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Die nachfolgende kostenlose
Fortsetzungsreihe erfolgt aus dem Roman

SEIN ERSTES BUCH
von Alexander Richter-Kariger

erschienen 2011 im
firstminute Taschenbuchverlag
540 Seiten
© alle Rechte beim Verlag

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III. Teil

Das   N e i n


Folge 27 vom 26. April. 2020 

„Bitte geht vorsichtig mit meinem Auto um.“ Jonathan hatte uns diese Bitte noch nachgerufen.
 Wir fuhren schon, wir hörten ihn aber noch, weil die Scheiben heruntergekurbelt waren.
 Tineke saß hinter dem Lenkrad. Sie schimpfte, und sie hielt es mit festen, fast verkrampften Händen. „Diese alte Karre. Wenn ich mich recht entsinne, hat Jonathan sie noch aus dem vorigen Leben behalten. Sie hat seiner Schwester gehört. Wahrscheinlich ist sie sogar noch auf ihren Namen zugelassen.“ Sie sah mich an. „Hast du das eben auch gehört? Der Motor heult so komisch.“
 „Kam mir eher wie eine Windböe vor.“ Sie blickte nach vorn. „Ja gut. Hauptsache wir kommen an. Und es ist ja auch ein gutes Zeichen, wenn dein Onkel seinen Protz-Schlitten wieder selbst benutzen will. Das bedeutet, dass sein albernes Versteckspiel ein Ende hat.“ Sie lächelte. „Aber ein tolles Gefährt ist dieser Hawk schon, oder?“
 „Dass du damit fahren durftest, kannst du dir hoch anrechnen.“
 Sie winkte ab. „Auto fahren bedeutet mir nicht viel. Ich habe mich deinem Onkel zuliebe hinter das Lenkrad gesetzt. Es hat ihn insgesamt glücklich gemacht. Der Ausflug, unsere Gespräche, die Besichtigungen. Er wünscht sich so was.“
 Besichtigungen? „Ausflüge, bei denen er sich Immobilien ansehen und mit jemandem darüber sprechen kann. Ich glaube, er hat sich in den letzten Wochen sehr intensiv damit befasst.“
 Hilfe, dachte ich und erinnerte mich an die Mappe mit den Unterlagen des Immobilienbüros. Das neue Projekt, die vier E. Edward Erasmus Erster Ehrlines. „Warum macht er sich nicht einfach einen schönen Tag und geht shoppen und gut essen?“, sagte ich. „Er hat doch alles im Leben erreicht. Plötzlich fängt er wieder an zu schuften, zu organisieren.“
 „Shoppen und Essen erledigt er nebenbei. Aber er muss ein Ziel vor Augen haben.“ Sie bedachte mich mit einem Seitenblick. „Einmal Unternehmer, immer Unternehmer. So einer ist das, dein Edward. Ich glaube, du weißt das selbst.“
 Ja, ich wusste es. Andererseits wusste ich wiederum nichts. Ich fragte daher: „Hat er dir verraten, was er vorhat? Wenigstens andeutungsweise?“
 Sie sah jetzt länger zu mir herüber. „Er möchte noch mal etwas ins Leben rufen. Er möchte etwas schaffen, um es weiterzugeben. Bei dir hat er ja kein Glück gehabt. Du wolltest weder ein Schokoladenimperium noch seine gesammelten Aktienpakete. Aber nun bin ich ja da. Ich bin nicht nur in dein Leben getreten. In seines auch. Das tut ihm unglaublich gut. Er fühlt sich als Familienoberhaupt. Er mag mich. Für dich. Und somit für sich. Und auch sonst. Er hat gefragt, ob ich mir nach dem Facharzt-Abschluss eine eigene Praxis vorstellen könne. Vielleicht was Größeres. Was Modernes.“
 Um ein Haar wäre mir diese unheimliche, aber mich bedrängende Frage herausgerutscht: Und der Flugplatz, die Fluggesellschaft mit den vier E? Nein, es bedurfte keiner Auskunft. Da er Tineke davon nichts erzählt, nicht mal eine Andeutung gemacht hatte, konnte ich seine Ankündigung als Fehlmeldung, als Scherz abbuchen. Zum Glück. Oder? Edward Erasmus Erster Ehrlines. War das nicht auch göttlich?
 Aber was hatte er vor? Etwas Größeres? Modernes? Eine Klinik, ein Sanatorium, eine Poliklinik? Oder eine Klinik für Schönheitschirurgie? Ich fächelte mir Luft zu, auch wenn mir wegen der defekten Heizungsanlage nicht heiß war.
 Tineke hatte ganz helle Augen bekommen. Oder sagte man leuchtend, strahlend? Edward Erster hatte sie geködert, eingewickelt. Vereinnahmt. Es schien ja wohl nicht schwer gewesen zu sein. Für einen charmanten, vor allem betuchten Zeitgenossen wie ihn ohnehin nicht.
