicht verraten, weil ihm ansonsten kein Wiedersehen mit seinem Vater mehr
erlaubt sein würde. An dieser
Situation, speziell an der Einhaltung der Vorschriften, ändert auch die
Bekanntschaft einer hübschen Frau nichts. Egal, dass sich der junge Mann
hoffnungslos in sie verliebt. Er unterliegt auch ihr gegenüber den bedingungslosen
Geheimhaltungsvorschriften. Die Fragen, die ihm seine Freundin vor dem Treffen
mit dem Vater stellt, darf er nicht beantworten. Was soll er
tun? Die nächste Begegnung mit dem Vater naht. Er sieht die Freundschaft zu dem
Mädchen gefährdet. Der junge Mann
entschließt sich zu einer Lüge. „Mein Vater befindet sich in einer Klinik.
Seine Nerven. Diese Erkrankung ist unheilbar.“
Ich schrieb und schrieb, grübelte
zwischendurch, löschte Sätze oder Passagen, erneuerte sie oder ließ sie weg, ich
korrigierte, löschte abermals und formulierte noch mal neu. Ich konzentrierte
mich allein auf den Text, ich achtete auf nichts. Erst gegen Mitternacht
schaute ich auf. Draußen, in der Küche, hatten sie längst den Tisch, das Feld
geräumt. Nicht nur jenes vom Halma-Spiel. Edward Erster war oben in der Wohnung,
Jonathan im Bett, nahe der Henriette. Tineke schlief
unruhig. Sie röchelte, strampelte das Bettzeug weg und redete undeutliche,
aufgeregte Worte. Ein Albtraum? Ich überlegte, ob ich sie wecken sollte, um sie
davon zu erlösen. Ich tat es nicht. Ich ging nur an ihr Bett, deckte sie
ordentlich zu. Dann ging ich weiter zum Fenster und stellte den Flügel weiter
auf. Ich hörte das Rauschen des Meeres, die Flut kam auf und brachte kühle
Luft, der Regen hatte endgültig nachgelassen. Vielleicht gibt es tatsächlich
Sonnenschein, wenn sie aufwacht, dachte ich. Morgen. Der Himmel jedenfalls
klarte allmählich auf. Er war schwarzblau, gezeichnet von zerrissenen
Wolkenfeldern, dazwischen hob sich der Mond mit einem Strich vor dem Abnehmen
mattgelb ab. Sein Schein fiel direkt in das Zimmer, auf Tinekes Gesicht. Ich
ging zur Couch und sah sie wieder an. Sie lag jetzt ruhig. Ich strich
vorsichtig mit der Hand über ihr Haar und sagte leise: „Sobald du wieder gesund
bist, werde ich alles aufklären. Ich möchte nicht, dass du denkst, ich
verschweige dir was Schlimmes.“ Noch während ich sprach, spürte ich ihre Finger
auf meiner Hand. Sie war aufgewacht. Sie hielt meine Hand fest. Es war dennoch eine
zarte Berührung. „Du musst nichts aufklären, Erasmus. Gar nichts“, sagte sie.
Ihre Stimme war brüchig und kaum hörbar. Trotzdem klang sie warm. Ich erschrak.
Ich hatte nicht gerechnet, dass sie wach sein würde. „Wie fühlst du dich?“,
fragte ich unbeholfen. Sie ließ meine Hand los und schwieg eine Weile. Doch
dann sagte sie: „Ich bin sicher, du wirst mir irgendwann alles von selbst
erzählen. Über deinen Vater, deine Familie. Und wenn nicht, kann ich damit
leben. Wichtig ist, dass nichts Schlimmes hinter deinem Schweigen steckt. Das
weiß ich ja jetzt, du hast es mir klargemacht.“ Sie seufzte ganz erfüllt. „Das
war so schön, als du vorhin zu mir gesprochen hast. Gleich zu Anfang, als ich
hier lag. Du hast gedacht, ich schlafe.“ Sie fasste wieder nach meiner Hand.
„Ich hab es genau gehört, alles. Es macht mich so glücklich. Erasmus.“
Sie fühlte sich keineswegs schlecht,
nachdem sie aufgewacht war. Nicht so wie ich es erwartet hatte. Krank und
fiebrig. Nur schlapp, ausgetrocknet. Durchgeschwitzt. Sie saß auf der Kante des
Sofas. „Ich brauche frische Sachen“, sagte sie. „Da drüben ist die Kommode, da
sind Schlafanzüge und so was drin.“ Bevor ich zu dieser Kommode ging, bat sie:
„Bitte sei ganz leise. Sonst haben wir Jonathan gleich wieder hier. Und bitte lass
die Lampe aus. Schon, wenn er das Licht unter der Türritze sieht, kann er uns
bemerken.“ Es ging nicht
ganz ohne Licht. Ich bog die kleine Lampe hoch, die ich am Laptop hatte, und
richtete sie auf die Kommode. Ich sagte: „Du, ich weiß ja nicht, ob ich dich
das fragen darf. Mit diesem Jonathan, hattest du mal was mit ihm?“ Sie kicherte
röchelnd, hustete dabei. „Eifersüchtig?“ „Weniger. Ich
kann’s mir sowieso nicht vorstellen. Du und er, das passt kein Stück. Eher
kam’s mir zuerst vor, als würde er auf –.“ Ich brach ab. Ich wollte keine
falschen Vermutungen anstellen. „Dachtest du,
er steht auf Männer? Am Ende gar auf dich?“, fragte Tineke direkt. Ich druckste.
„Ich hab’s nicht ausgeschlossen.“ Und da sie nichts entgegnete, hakte ich nach.
„Und? Ist da was dran?“ Sie schüttelte
den Kopf. Ich konnte es an der Bewegung ihres Schattens an der Wand erkennen. „Weiß
ich selbst nicht. Ich weiß nur, dass ich
nichts mit ihm hatteund auch nie etwas
haben werden. Er ist der Bruder von einer Freundin, mit der ich zu Beginn des
Studiums unsere Zweier-WeGe gegründet habe. Sie hat das Studium nach kurzer
Zeit geschmissen und ist nach Amerika gegangen. Jonathan hat sich dafür bei mir
einquartiert. ‚Nur für zwei Wochen’ – der übliche Spruch. Er ist natürlich
geblieben. Mein Gott, wie lange das her ist. Ein halbes Leben.“ Sie hustete,
hielt sich dabei die Decke vor das Gesicht, um keinen Lärm zu machen. Nachdem
sie ruhiger geworden war, fragte ich noch mal: „Hat er mit dir zusammen Medizin
studiert?“ Sie stieß einen
Lacher aus. Ungewollt laut, wieder röchelnd. „Studiert! Er hat nicht mal seine
Ausbildung zu Ende gebracht. Er geht gelegentlich jobben, solange er bei mir
wohnt. Mal hier, mal da. Regelmäßig arbeitet er nur in einer zoologischen
Fachhandlung. Auch nur stundenweise. Er verdient gerade soviel, um seinen Anteil
an der Miete und die Versicherungsbeiträge abzudecken. Ansonsten ziehe ich ihn
quasi mit durch. Dafür kümmert er sich um den Haushalt. Und um mich. Und um
sonst alles Mögliche. Um deine Hamster und Hamsterinnen zum Beispiel.“ Sie
hustete wieder. Ich nahm ihre
Sachen aus der Kommode und legte sie neben sie. „Kommst du mit dem Umziehen
allein klar?“ Sie bewegte den Kopf. Diesmal konnte ich am Schatten nicht
erkennen, ob sie nickte oder verneinte. „Ich kann dir helfen, und ich sollte
dir vielleicht erst ein Handtuch holen. Zum Abtrocknen.“ Es war ein
Nein, sie bekräftigte es, sie sagte: „Ich werd’ am besten erst mal duschen, ich
schleiche mich ins Bad. Du kannst inzwischen Tee kochen. Eine große Kanne. In
einem Schraubglas sind getrocknete Hagebuttenschalen. Selber gepflückt, selber
getrocknet und noch selberer zerkleinert. Mach ihn bitte nicht zu stark.“ Sie
drückte sich empor, stand wacklig, umfasste mich mit dem Arm, hielt sich an mir
fest. Ich fühlte den Stoff ihres Shirts, er war nass. Ich stützte sie während
der ersten Schritte. Nachher lief sie allein. Sie verschwand im Bad. Das Wasser
rauschte. Ich hörte es, während ich mir in der Küche zu schaffen machte. Das
Schraubglas mit den Hagebuttenschalen, die Kanne, das Wasser. Und natürlich:
Jonathan. Es war unvermeidlich, dass er auftauchte, wie leise und vorsichtig
wir uns auch bewegt hatten. Er stand hinter mir. Ich erschrak, als ich unverhofft
gegen ihn stieß, wiewohl ich ja mit ihm hatte rechnen müssen. „Schön, dass du
dich um sie kümmerst“, sagte er. Ich antwortete
mit einem Achselzucken. „In diesen und
jenen Belangen kann ich dir aber gern einige heiße Tipps geben. So lange, wie
ich nun schon mit Zintchen zusammen bin.“ „Es geht ihr
schon besser“, entgegnete ich und blieb ganz ruhig. „Sie ist allerdings sehr
schwach. Sie hat geschwitzt. Jetzt duscht sie.“ „Ja“, sagte er,
„hab ich mitbekommen. Aber stell dir mal vor, sie hat die Tür von der Dusche abgeschlossen.“
Da ich angesichts dieser Bemerkung fast die Kanne des Wasserkochers
fallengelassen hätte, fügte er, als er es bemerkte, besorgt hinzu: „Es könnte
sein, dass sie ohnmächtig wird oder auf dem Boden des Duschbeckens ausrutscht.“ Ich überging
seine Bemerkung. Oder hätte ich ihm sagen sollen, wie unsympathisch ich ihn
plötzlich fand? Mal wieder. Andererseits, in eben diesem Augenblick quengelte
auch die Henriette, er stürzte sofort zu ihr ins Schlafzimmer. Er redete
freundlich auf sie ein, ohne dass ich verstehen konnte, was er sagte, und er kam
nachher mit zufriedener Miene zurück. „Es ist nichts Schlimmes. Sie hat
geträumt. Sie wäre allein im Haus. Alle seien abgehauen. Sogar ich. Ich hab’
sie beruhigt und gesagt, dass ich eher verhungern und verdursten würde, als sie
hier im Stich zu lassen.“ Er sah, dass
ich den Tee aufgegossen hatte und fragte jetzt: „Apropos verdursten. Trinkst du
immer allein oder kann unsereiner vielleicht auch eine Tasse Tee kriegen?“ Ich
nahm eine leere Tasse aus dem Schrank und goss ein. Er zögerte jetzt. Er sagte:
„Entschuldigung, jetzt war ich einfach zu stürmisch. Jetzt trinke ich von
diesem Tee, ohne zu bedenken, dass du gleich noch eine Kanne aufgießen musst,
weil es für Zintchen nicht mehr reichen wird.“ Diese
Besserwisserei, dachte ich, muss er einem damit permanent auf die Nerven gehen?
Er wird auf diese Art auch niemals Freunde finden. Nun gut, er
erklärte sich, erklärte es: „Sie trinkt diesen Tee, als wäre sie danach
süchtig. Und wenn sie erkältet ist, sowieso. Dabei schmeckt er fast nach
nichts.“ Er lächelte milde. Dann sagte er: „Bestimmt denkst du jetzt, ich sei
in Zintchens Leben der wichtigste Mensch.“ Und da ich schwieg, ziemlich
verwirrt, fuhr er fort: „Komm, gib zu, du denkst, sie und ich, da könnte mehr
sein als Freundschaft.“ Er wurde wieder ernst, wieder auf seine ungewöhnliche
Art andächtig: „Falsch gedacht, mein Lieber, und zugleich auch richtig. Zintchen
und ich, wir sind im Grunde ein unschlagbares Team. Aber wir sind nur Freunde.
Sie und ich, das ist der hundertprozentige Beweis, dass es zwischen einem Mann
und einer Frau auch einfach nur Freundschaft geben kann.“ „Er hat Recht.“
Das war ihre Stimme. Wir drehten uns beide ruckartig um. Tineke stand an der
Türschwelle. Sie war in mehrere Handtücher gewickelt, das Gesicht wirkte
frisch, gar nicht mehr krank und blass. „Jonathan und ich sind tatsächlich
Freunde. Vielleicht sind wir wie ein Paar Schuhe, die nebeneinander überall hin
marschieren und sich gegenseitig helfen, ohne näher aneinander geraten zu
können. Bei solchen Paaren ist das dann so, dass keine Gemeinschaft mit einem
dritten Schuh möglich ist.“
Folge
23 vom 22. April. 2020
Jonathan
bedachte mich mit einem Blick, der so richtig von oben herab kam. So
herablassend und besitzanzeigend. Hast du gehört, was sie gesagt hat: Zwei
Schuhe, gemeinsam eingelaufen, voll aufeinander abgestimmt. Keine Gemeinschaft
mit einem dritten Schuh möglich. Ich fand ihn ab
sofort wieder unsympathisch. Ich goss für Tineke Tee ein. Als er mir seine
Tasse ebenfalls hinschob, als habe der zweite Schuh den gleichen Anspruch wie
der erste, zögerte ich. Tineke rettete uns vor einer kleineren Auseinandersetzung.
„Wir werden mit einer Kanne sowieso nicht reichen. Garantiert wird sich die
Henriette auch gleich melden und Durst haben.“ Also goss ich
Jonathans Tasse voll. Er reagierte wieder anders als erwartet. Freundlich, er
machte einen gedanklichen Schlenker. „Der Vergleich mit den Schuhen ist, glaub
ich, nicht ganz so treffend. Schuhe sind irgendwann ausgelatscht. Manchmal
stinken sie sogar. Können wir uns nicht einfach darauf einigen, Menschen zu
sein? Menschen finden zueinander, und je mehr Menschen es miteinander auf unterschiedliche
Weise aushalten, umso besser.“ Er bedachte mich mit einem Blick, der diesmal
tief erfüllt war. „Erasmus, du hast es in deinem herrlichen Buch ja selbst beschrieben.
Ich will dir mal sagen, in welcher Szene mir das besonders deutlich aufgefallen
ist.“ Er wollte es sagen, und ich war schon sehr gespannt, doch es kam nicht
dazu. Schon wieder rief die Henriette. „Matula, meine Bienenstöcke sind weg!“ Wir
schauten uns erstaunt an, und ehe noch Tineke reagieren mochte, hatte Jonathan
begriffen, dass die Henriette ihn meinte. Da startete er durch. „Komme schon!“ Tineke wartete
keinen Augenblick, nachdem er die Küche verlassen hatte. Sie umarmte mich. „Ein
herrliches Buch und ein noch herrlicherer Autor. Mit so vielen guten Stellen,
wo er sich wiederfindet. Matula.“ Wir lachten. „Wie sie nun gerade auf diesen
Namen kommt. Und die Bienenstöcke sind garantiert ihre Pantoffeln, die unter
dem Bett liegen.“ Wir küssten uns, wir waren glücklich und schworen uns, dass
wir niemals nur Schuhe sein wollten.
Nach einer
Minute war Jonathan wieder zurück. Nicht nur er, die Henriette ebenfalls.
Natürlich, sie auch. Er hatte sie untergefasst und führte sie zu ihrem Stuhl
mit den Armlehnen. Als sie saß, zeigte sie auf die Teekanne: „Bisschen Molke.“
Wir lachten sehr, am lautesten die Henriette selbst, wir riefen alle zugleich:
„Das ist Tee, keine Molke.“ Als wir um den
Tisch herum saßen und trinken wollten, kam Edward Erster. Er trug wieder einen
neuen Morgenmantel, ein äußerst teures Stück, darunter einen Pyjama, ebenfalls
neu, ebenfalls aus der sehr gehobenen Preisklasse. Vermutlich hatte er die
Sachen während seiner Tagestouren gekauft. Ich ahnte, dass er in entsprechenden
Geschäften einen Teil seiner Zeit verbracht haben musste. „Kann man vielleicht
noch an dieser Mitternachtsparty teilhaben? Oder habt ihr das Frühstück
vorverlegt?“ Er holte sich mit Selbstverständnis eine Tasse aus dem Schrank und
ließ sich auf seinem zum Stammplatz gewordenen Stuhl nieder. Ich goss ein
und setzte abermals Wasser auf. Wir kamen in Stimmung, wir redeten und
gackerten durcheinander. Dieser dünnste aller Tees wirkte wie Kaffee. Er machte
uns wach, richtig munter. Nein, nicht der Tee, es war einfach unsere Stimmung.