 Ich schwieg. Wie oft hatte Edward das bei mir versucht. Pläne, Angebote. Seit mein Vater nicht mehr da war, ununterbrochen. Ich hätte der „Eskimo-Boss“ des gesamten Erdballs, nicht bloß unseres Landes oder des Kontinents, werden können. Oder der Oberhirte einer anderen weltumspannenden Produktkette. Mir hätte es als geheimem Finanzbonzen obliegen sollen, allerlei riskante Börsenabläufe zu manipulieren. Aktien, Fonds. Crashs, Selbstmorde. Überall hätte man hinter vorgehaltener Hand geraunt: „Da steckt nur einer dahinter: der Neffe vom großen Eskimo-König. Der Ziehsohn.“ Ja, tatsächlich, all das wäre möglich gewesen. Nicht nur in Edward Ersters Phantasien und in meinen Vorstellungen. In der Realität. Er hätte es gemanagt und finanziert. Doch ich habe mich fast wütend dagegen verwahrt. „Es soll mein Leben werden.“ Das habe ich ihm immer wieder geantwortet, immer wieder demonstriert. Er hatte trotzdem nicht aufgegeben.
 „Kannst du mir nicht den Gefallen tun und ab sofort dieses Monster von Klapper-Auto fahren?“ Tineke hob kurz die Hände vom Lenkrad. „Mich macht das Geratter und Geheule wahnsinnig. Und was man beim Lenken und Bremsen für eine Kraft aufbringen muss. Ich staune, dass Jonathan das immer so aushält.“ Sie lenkte das Auto kurz vor Erreichen der Autobahn in eine Haltestellennische für Busse. Ich wollte aussteigen und zur Fahrertür gehen. Sie hielt mich noch fest. „Erasmus, ich werde von deinem Onkel nichts annehmen, ohne dass du zugestimmt hast. Überhaupt werde ich nichts tun, ohne dich zu fragen. Höchstens heiraten. Dich ich. Mich du.“ Sie nahm meinen Kopf in beide Hände und küsste mich. Danach sahen wir uns in die Augen. Ziemlich tief. Ich lachte.
 „Warum lachst du? Fandest du das jetzt lächerlich?“ „Ich denke an Clements. Du hast ihn mit eben diesem Griff kuriert. Was für Kraft du hast. Kleine Medizinfrau. Kein Mensch kann dir das ohne Weiteres ansehen.“ „Die Technik ist wichtiger als die Kraft. Die Geschicklichkeit. Wenn du falsch zupackst, kann der Patient Pech haben und ist hin. Du musst schnell und entschlossen arbeiten. Und natürlich: Ohne ausreichende Übung könnte es dein letzter Heilversuch gewesen sein. Und der des Patienten.“
 Wir stiegen aus und gingen vorn um das Auto herum. Tineke kam von der Fahrerseite, ich von der anderen. Vor der Motorhaube trafen wir zusammen. Wir blieben stehen und küssten uns erneut. Diesmal lange und heftig. Sehr verliebt. Aus Autos, die vorbeifuhren, wurde uns zugehupt. Es störte nicht. Es war im Gegenteil schön, stimmungsvoll.
 Als wir fuhren, sagte Tineke: „Erinnerst du dich an den allerschönsten Morgen unseres Lebens? Im Wald, als nur ein scheues Reh, das uns Glück wünschen sollte, gefehlt hat?“
 Ich erinnerte mich. Die Lichtung. „Es war jetzt wieder so schön. Vor der Motorhaube unseres Klapper-Autos. Alle Vorbeifahrenden haben uns Glück gewünscht. Sie haben gehupt. Obwohl es nicht so lange gedauert hat wie an jenem Morgen.“ Ich stimmte zu. „Der schönste Nachmittags unseres Lebens. Im Zeitraffer allerdings.“
 „Und ein Reh hat ebenfalls gefehlt. Immer fehlen Rehe. Ich halte das demnächst nicht mehr aus. Und du?“
 Ich nickte. Auch ich würde es bald nicht mehr aushalten. Aber nicht, weil die Rehe fehlten. Es gab andere Gründe. Sie lagen wenige Tage voraus. Fast nur noch Stunden.
 Wir lachten, und ich musste das Lenkrad noch fester packen als Tineke vor ein paar Minuten, weil in der Straße mehrere hinterhältige Buckel lauerten.
 „Andererseits bringt es Glück, wenn nicht dauernd Rehe kommen. Und es ist ganz nützlich. Ohne sie. Rehe können störend sein.“
 Wirklich?
 „Rehe wirken so romantisch. Und so treu. Zu romantisch. Und zu treu. Das ist das Problem mit ihnen. Allein ihre Augen sind der Hingucker. Sie haben diesen treuromantischen Rehblick. Vielleicht hast du jemals davon gehört?“
 Ich nickte. „Rehblick? O, doch. Sehr oft sogar. Mindestens jede Woche. In der Rubrik ‚Rehe blicken uns in die Augen’. Sie lief jeden Sonntagnachmittag im Radio.“ „Rehe nehmen das Treuromantische für sich in Anspruch, sie decken das irgendwie voll ab. Dann bleibt für die Liebespaare kaum was übrig. Was Romantisches.“
 Das hörte sich logisch an. Rehe waren tatsächlich Wesen, bei deren Anblick die meisten Menschen in eine gewisse Verzückung gerieten. Wenn man sie vom Auto oder während einer Bahnfahrt vom Zugfenster aus sah. Auf Wiesen, Feldern, in Gärten oder am Waldrand. „Guckt mal! Habt ihr das auch gesehen? Rehe.“ 