Es war einfach gut. Jonathan aß die Reste der Buttercremetorte. War es Fressgier
oder Übermut, dass er das tat? Tineke warnte ihn. „Hast du vergessen, wie du
vor anderthalb Jahren zwei Tage wegen eben einer solchen Torte exemplarisch flachgelegen
hast? Kurz vor dem Exitus.“ Er ignorierte
ihre Warnung. Und er hatte immer noch Hunger, nachdem er die Torte vertilgt
hatte. Nicht nur er. Edward,
Henriette, Tineke – ich auch. Es war halb
vier, ich machte für uns alle Spiegeleier. Wir aßen mit Begeisterung. Wir waren
noch immer in hervorragender Stimmung. „Wir sollten uns jetzt erst gar nicht
mehr hinlegen“, schlug Edward Erster vor. „Sobald es draußen richtig hell wird,
sollten wir einen Spaziergang machen.“ Er gähnte wie ein Leu. Tineke stimmte
ihm zu, Jonathan hingegen bremste sie: „Hast du vergessen, dass du vor ein paar
Stunden noch voll krank warst?“ Er selber sah jetzt blass aus, müde. „Also,
mich kriegt um diese Zeit keiner vor die Tür.“ Ich kochte
Kaffee. Nun doch. Die Henriette
war eingenickt. Sie lächelte im Schlaf. Kaffee hätte sie sowieso nicht
bekommen. Sie hatte sich ja auch so köstlich unterhalten, so gut wie seit
langem nicht. „Ich bin auf
dem direkten Weg der Genesung“, verteidigte sich Tineke gegen Jonathans Bedenken.
Sie gähnte nun auch. „Das mit dem Spaziergang war allerdings ein Scherz. Für
mich kommt das nicht in Frage. Noch mal schön schlafen, so bis Mittag und mit
der hervorragenden Betreuung von vorhin, dann ist alles wieder in Ordnung.“ Sie
lächelte mir verschmitzt zu, sie erhob sich und wandte sich in Richtung
Wohnzimmer. Edward Erster gähnte
erneut, nun in der Manier von mindestens acht Löwen. Und er trat erleichtert von
seiner Absicht, einen Morgenspaziergang zu unternehmen, zurück. „Allein werde
ich nun auch nicht durch den kühlen Morgen stürmen. Wer weiß, was mir zustößt.“
Er verabschiedete sich. Da stand ich
dann mit Jonathan. „Hilfst du mir, die Henriette ins Bett zu schaffen?“, bat
er. „Wenn wir sie mit ihrem Stuhl ans Bett tragen, brauchen wir sie nicht erst
wecken.“ Er sah in der Tat noch blasser, regelrecht fahl aus. „Ist dir nicht
gut?“, fragte ich und dachte an die Buttercremetorte, die Spiegeleier, den Tee
und den Kaffee. Und an Tinekes Warnung. Ich schalt mich selbst: Warum hatte ich
diese von Fett strotzende Buttercremetorte nicht längst weggeschmissen? Die Frage nach
seinem Befinden beantwortete sich quasi im Selbstlauf. Jonathan rannte zur
Toilette. Ich hörte diese fürchterlichen Geräusche. Die Henriette, die auf
ihrem Stuhl sitzen geblieben war, wurde davon wach, sie lauschte, sie
schüttelte sich, und sie sah bange aus. „Dass er so rackert.“ Sie seufzte
mitfühlend. Was immer sie mit rackern
meinte, Jonathan tat ihr leid. „Den hat’s ziemlich erwischt“, bestätigte ich
und half ihr hoch. Sie tippelte zu ihrem Bett. Da lag sie dann gottergeben.
Hände gefaltet, demütiger Blick zur Decke, der vermutlich bis in den Himmel
hinauf traf. Irgendwie bereit, im Falle eines Falles sofort zu sterben. „Er könnt’s
brauchen, dass du auch für ihn betest, dein Matula. So wie das Rumoren der
Gedärme bis hierher zu hören ist“, sagte ich. Sie gehorchte prompt. Ihre Lippen
bewegten sich stumm, und ihre Augen rollten immer wieder zur Seite, auf das
leere Bett. Nun denn, ihr Gebet half insofern, als sie für die nächsten Stunden
von der Anteilnahme am Geschehen erlöst wurde. Der Schlaf kam über sie. Fest
und unerschütterlich. Und gerecht. Und über mich
kam die Versuchung, die Situation zu nutzen und mich ins Bett zu stehlen. Zu
Tineke, fort von Jonathan. Das Geschehen meiden, nicht mit ansehen, anhören.
Mich nicht ekeln müssen. Ich widerstand.
Ich konnte ihm zwar nicht helfen, ich konnte ihm aber beistehen. „Alles bei dir
in Ordnung?“, rief ich, als ich die Tür der Toilette erreicht hatte. Er antwortete
mit einem Würgen. Oder war es ein Glucksen? Vielleicht ein Jammern? Zumindest
hörte ich die klägliche Aufforderung heraus, ich solle rein kommen, ins Badezimmer.
Ich stieß vorsichtig gegen die Tür. Sie öffnete sich langsam. Er hatte demnach
nicht abgeriegelt. Und das war gut, für ihn. Er lag am Boden, neben dem
Klobecken. „Himmel“, murmelte ich vor Schreck. „Lebst du überhaupt noch?“ Er bewegte
schwerfällig einen Arm. „Soll ich einen
Arzt rufen, den Notdienst? Oder –?“ Erst, nachdem ich ihn gefragt hatte, fiel sie
mir ein. Tineke, von Beruf Medizinerin. Nein, ganz sicher würde ich Tineke
nicht holen. Oder doch? Er reagierte mit einer Geste, die nein bedeuten sollte. Ziemlich entschieden sogar. Vermutlich rechnete
auch er damit, dass dieser Notdienst Tineke heißen würde. Ich kapierte, wie
peinlich ihm das sein musste. Hilfe von ihr – und eine Gardinenpredigt
inklusive. Ich würde also
nicht umhin kommen, ihn selbst zu verarzten. Verarzten, das hieß eher, sanitären
und menschlichen Beistand leisten; ich musste ihn hochziehen und irgendwie ins
Bett schaffen. Nicht nur das. Er musste vorher auf jeden Fall mit Wasser in
Kontakt kommen. Ganz ohne Reinigung konnte ich ihn nicht ins Bett legen. Zu
seinem und zum Nutzen der Henriette. Zur
Erleichterung meines Gewissens sowieso. Ich atmete tief
durch, hielt die Luft an und fasste ihn unter den Achseln. Während ich ihn
emporzog und zum Duschbecken schleifte, wurde mir unmissverständlich klar, was
ich zugleich meinem Rücken antat. Bandscheiben, Lendenwirbel, was einem alles
so fürchterlich wehtun konnte, was einem immer schon mal so fürchterlich wehgetan
hatte. Mir. Immerhin, jetzt
saß er dort, ein Häufchen Unglück, und ich merkte meine Rückenschmerzen nicht,
denn ich befand mich immer noch in gebückter Haltung. Ich zog ihm die Sachen
vom Leibe und fasste von tief unten nach oben, von wo ich mir den Brausekopf
her angelte. Das lauwarme Wasser floss rasch. Ich ließ es vom Scheitel bis hinunter
zu seinen Fußsohlen über ihn rieseln. Ich bemühte mich, nicht ins Duschbecken
zu schauen, wo sich eine völlig unappetitliche Brühe sammelte und allmählich im
Abfluss versickerte. Meine Rückenschmerzen, die ich während des Aufrichtens auf
ihre Schwere zu taxieren suchte, lenkten mich hinreichend ab. Und natürlich die
Frage: Wie weiter? Waschlappen,
Duschgel, Handtuch, noch ein Handtuch. Und die nächste Frage, die sich
unmissverständlich an ihn richtete: „Ist alles raus, oder musst du noch mal
reihern?“ Er schüttelte den Kopf, den ich gerade mit dem Handtuch abrubbelte. Ich
sandte in stiller Dankbarkeit ein verschwiegenes Stoßgebet in die Lüfte und schnappte
den nächst hängenden Bademantel. Ganz egal, dass das Stück eher der Henriette
als ihm zu gehören schien. Ein glockenförmiges Uraltgewand, das seinen Bauch
nur dürftig verhüllte und unter den Achseln klemmte. Ich hatte ihn in dieses
Stück gezwängt und nunmehr auf die Beine gebracht. Und ich achtete sorglich
darauf, dass er nicht umfiel oder sich setzte. „Komm!“, befahl ich und umfasste
stabilisierend seinen Rücken. „Ab ins Bett, die Henriette will nicht allein
bleiben.“ Er setzte sachte taumelnd Schritt vor Schritt, und als wir seine
Bettkante erreicht hatten, empfanden wir beide eine enorme Erleichterung, da er
sich fallen und von mir zudecken lassen konnte. Beide seufzten wir herzhaft,
und Jonathan schloss sofort die Augen. Blassgrün, so sah sein Gesicht aus. Ich
dachte, er wird ganz flugs schlafen, meinetwegen bis zum Mittag oder bis zum
nächsten Wochenende, und aller Kummer und vor allem das körperliche Leid werden
dann von ihm abfallen. Doch er schien meinen Fluchtversuch am zarten Luftzug,
der bei meinen geradezu schwebend gesetzten Schritten entstand, zu erahnen. Er
riss die Augen ganz weit auf. „Bitte, bleib noch und halte meine Hand!“, hauchte
er halbtot. „Falls ich sterbe.“ Ich hielt inne,
ich dachte, wenn du stirbst, dann steck bitte die Henriette nicht vorher an. Doch ich
erwiderte freundlich: „Ich hol dir ’nen Eimer. Für alle Fälle. OK?“ Und ich holte
den Eimer. Einfach weil man so sagte, wenn man den Eimer neben seinem Bett hat,
braucht man ihn sowieso nicht mehr.