Folge 28 vom 27. April. 2020  

Nun zogen die Wiesen, Felder, Bäume und ein paar Bauernhöfe auch ohne Rehe an uns vorbei. Wir an ihnen. Nur Kühe und Schafe sahen wir. Wir fuhren längst auf der Autobahn, die Landschaft der Tiefebene strotzte zu beiden Seiten in Eintönigkeit.
 Ich war sehr unruhig. Ich dachte über den Ablauf der nächsten Tage nach. Ich musste allerhand auf die Reihe kriegen: Eine Nacht in Berlin schlafen, am nächsten Tag zum Bahnhof und mit dem Zug in die Schweiz. Dort übernachten, dann mit Edward Ersters Limousine nach Berlin zurück. Noch mal hier schlafen und in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages zu Brücke sieben. Ich dachte an die Anweisung: Bitte beginnen Sie Ihre Reise unbedingt am Fernreisebahnhof der Hauptstadt mit dem Zug. Wie umständlich all das war. War es auch nötig? Hätte ich das überhaupt auf mich nehmen müssen? „Schick doch zwei von deinen früheren Chauffeuren dorthin. Die freuen sich sogar, wenn sie dir einen Gefallen tun können! Und wenn sie mal ins Schweizlein kommen.“ Wenn ich es zu Edward Erster gesagt hätte, wäre der Wagen vermutlich schon seit Tagen an der Küste. Oder sonst wo.  Ich seufzte still. Ich erinnerte mich an den Grund: Dieses unnötige Irren durch Land und Zeit sollte mich ablenken, zerstreuen. Auch beruhigen.
 „Schläfst du heute Nacht bei mir?“ Tinekes Frage bremste meine wild kreisenden Gedanken aus. Stillstand.
 „Ich zwinge dich nicht dazu, Erasmus.“
 Aber es wäre schön. Und aufregend. Für mich. Und es war doch selbstverständlich. Warum fragte sie dann danach? Weil sie mich auf andere Gedanken bringen wollte. Ich legte den Stimmungshebel um und schaltete zurück auf Lustig und unbefangen. „Ich halte es für bedenklich. Du und ich allein in einer Wohnung. In der Großstadt. Wo wir nun mal kein Ehepaar sind. Nicht mal verlobt sind wir.“
 „Ja, stimmt. Also bleibst du in deiner Räuberhöhle und hörst dir die nächtliche Talkshow der Tippelbrüder an. Und morgens, wenn der Bagger kommt, hilfst du bei den Abrissarbeiten. Oder du fährst in die Villa deines Onkels. Damit würdest du aber deinem Grundprinzip Ich will von Edward Erster keinen Cent untreu.“
 Nur das nicht, weder das eine noch das andere, dann lieber gegen moralische Werte verstoßen und zu Tineke in die WeGe. Allein zu zweit in der Großstadt-Wohnung.
 „Na bitte. Gewonnen. Immerhin, um den Anschein des Anstands zu wahren, könntest du in Jonathans Kiste schlafen. Wenn er’s erfährt, wird er dieses Bett nie wieder benutzen.“
 Ich staunte.
 „Er wird es zum Heiligtum erklären und einen Gedenkraum mit einer riesigen Tafel einrichten. Hier hat schon mal der berühmte Schriftsteller und spätere Literatur-Nobel­preis­träge­r Erasmus Erster genächtigt, ihm sollen beim Herumwälzen in diesen Tüchern die wunderbarsten Ideen für neue Bücher gekommen sein. Bitte keine Fotos mit Blitzlicht machen, weil sonst das Bettzeug schneller ausbleicht – es wurde seit der denkwürdigen Nacht nicht gewaschen und wird nur zu den turnusmäßigen Führungen aufgeschlagen und dem Licht ausgesetzt!“
 Wir lachten heftig. 

Berlin war auf einmal wie ein Traum für mich. Die Stadt lag ganz fern. Oder sie lag ganz nah, und ich hatte sie in diesem letzten Jahr nur verpasst. Ihr Leben, ihre Qualitäten. Da ich meine Wohnhöhle so gut wie aufgegeben hatte, gehörte ich nicht mehr hierher. Ich war nun Küstenbewohner und empfand unerwartet eine heiße Sehnsucht nach allem, was die offene Gesellschaft der Hauptstadt ausmachte. Ich nahm jetzt erst wahr, was ich in all den Abenden und Nächten, die ich in meiner Hinterhofhöhle als manischer Schreiber vor dem Laptop verbracht hatte, verschmäht und unbeachtet gelassen hatte. Von oben herab. Nicht nur bildlich gesprochen. Dieser lauwarme Spätsommerabend mit dem Schimmer der zahllosen Straßenkneipen, den mild wogenden Baumkronen, unter denen Menschen so fröhlich und leicht herumsaßen, als gebe es keine Sorgen, keine Pflichten und kein anderes Dasein als das des Augenblicks. Niemals hatte ich während der Schreibphase abends oder gar nachts meine Höhle verlassen, um mich dazuzugesellen. Das Schreiben war mir über alles gegangen. Zugleich der Kampf um meine Selbständigkeit, um das Unabhängig­sein. Nicht einfach nur so Unabhängigsein und Selbständigkeit, denn das hätte, das hatte ich in meinem Job längst geschafft, es war der Kampf um ein möglichst hohes, um ein noch höheres Niveau. Vielleicht ein Messen mit dem Lebensweg meines Onkels, mit seinem Erfolg, und nicht zuletzt auch mit dem, was mein Vater erreicht hatte.
 „Ach, Erasmus“, sagte sie sichtlich leidend, „wenn ich an deine Schreiberei denke, kommst du mir regelrecht versperrt vor. Direkt besessen.“ Wir schauten im selben Moment beide auf einen mit romantischen Lampen beleuchteten riesigen Platz. Unmengen an Tischen und Stühlen standen dort, dazwischen Bäume, Kübelpflanzen, Laternen; Unmengen an Menschen saßen hier, die entspannt und frei wirkten. Es gab Getränke, Gespräche und Geselligkeit. Es gab nur diesen einen Platz auf dem Erdball, diesen einen Abend in den Milliarden Jahren, in denen unser Planet bestand und vielleicht noch bestehen würde.
 War ich der einzige Unfreie in der verführerischen Sommernacht dieser Großstadt?
 Ich sagte: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass die Kellner bei diesem Durcheinander den Überblick behalten können. Wer hat dieses und jenes bestellt, wer hat schon bezahlt und wer muss noch blechen? Ich halte das für eine beachtliche Leistung, in einem solchen Durcheinander den Überblick zu behalten.“
 Tineke litt weiter. Immerhin wusste sie um die Wurzel ihres Leidens. Es war mein Leiden: „Und wenn das Durcheinander nicht da draußen, sondern einfach nur in deinem Kopf ist? Wenn es darauf wartet, ebenfalls beherrscht oder sogar beseitigt zu werden?“
 „Man müsste es eben ausprobieren. Es lösen, indem man einfach mal hingeht, in den lauen Sommerabend, mal bis zum Hellwerden durch die Biergärten und die Gehsteig-Kneipen zieht, damit man dabei ist. Aber es wird nicht gehen, weil du morgen arbeitest.“ Sie fauchte wieder diesen skurrilsten, verdrehtesten aller Namen: „Jerominus!“
 Wir lachten beide, sie sagte: „Von mir aus gehe ich die ganze Woche nicht arbeiten, aber dafür erfährst du wenigstens einmal, was du sonst versäumst.“