Folge
24 vom 23. April. 2020
Es war
schon hell, als alles überstanden war. Als alle schliefen. Außer mir. Nein, doch nicht. Tineke war wach. Wieder oder noch? Sie
begrüßte mich mit riesig großen Augen. Sie streckte die Hand unter der Decke
hervor. „Ich freue mich, dass du dich so sehr um Jonathan kümmerst. Er ist
keineswegs so gesund, wie du das denkst. Allein seine überempfindlichen
Magenschleimhäute sind ein riesiges Problem. Wir haben es schon mit Schonkost
und allen möglichen Diäten versucht. Nichts hilft. Ganz eindeutig ist es
psychosomatisch.“ Sie richtete sich ein bisschen auf. „Hat er dir mal erzählt,
was da so in seiner Kindheit gelaufen ist? Von seinem Vater?“ Ich schüttelte desinteressiert den Kopf. „Wann sollten wir
dazu die Gelegenheit gehabt haben?“ Ich gähnte. Ich sagte gelangweilt ironisch:
„Ich vermute, er wollte unbedingt stricken lernen oder mit blonden Puppen spielen,
und sein Vater hat es ihm verboten. Nach dem Motto So was ist nichts für Jungs. Wenn du schon kein Fußballer oder Boxer
werden willst, dann spiel wenigstens Schach.“ Tineke stutzte: „Also hat er dir doch sein Herz
ausgeschüttet. Oder woher willst du das sonst wissen?“ Ich verneinte. Ich winkte ab. Ich erwiderte: „Es passt ganz
einfach. Und von Vätern muss mir eh keiner was erzählen.“ „Aber sein Vater war echt ein Problem. Jonathan konnte ihn
auf die Dauer nicht mehr ertragen. So komisch war der. Aber absichtlich. Weil
er wollte, dass ihn die Leute so wahrnehmen. Intelligent, unnahbar, witzig bis
albern.“ Sie hatte sich noch ein Stück weiter aufgerichtet. Es arbeitete in
ihr. Jonathans Probleme, seine postbelastende Psychokrise. Empört sah sie aus.
„Dieser Mann hat Jonathan tatsächlich immerzu gezwungen, Schach zu spielen.
Zuerst mit ihm, später in einem Schachverein. Er hat ihn regelrecht mit Schach
tyrannisiert. Jonathan sollte ein super Spieler werden. Weil die rauen
Sportarten für ihn nicht in Frage kamen. Und dazu pausenlos das pseudowitzige
Geschwafel. Willst du die Schwarzen? Oder
soll ich die Weißen nehmen? Jonathan hat darunter gelitten wie nur was.
Eigentlich hätte er heute gegen Schach und alle anderen Brettspiele allergisch
sein müssen. Zum Glück ist er’s nicht. Siehst ja, er spielt mit Begeisterung
Halma und solchen Quatsch. Trotzdem sitzen die Sprüche von seinem Vater tief in
ihm drin. Pferd als Schwert ist nie
verkehrt, schlägt den Bauer, der ist sauer. Ich sag dir, fürchterlich. Er
träumt davon, und selbst mir geht das Zeug mitunter im Kopf rum.“ Sie ließ sich
wieder zurückfallen. „Lebt sein Vater noch?“, fragte ich. Sie gähnte. Es schien, als sei nach ihrem Gefühlsausbruch das
Thema Jonathans Jugend für sie
abgeschlossen. Verwundert fragte sie zurück: „Warum sollte er nicht mehr leben?
Meinst du, Jonathan hat ihn umgebracht? Vielleicht mit dem Schachbrett
erschlagen?“ „Nein“, entgegnete ich. „Jonathan kann doch im Grunde keiner
Fliege was tun.“ „Na eben. Er hat seine Eltern verlassen. Das hat er getan.“ „Sind sie geschieden?“ „Nein.“ Sie sah mich immer noch mit ihren großen Augen an.
„Auf welche Gedanken du kommst. Warum sollten sie sich scheiden lassen? Die
Eltern haben eine harmonische Ehe geführt. Sie führen sie immer noch. Jonathans
Mutter hat diese Erziehungsmethoden geteilt. Sie stand voll dahinter.“ „Und das mit dem Schach?“
„Das mit dem Schach? Auch das hat sie mitgetragen. Oder was
meinst du mit dieser seltsamen Frage?“ „Dass sie ihm das aufgezwungen haben.“ „Ach, Erasmus.“ Sie seufzte schwer. „Was du alles wissen
möchtest. Na gut, ich sag’s dir. Jonathan war schwächlich, kränklich, dick. Er
hatte von Geburt an einen Herzfehler. Das hat ihn gefährdet. Es war also von
der Zielstellung her gut gemeint, dass er sich auf Schach konzentrieren musste.
Er sollte einen Lebensinhalt haben, Leistungen bringen, ohne körperliche
Anstrengungen zu erdulden. Das haben Vater und Mutter gemeinsam bezweckt. Und
doch ist es in übertriebene Fürsorge ausgeartet. Das Kind ist mit Liebe
erdrückt und zur Unselbständigkeit erzogen worden. Es wurde ihm dabei einfach
zu wenig Selbstbewusstsein vermittelt.“ „Und heute?“ „Heute. Ich sagte doch, heute spielt er noch Halma und
solches Zeug. Niemals jedoch Schach.“
„Ich meine, hat er heute noch Kontakt zu seinen Eltern?“ „Ach, Erasmus.“ Sie seufzte erneut. „Du nervst allmählich.“
Und sie wiederholte sich abermals. „Na gut, ich sag’s dir. Auch das: Er hält
sich seine Eltern auf Distanz. Sie dürfen ihn nicht besuchen, totales Verbot,
und er fährt nicht zu ihnen. Er nimmt auch kein Geld von ihnen. Hin und wieder
schreibt er einen kurzen Brief. Mehr nicht.“ Ich schwieg. Ein Herzfehler. Das konnte bedrohlich sein. Oder
auch nicht. Bei manchen Menschen wurde das hochgespielt. Damit man auf sie
Rücksicht nahm. Damit sie überhaupt beachtet wurden. Andere machten davon kein
Aufheben, und dann war es plötzlich mit ihnen vorbei, und alle bereuten, dass
man sie nicht ernst genommen hatte. „Manchmal rege ich mich zu sehr auf.“ Tineke wirkte
unzufrieden. Mit sich selbst. „Als hätte ich alles miterlebt. Dabei habe ich
meine eigenen Kindheitsprobleme gehabt. Na ja, man kann nichts mehr ungeschehen
machen. Man kann nur versuchen, alles hinter sich zu lassen. Man darf die
Fehler, die an einem selbst gemacht wurden, nachher nicht auf andere Menschen
übertragen. Beispielsweise auf die eigenen Kinder. Und Jonathan, den muss man
verstehen, man muss ihn akzeptieren, wie er ist, wie er akzeptiert werden
möchte. Damit hilft man ihm besten.“ „Und nett muss man zu ihm sein“, ergänzte ich. „Das bist du ja.“ Sie lächelte. Sie schloss die Augen. „Ich werde mich auf die Luftmatratze legen, damit du dich
besser erholen kannst“, beschloss ich. Tineke sah mich empört an, sie rückte etwa einen Zentimeter
zur Seite. „Wie kommst du jetzt bloß auf diesen Quatsch?! Dein Platz ist hier.
Oder erdrücke ich dich auch?“ Ich nahm das Angebot widerspruchslos an. Ich lag neben ihr
und hörte sie sagen: „Du tust mir echt gut, weißt du das?!“ Ich legte den Arm
um sie, und wir wurden eins. Ich war glücklich. „Und auf Jonathan brauchst du
überhaupt nicht eifersüchtig zu sein. Nicht mal neidisch. Glaub mal, wenn du
demnächst seine Geschichte komplett kennst, diesen schrecklichen Konflikt mit
seinem Vater, diese ganzen Sprüche wie Du
bist ein schlechter Nasenbär, das Näseln fällt dir nämlich schwer wirst du
ihn echt mögen. Noch viel mehr als jetzt jedenfalls.“ Jonathan, sein Vater, der Nasenbär, was für ein Thema – ich
gähnte erneut, diesmal heftig, ich merkte wie mich die Müdigkeit zu überrollen
begann, wie ein gewaltiger Felsbrocken. Und mit diesem Felsbrocken kam die
Erinnerung an meinen eigenen Konflikt. Mir fiel auf, dass ich seit Stunden
nicht daran gedacht hatte. Brücke sieben
am Autobahnabschnitt 52, Fernreisebahnhof. Ich lebte selbst, mich lebte
ich. Mit diesen Leuten um mich herum.
Mit Tineke und ihrem Panoptikum. Meinem Panoptikum. Sie küsste mich. „Gute Nacht, mein Lieber.“ Danach fühlte ich
ihre Wange immer noch dicht an meiner. „Gute Nacht oder Guten Morgen?“ In zwei oder drei Stunden
würde ich schon wieder aufstehen müssen. Wer sonst? Jonathan halbtot oder bis
dahin vielleicht gestorben, Tineke kränkelnd und übermüdet. Und Edward Erster
in Seide. Und auf einmal sah ich das Badezimmer vor mir. Es war, um es im
passenden Sprachstil auszudrücken, besudelt. Oder: vollgesaut. Ich bäumte mich
kurz auf, weil ich dachte, diesen Makel, den musst du noch beheben, niemand
außer dir wird es sonst tun. Niemand kann es. Nein, mein schwacher Wille und
der labile Vorsatz erstarben in Tinekes sanften Armen. Sie hielten mich mühelos.
Noch mehr war es ihr halbschlafend gehauchtes Geständnis: „Erasmus, bleib doch
bitte, ich liebe dich so sehr.“ War sie es, die das schlafend gesagt hatte,
oder war das ich, dem es aus einem vorfrühen Traum in die Ohren gesäuselt kam?
Ich bekam
nichts mit. Wir bekamen nichts mit. Tineke lag fest in meinen Armen, wir
schliefen. Um zehn wurden wir wach. Innerhalb von wenigen Sekunden waren die
Gedanken an die Aufgaben des Morgens da. „Frühstück! Die Henriette. Das Bad!“
Ich meinte zudem, Schritte zu hören, und ich erschrak gewaltig und richtete
mich unversehens auf. Tineke hielt mich bei den Schultern, sie wollte mich
beruhigen: „Keine Bange, das ist Dominique, sie hat noch den Haustürschlüssel.
Sie sieht nach der Henriette. Dass es mal nicht so gut aufgeräumt ist, damit
kann sie bequem umgehen.“ Ich starrte auf die Zimmertür: „Und Jonathan? Wenn sie ihn
nun dort liegen sieht, so blass und grün. Sie wird denken, hier hat eine
Schnaps-Orgie stattgefunden.“ Tineke blieb ruhig. Nein, sie kicherte sogar. „Dominique hat
wohl schon ganz was anderes gesehen als ein lebloses, grüngesichtiges Männchen,
das neben einer sprachgestörten Altoma liegt.“ Sie fasste meinen Kopf, und sie
drehte ihn so, dass ich zum Fenster blickte. „Sieh mal lieber nach draußen, wie
schön die Sonne scheint. Wer hatte also Recht mit der Wetterprognose?“ Ich war
verwirrt, musste sie über das Wetter reden, wenn es um wichtige Dinge ging?
„He, Erasmus!“, sagte sie besorgt, „geht’s dir gut nach dieser anstrengenden,
aber schönen Nacht?“ Ich musste erst nachdenken. Ging es mir gut, nach der
ungewöhnlichen Party und der anschließenden Kotz-Arie von Jonathan? Ja, es ging
mir gut. Oder hatte ich nicht kurz vor dem Einschlafen noch an Brücke sieben gedacht, Fernreisebahnhof der Hauptstadt, und
fühlte mich nun völlig daneben? Tineke wartete nicht auf meine Antwort. „Bleib noch liegen
und entspann dich, ich kümmere mich um alles.“ Sie kletterte über mich hinweg
und tapste in die Küche. „He, was ist denn hier los?“, hörte ich sie fragen.
Danach lachte sie. Es klang froh, entspannt. Und ungläubig. Jemand lachte
zurück. Jemand sagte etwas. Die Stimme, wem gehörte sie? Ich sprang von der Couch. Rein in die Küche. Unglaublich, da
saß Edward Erster mit der Henriette. Es war alles wie jeden Tag, nur ein oder
drei Stunden später. Und nicht ich oder Jonathan oder Tineke halfen der
Henriette beim Frühstück, sondern es war Edward Erster. „Was guckst du so, Erasmus?“, fragte er barsch. „Hast du mir
das nicht zugetraut, dass ich eurer Henriette die Häppchen zurechtschnippele
und ihr die leckerste Milchhaferflockensuppe koche, die man je an einem
Sonntagmorgen geschlürft hat?“ Er schob sich seine kostspielige
Designer-Brille, die er eigentlich gar nicht brauchte, da er sich von einem
noch kostspieligeren Augenspezialisten vor einigen Jahren schon die Augenlinsen
erstklassig hatte richten lassen und auch in sehr kurzen Abständen zur
Kontrolle ging, auf die Nase und sah mich herausfordernd und intelligenzbetont
an. „Stell dir vor, lieber Neffe, ich bin schon um acht aufgestanden und habe
vorhin sogar Dominique hereingelassen.“ Ich kratzte mich. Wo und wann war mir der Name Dominique
zuletzt untergekommen? Ach, vor zwei Minuten, aus dem Mund von Tineke. „Ja, Dominique. Wir haben zusammen einen Kaffee getrunken und
uns über dieses und jenes unterhalten, was die Altenpflege angeht.“ Er blickte
mich erhaben an. „Was aber nicht heißt, es würde mir nichts ausmachen,
demnächst selbst ein Pflegefall zu werden. Übrigens, die Person ist keineswegs
so übel, wie du behauptet hast.“ Ich behauptet habe? Tineke, die im Bad gewesen war, kam in die Küche zurück. „Du,
Erasmus, du hast gesagt, Jonathan hat da drin alles vollgekotzt. Es ist gar
nichts zu sehen.“ Sie wunderte sich. Ich wunderte mich ebenfalls. „Vielleicht
hat das Mannweib alles beseitigt“,
spekulierte ich. Oder gab es eine andere Erklärung? Welche? Edward Erster rückte sich die Brille zurecht. „Bitte
bezeichne Dominique nicht als Mannweib, das hat sie nicht verdient“, forderte
er leicht streng. „Und was den Zustand des Bades angeht, kann man die Kotz-Spuren natürlich nicht mehr finden.
Dank meiner zupackenden Initiative. Wie gesagt, ich bin um acht Uhr
aufgestanden. Ich dachte mir doch, dass hier einiges zu richten sein wird. Oder
meint ihr, ich hätte nicht mitbekommen, was sich vorher in der goldenen
Morgenstunde abgespielt hat und ich wäre mir zu schade, mal ein bisschen
Dreckarbeit zu leisten?“
Folge
25 vom 24. April. 2020
Die
Tatsachen rückten näher. Im Grunde waren es nur noch Stunden. Brücke sieben am Autobahnabschnitt 52,
Fernreisebahnhof Berlin. Nein, nicht die Verabredung als solche, war es,
die sich zunehmend in meine Gedanken drängte, sondern die Abreise. Tineke und
ich nach Berlin, danach ich in die Schweiz, und dann erst würde es so weit
sein. Der Treffpunkt, der Termin. Das Wiedersehen. Ich spürte auf einmal, wie das Bevorstehende auf mir
lastete. Es ließ sich nicht mehr verdrängen und nicht überspielen. Und ließ es
sich denn überhaupt bewältigen? Auf jeden Fall: Ich musste etwas tun. Jetzt. Die Story, die ich am Tag zuvor begonnen hatte, fiel mir
ein. Nein, sie drängte sich mir auf. Es war wie ein Zwang, dass ich sie fertig
schreiben musste. Die Geschichte jenes jungen Mannes, der seinen Vater in nur
großen zeitlichen Abständen sehen und nicht über die Begegnungen mit ihm reden
darf. Ich wollte den Text noch vor der Abfahrt nach Berlin fertig haben. Ich
wollte Tineke das Manuskript geben, bevor wir uns in Berlin trennten. Sie
sollte es lesen. Ich hatte jetzt die Idee für einen plausiblen Schluss.
Genauer: Ich wusste eine Lösung: Ich baute die Idee mit der Klinik, in der sich
der Vater des jungen Mannes aufhalten sollte, weiter aus. Aus der Idee ging
zugleich die Ursache der großen Heimlichtuerei hervor. Der Vater des jungen
Mannes lebte demnach in einem Sanatorium für Nervenkrankheiten. Ganz freiwillig
war er dort, und er hätte den Aufenthalt jederzeit beenden können. Doch er
wollte nicht.
War das glaubhaft, war das gut? Ich verließ den Küchentisch mit einer dürftigen
Entschuldigung und verzog mich ins Wohnzimmer. Ich setzte mich vor meinen
Laptop, um zu schreiben, und ich achtete nicht auf die fragenden Blicke von
Edward Erster und der Henriette. Ich überging auch Tinekes Bemerkung „Sehr
kommunikativ bist du heute ja nicht gerade, ich hatte eigentlich gemeint, wir
machen einen Spaziergang auf dem Deich. Bei dem schönen Wetter wäre das nahe
liegend.“ Ich sah mich auf einmal vor der Tastatur sitzen und schreiben, wobei
sich die Finger wie von selbst bewegten und auf dem Bildschirm Zeile um Zeile
ihre Bahn zog. Die Welt um mich herum versank in einem Nichts. Sicher, Edward
bemerkte etwas spitz: „Das hat er von seinem Vater, dieses sporadisch Sture,
sich urplötzlich abzukapseln, sich in eine Sache zu verbeißen und sich quasi
soweit wegzumeditieren, dass nur mehr seine körperliche Hülle anwesend bleibt.
Bis eines Tages auch noch die besagte Hülle auf Nimmerwiedersehen verschwunden
ist.“ Er jedoch suchte sich von meiner angeblichen Eigenbrötlerei abzuheben und
setzte seine wohlinszenierten Selbst-Integrations-Attacken auf unser allseits
sozial geprägtes Familienpanoptikum fort. Er brachte zunächst genau jene zwei
Kisten zur Papiermülltonne, in denen Jonathan ihm seine Briefe und sonstigen
Postsendungen aus Berlin angeschleppt hatte. Er entleerte die Kisten
ostentativ, auf dass wir alle sahen: Er trennte sich von diesem Schriftkram. Er
untermauerte es ja mit der passenden Bekundung: „Tatsächlich war kein einziger
Wisch dabei, der mich interessieren könnte.“ Prompt verschwand er danach hinter
dem Küstenhaus und fuhr alsbald mit dem Silverhawk vor. „Na, gnädige Frau“,
hofierte er Tineke, „darf ich Sie zu einer Ausfahrt einladen?“ Es war das erste Mal seit seiner Ankunft an der Küste,
dass er sein Lieblingsspielzeug in Betrieb nahm. Was sagte mir das? Es sagte
mir, die Zeit der selbstverordneten Abkapselung war nun vorüber. Keine Angst
mehr vor einer gewissen Hanni und deren Ansinnen. Da saß ich dann – ich hatte den Schreibplatz gewechselt –
draußen im Garten, auf der von Unkraut verwucherten Terrasse, wo ich zwischen
habgierigen Spinnen und hemmungslos agilen Ameisen, ohne es eigentlich zu
bemerken, die von Tineke vorausgesagten Sonnenstrahlen genoss. Neben mir die
Henriette, die mal blinzelte und mal schläferte und mich in einer Mischung von
Respekt und Neugierde ein bisschen weltwunderhaft beäugte. Hinter dem
geöffneten Fenster Jonathan, stumm und starr, leidend und magernd und
magenleer, ein grüngesichtiges Opfer seiner Buttercreme-Gier, dennoch auch das
glückliche Objekt einer, nämlich meiner äußerst selbstlosen nächtlichen
Hilfsbereitschaft. Ich schrieb wie entfesselt, meine Gedanken schütteten die
Worte, Sätze und Passagen nur so hervor, und irgendwelche Drüsen befeuerten
mich pausenlos mit unbekannten, dennoch hochprozentigen Besessenheitshormonen.
Ein Automatismus, vielleicht ein Fanatismus, sicherlich auch eine Befreiung aus
der Umklammerung der ewig währenden Schweigepflicht. Oder das Ventil meiner
eingequetschten Gefühle, aus dem mit Überdruck Weisheiten entströmten, die auch
angesichts dieser Schreiborgie gar nicht viel mit meinen Wahrheiten zu tun
hatten, die dafür umso wahrer, vor allem erklärend, befreiend scheinen wollten. Obwohl ich mich selbst im Zustand des Entrücktseins
befand, begriff ich, was das hieß, entrückt zu sein und hier ganze
Gedankenketten in einen flüssigen Text umzusetzen. Ich begriff den Unterschied
zu jenen Tagen, da ich an meinen Storys gewerkelt oder sie gar geschmiedet
hatte, da ich Handlungen konstruierte. Nun flog mir alles zu, ich musste nur
zusehen, dass ich es auffangen konnte. Und dass mich niemand ablenkte oder
unterbrach.
Ich
hatte Glück, die Ruhe reichte bis zum letzten Gedankenzug. Bis zu der
Entscheidung des Sohnes, das Schicksal seines Vaters endlich nicht mehr zu
verschweigen. Er weiht die Freundin in sein Geheimnis ein. Hätte ich noch mehr schreiben sollen? Schreiben nicht,
doch es hätte sich gehört, das Geschriebene in Ruhe zu überlesen. Zu
korrigieren. Das Nachdenken über die Frage und die Antwort erübrigte
sich. Es wurde turbulent. Zunächst fuhr ein Auto vor, das ich durchaus schon
gesehen hatte. Mir fehlte die Zuordnung. Bis ich sah, wer da ausstieg. Es war
Clements. Nein. Doch. Oder? Ja, es war Clements, aber er wurde ausgestiegen. Irgendwas war mit ihm, mit seinem Körper. Er
lief steif wie ein Stock, neben ihm eine weibliche Person, die ihn am Arm
festhielt. Seine Gattin?
„Rückenschmerzen?“, fragte ich höflich teilnahmsvoll, als
er den Weg bis zu unserer Terrasse endlich bewältigt hatte. Ich dachte an meine
eigenen Beschwerden. Der Kraftakt an diesem Morgen, der nicht nur ein
körperlicher gewesen war. Clements nickte, und sein Gesicht zerfiel in zahllose
optisch wahrnehmbare Schmerzbekenntnisse. „Hab beim Heumachen zu weit mit der
Gabel ausgeholt.“ Ich nickte zustimmend, hatte jedoch keine auch nur annähernde
Ahnung, wie sich sein Missgeschick im Einzelnen zugetragen haben sollte. Seine
Begleiterin, die irgendwie grimmig wirkte, schalt ihn ergänzend. „Einige Sachen
wirst du ja bis an dein Lebensende nicht gelernt haben. Nicht nur einige. “ Er
duckte sich ein gutes Stück von der Begleiterin weg, was wegen des steifen
Rückens clownhaft wirkte. „Unser Vater hat schon immer gesagt, dass du
bestimmte Sachen in deinem ganzen Leben nicht lernen wirst?“ Unser Vater?
„Gegen so was sollen große Pflaster ganz gut helfen. Es
gibt sie in jeder Apotheke. Heute wäre das beim Notdienst.“ Ich nahm an, er sei
gekommen, damit ihm jemand erklärte, wo sich die nächste Apotheke befände.
Eine, die Sonntagsdienst hatte. Ansonsten wusste ich keinen Grund, warum er –
und sie, die vielleicht eher seine Schwester als seine Gattin sein mochte –
sich ausgerechnet unser Küstenhäuschen als potenzielle medizinische Hilfsstätte
auserkoren haben sollten. Er antwortete in seiner demütig freundlichen Art: „Danke,
Jerominus. Pflaster helfen bei mir schon lange nicht mehr. Hab es oft genug
damit probiert. Völlig vergeblich. Rückenschmerzen sind ja nicht nur auf
körperliche Aktivitäten zurückzuführen. Oft haben sie einen psychosoldatischen
Hintergrund.“ Auch jetzt zog ihm die Begleiterin einen rhetorischen
Peitschenhieb drüber: „Dieser neumodische Quatsch. Dieses Psycho-Dingsda-Zeug.
Du bist ein ungeschickter Mensch, Clements. Daher kommen die Schmerzen. Und
wenn du diese Pflaster einfach mal lange genug drauf lassen würdest, wäre es
auch gut. Aber stattdessen jammerst du, dass sie dich zwacken und du sie nicht
aushalten kannst.“ Ich unternahm angesichts dieser Maßregelung gar nicht
erst den Versuch, dem armen Clements nun auch noch seine Namensirrtümer
aufzuzählen. Dass ich kein Jerominus und nicht mal ein Jeronimus war. Von jenen
psychosoldatischen Symptomen ganz zu
schweigen. Er tat seine Buße ja hinlänglich im Angesicht der Dame an seiner Seite.
Egal ob dieselbe seine Schwester oder seine Ehefrau war. Vielmehr blieb für
mich offen, was will er, wenn er sich nicht nach einer Apotheke erkundigt. Die Begleiterin sagte es: „Tineke soll ihm helfen. Sie
ist die Einzige, die das kann.“ Tineke? Ich staunte. Spritze, Hand auflegen oder das
Leiden besprechen? Allerdings war Tineke nicht da. Ich erklärte es ihm, ihr,
was jedoch beiden nichts machte. Beide nahmen auf der Bank neben der Henriette,
für die sie sogar eine weitere angenehme Abwechslung sein mochten, Platz. Sie
schwiegen erst mal, dennoch sahen sie erwartungsvoll auf mich. Ich hingegen sah
auf den Monitor des Laptops. Es hätte von der Zeit her vielleicht gut gepasst,
den vordem verfassten Text jetzt zu lesen und diese und jene Stelle zu korrigieren.
So jedoch, als Objekt dieser intensiv stummen Begaffung, brachte ich das nicht
fertig. Ich schaltete den Apparat aus. Da die beiden weiter schwiegen, sagte
ich schwerfällig: „So Computer, die man mit sich rumschleppen kann, das ist
toll.“ Clements nickte jetzt, und ganz sicher hätte er gern einen kleinen, wenn
auch belanglosen Redebeitrag geleistet, wäre da nicht diese Frau mit ihrer
einschüchternden Autorität dabei gewesen. Wenigstens bemühte sich die Henriette um Kommunikation.
„Er sitzt schon den ganzen Vormittag vor seinem Schach. Er harkt alle Beete.“
Auch das wurde mit keiner Antwort gewürdigt. Stattdessen fragte Clements’
Begleiterin: „Sind Sie Tinekes Freund?“ Ich bejahte mit sehr gutem Gewissen, wenngleich im selben
Moment Jonathan im offenen Fenster auftauchte. Seine Haut war immer noch
wachsfarben grünlich. Nicht nur im Gesicht, sondern der Körper bis hin zur
Gürtellinie, denn diese Partie füllte in unbekleidetem Zustand den
Fensterrahmen. Hatte ihn die Neugierde hochgetrieben? Wenn ja, so hielt sie ihn
nicht lange auf den Beinen. Er taumelte weiter, die Toilettenspülung und später
das Ächzen der Bettfedern verrieten seine Route, sein Schicksal. „Wer war das denn?“, fragte Clements’ Begleiterin, wobei
sie sämtliche benutzten vier Vokale mit Staunen dehnte. Ich nutzte die Frage
als so genannte Retourkutsche und schwieg nun meinerseits. Da war es wieder der
Henriette vorbehalten, sich als kommunikatives Bindeglied zu betätigen. „Ein
Detektiv isser. Matula.“ Ich stieß einen Lacher hervor, es ließ sich irgendwie
nicht unterdrücken. „Detektiv? Und dann so nackich?“ Ich musste die Frage nicht beantworten. Es stellten sich
andere Prioritäten ein. Tineke und Edward fuhren vor. Sie entstiegen dem
Silverhawk, Tineke hatte das Auto gesteuert; war es deswegen, dass ich Edward
Erster mit einer derart positiven Aura erlebte, wie ich sie an ihm während
unseres gemeinsamen Aufenthalts im Küstenhaus der Henriette noch nicht
festgestellt hatte? Edward lachte, strahlte. Und Tineke lachte ebenfalls. Sie
übergab Edward den Startchip des Hawk. Sie zwinkerte mir zu und deutete
unauffällig auf Edward. Sie schien sehr angetan. Von dem Ausflug, von meinem
Onkel. Er hatte sich ihr gegenüber ganz sicher von seiner besten Seite gezeigt.
Damit hatte er gewiss kein Problem gehabt. Und wahrscheinlich hatten sie auch
etwas Interessantes unternommen. Etwas Richtungweisendes sogar? Als Tinekes Blick dann auf Clements fiel, schrumpften
Lachen und Laune sichtlich. „Na, was plagt uns denn heute?“ Ehe Clements sein Leiden auch nur andeuten konnte, hatte
die Frau Wort und Initiative ergriffen. Sie schilderte das, was ihren Clements
betraf, und dieser schaute in seiner demütigen Art auf Tineke. Hilfe suchend
und von Peinlichkeit berührt. Und wohl auch auf der Suche nach ein bisschen
Trost. „Also der Rücken“, sagte Tineke. Sie brach nach nur
wenigen Sätzen recht barsch in das Palaver hinein. „Seit wann?“ Wieder kam Clements nicht zu Wort. „Es muss Mitte der
Woche passiert sein, da hat er das Heu auf der kleinen Wiese gemacht.“ „Aha“, erwiderte Tineke, absichtlich schnippisch.
„Wolltest wohl die Praxisgebühr sparen, weil du mit Clements nicht zu euerem
Hausarzt gegangen bist?“ Clements’ Begleiterin sperrte den Mund auf, eine
Rechtfertigung ließ Tineke gar nicht erst zu. „So, du hältst jetzt mal zehn
Minuten die Luft an, Ella!“, befahl sie. „Ansonsten kann es sein, dass ich dir
deinen Bruder so steif wie er ist wieder mit nach Hause schicke und du dein Heu
in der nächsten Woche selber zusammenrechen musst. Auf der großen Wiese nebenan.“
Das klang jetzt so resolut, auf dass sich die anderen Anwesenden sowieso an das
Schweige-Gebot hielten, wobei sich Edward Erster eines anerkennenden Nickens
nicht enthielt und die Henriette über alle Maßen stolz aussah. Und ich sowieso.
Wo ich endlich Klarheit hatte: Clements und Ella waren Bruder und Schwester. Ab sofort wurden wir Zeuginnen und Zeugen einer absolut
professionellen Heilbehandlung. „Wo genau befindet sich das Schmerzzentrum,
wohin strahlen die Stiche, tut es immer an derselben Stelle weh, hört es
zwischendurch mal auf?“ Clements schaute erst zu Schwester Ella, ehe er begriff,
dass er fortan selbst antworten durfte, sollte, musste. Er tat es, indem er
nach Tinekes Aufforderung sein dickes kariertes Hemd aufrollte und anschließend
mit der nicht minder dicken, wenn auch nicht karierten Unterwäsche ebenso
verfuhr, worauf Tineke kräftig gegen einige Körperregionen drückte und Clements
gleich mehrmals äußerst unmännlich jammerte. Ja, dachte ich, es wird nicht lange dauern, bis Jonathan,
egal wie übel sich fühlend, gleich wieder im Fenster erscheint. Und ich dachte,
dass Edward Erster dachte, wie alt und wie bewegungsgemindert er dereinst
werden sollte, aber er wird niemals eine solch robuste Unterwäsche an seinen
Körper lassen und er wird sich auch, geschehe was wolle, nicht für eine
Schaubehandlung unter freiem Himmel hergeben. Egal ob sonniger Sommertag oder
nicht. Dafür war er schließlich ein echter Erster, ein promovierter zudem. Und
dafür hatte ich eigentlich auch ein enormes Verständnis. Nicht zuletzt, weil
ich genauso dachte und fühlte. „So!“, entschied Tineke nach ganz kurzer Zeit, „dann
wollen wir dich mal von deinen Leiden erlösen.“ Sie manövrierte Clements auf
einen Hocker, stellte sich hinter ihn und rückte an ihm herum, bis er passend
vor ihr saß. „Mach dich mal locker und sitz nicht da wie ein Igel!“, befahl sie
unmissverständlich. Sie verschränkte die Arme auf kunstvoll unergründliche
Weise und packte Clements’ Kopf wie mit Zangen, sie hob und drehte daran, auf
dass es knirschte und knackte, zog und bog an Schultern und Armen und hob sogar
den ganzen Kerl, der allein wegen seiner dicken Wäsche ein ordentliches Gewicht
auf die Waage gebracht hätte, mit Leichtigkeit in die Luft und ließ ihn wieder
runterplumpsen. Wie lange hatte das gedauert? Wie kurz? Nicht mal eine
halbe Minute. Noch weniger? Oder mehr? „So!“, sie entschied wieder: „Steh mal jetzt auf und
steck dein Hemd rein.“ Sie lächelte erwartungs- und geheimnisvoll. Er gehorchte
zögernd. „Jetzt bückst du dich mal. Jetzt richtest du dich wieder auf. Jetzt
läufst du drei Schritte. Jetzt lässt du mal deinen Kopf kreisen. Kniebeuge,
seitliche Beuge, Rumpf mal vorbeugen. Rumpf zurück. Mal Arme hoch, mal Arme zur
Seite. Und jetzt siehst du mich mal an!“ Sie stoppte ihn, indem sie ihm die
flache Hand vor die Brust hielt. „Noch Schmerzen?“ Er zögerte mit der Antwort. Er checkte mit den Gedanken
die Regionen seines Körpers durch, bewegte sich vorsichtig. Bis er es endlich
begriff: „Nein, alles weg.“ Dabei schaute er zu Tineke, danach zu Ella.
„Unglaublich.“ Wir klatschten Beifall. „Großartig, wie du das geschafft hast, Tineke. Als
könntest du Wunder vollbringen.“ Diese Bestätigung kam durch das offene
Fenster. „Matula“, sagte die Henriette. Nein, Jonathan, immer noch blassgrün. Immerhin nun
wenigstens mit einem Shirt bekleidet.
„Und?“, fragte Tineke. „Noch ein Stück Buttercremetorte
gefällig, der Herr?“
Er stöhnte. „Diese Lehre reicht mir.“ Er verschwand.
Folge
26 vom 25. April. 2020
Für uns
wurde es ebenfalls Zeit zum Verschwinden. Tineke, ich. Berlin. Und weiter.
Fernreisebahnhof. Autobahnbrücke. Mein Vater. Doch man weiß: Vor dem Verschwinden kommt der Abschied. Rührselig
und mit vielen großen Gesten. Ausgenommen Clements‘ Schwester Ella. Wenigstens versicherte Ella mir, ich würde eine wunderbare
Frau ehelichen. Wann? Und ich könnte dem Herrgott auf Knien danken, für diese gute
Partie. Ella schwor es. Und sie selbst? Wie stand es mit einem gegenständlichen
Dankeschön für die spektakuläre medizinische Behandlung ihres Bruders?
Finanziell, materiell. Jonathan, auf wackligen Beinen nun bei uns auf der Terrasse
stehend, und Edward Erster bekräftigten meine Mahnung gut hörbar. Unvergütete
Heilbehandlungen hätten nicht lange Bestand. Eine simple Weisheit. Die Symptome
kämen mit doppelter und dreifacher Wirkung zurück. Bald schon.
Na, Ärzte verdienten doch wohl genug. Rechtsanwälte, Manager,
Zeitungsschreiber und all diese klugen, guten Leute. Ella wusste es aus
gewissen Zeitungen und diversen Fernsehserien. Und Eierverkäufer? Was wusste man über deren unauffällig
erzieltes Einkommen? Schweigen. Nur die Henriette ließ nicht locker und murmelte Zustimmung:
Ihre Tineke. Klug, gutmütig. Aber nicht reich. Im Gegensatz zu Clements. Tineke, auf die sich die Blicke wieder richteten, mischte
sich nicht ein. Sie verkrümelte sich ins Haus. „Muss rasch meine Sachen
zusammenschmeißen. Übrigens!“, und das war jetzt nur für mich, „eins wollte ich
denn doch noch loswerden: Ella sagt, du würdest eine wunderbare Frau kriegen. Irgendwas
von Ehe, das hat sie gesagt. Das möchtest du mir bitte schön nachher im Auto
genauer erklären. Ob ich damit gemeint bin. Oder eine andere.“ Sie kicherte,
und das klang irgendwie sehr viel versprechend.
Nie zuvor
bin ich so intensiv verabschiedet worden wie an diesem Nachmittag. So herzlich,
so ehrlich traurig und zugleich froh. Selbst Edward Erster standen dicke Tränen
in den Augen. „Grüß bitte alle, die mich kennen.“ Er meinte seinen Bruder. Ich ließ ihn abblitzen. „Deine Haushälterin grüße ich gern.“ Die Henriette heulte richtig. „Ich hab so ein Gefühl, du
kommst nicht wieder, Junge.“ Für diesmal hatte sie ihre Sprach-Aphasie
überlistet. Ich lächelte und war gerührt. Und ich empfahl, ich sollte öfter mal
auf Reisen gehen. Wegen ihres Sprecherfolges. Womöglich hätte auch ich geheult. Ganz prompt. So richtig hemmungslos.
Eine Memme, ein Weichei. Zumindest ein sentimentaler Anti-Yuppie. Ich. Der wahre
Erasmus. Ohne Jonathan vielleicht. Da er mir aber wieder um den Hals fiel,
ernüchterten meine Sensoren. Oder erstumpften und erstickten sie sogar? Irgendwas in dieser Art. „Für mich bist du der Größte. Nicht
nur als Schriftsteller. So einen wie dich habe ich mir immer als Vater
gewünscht. Und als Freund sowieso.“ Ich brachte etwas Distanz zwischen meinen Körper und den
seinen. Zwischen unsere Ansichten. Und unsere Draufsichten. Luft, denn
Argumente passten nicht dazwischen. „Pass gut auf deine Hamster auf. Sie
gehören ja jetzt dir. Gib ihnen nicht zuviel Torte. Zumindest keine mit
Buttercreme.“ Er wollte sich mir wieder nähern. Da schob sich Clements
zwischen uns. Er war geblieben, während Ella den Heimweg eingeschlagen hatte. Sie
war gefahren, um wiederzukommen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass zum
Abendbrot zwei Esser weniger da sein würden, wollte sie die Behandlung ihres Bruders
durch einen Imbiss abgelten. Eier, Schinken und eigen gebackenes Brot.
Immerhin: kein Heu. Nun also doch. Schlechtes Gewissen oder Raffinesse?
Vielleicht Bauernschläue. „Mach’s gut, Jerominus. Freund.“ Dieses Vokabular. Ich war verdattert. Womit hatte ich diese
ebenfalls ganz neue Freundschaft verdient? Ich seufzte so sehr, auf dass der
nächste Küstensturm eine flache Brise dagegen sein würde. Ich sehnte mich auf
den Beifahrersitz des Autos, wo ich für eine Minute oder eine Stunde die Augen
schließen und die Stille des Nachmittags und Tinekes Nähe genießen würde. Wo
ich ihr nach dieser Minute oder Stunde ganz herrliche Dinge sagen würde.
Erklärungen in Sachen Ehe, Liebe und wunderbare Frau. Wo ich diese Erklärungen
auch von ihr zu hören bekommen sollte, wollte.
Und
so geht es, wenn Sie mögen (oder du magst),
voraussichtlich
mit Kap. 27 am 26. April 2020 weiter:
Liebe
Leserinnen und Leser,
bitte
öffnen Sie für das nächste Kapitel die Rubrik 003-firstminute-Lese-Community.
Es
beginnt Teil III und nun wird es erst (unglaublich) spannend.
Und immer noch gilt:
Weiterverbreitung (unbedingt) erwünscht.