Sie zogen eng umschlungen durch die Abendstraßen. Tineke und ihr Freund, der diese Nacht oder das, was nachher noch davon übrig blieb, sogar allein mit ihr in der Großstadtwohnung verbringen würde. Ohne Trauschein, nicht mal mit einem Verlobungsring. Sie saßen an vielen Tischen und auf etlichen Stühlen. In und vor Kneipen, Cafés und Pinten. Sie tranken überall ein Getränk oder noch eins mehr. Sie sahen sich über die Gläser hinweg in die Augen und lachten sich durch die Farben der Getränke zu. Grün, rot, pink, bierfarben hell und bierfarben dunkel. Schaumränder und Kohlensäurebläschen zierten die Porträts. Sie tauschten die Gläser. Sie tranken mit ihren Trinkhalmen aus ein und demselben Glas. Oder sie tauschten die Halme und tranken überkreuz. Jeder aus dem Glas des anderen. Sie kicherten und versprachen: „Das war Brüderschaft, nun können wir uns duzen.“ Und: „Da darf man auch gemeinsam allein in ein und derselben Großstadtwohnung übernachten.“ Und da es bereits hell wurde: „Nicht übernachten, sondern übermorgen.“ Und sowieso: „In einem Bett!“ Aber: „Man darf sich nicht erwischen lassen! Morgens.“
 Obschon Tineke mahnte: „Dann muss allerdings das Museumsschild geändert werden. Die Gedenktafel für diesen Literatur-Nobelpreisträger. Zumindest auf der Rückseite sollte geschrieben stehen: In Wirklichkeit hat dieser spätberühmte Schriftsteller Erasmus Erster nicht hier, sondern im Nebenzimmer übernachtet. Oder übermorgent.
 Sie kicherten beide. Nein, sie lachten, sie prusteten sogar. Es war so laut bei ihnen, dass manche Leute, andere Nacht- und Morgenschwärmer, auf sie schauten. Die Leute freuten sich mit ihnen, obwohl sie nicht verstanden, was sie redeten, worüber. Dass Erasmus eine weitere Ergänzung für die Rückseite des Schildes forderte: „Er hat mit seiner Freundin die letzten Stunden der Nacht, die man auch die ersten Stunden des Morgens nennen könnte, in deren Bett zugebracht. Dabei waren sie weder verlobt oder verheiratet. Aber die Freundin war einfach zu hübsch, und er war zu verliebt.
 Sie lachten nun so sehr, auf dass immer mehr Leute näher rückten, weil sie hören wollten, um was es ging. Da sagte Tineke: „Wir müssen aufhören, denn es passt nun kein Text mehr auf die Rückseite der Gedenktafel. Und dieses und jenes sollte sowieso geheim bleiben. Denn weder die Nachwelt noch die Mitwelt müssen erfahren, was wirklich getrieben wurde. Nur der gewisse Erasmus und seine noch gewissere Tineke dürfen eingeweiht werden. Und erleben dürfen es sowieso nur diese beiden. In dieser Morgen-Nacht.“
 Allmählich wurden sie daher ruhiger und ernster. Nur jener Erasmus wollte noch einen Satz auf der Tafel verewigt wissen: „Als Überschrift für diese wunderbare Story verlange ich, dass noch hinzugefügt wird Im Schatten einer schicksalsträchtigen Plattensammlung.
 Und Tineke ergänzte: „Es muss unbedingt auch ein Reh vorkommen. Das romantischste aller Tiere. Mit treuem Gesicht und zärtlichem Blick. Am besten als Phantomzeichnung. Denn es wurde ja niemals gesehen. Immer wurde nur darüber geredet.“ Und Erasmus beschloss theatralisch seufzend: „Wie wahr. Dieses Reh, es war doch immer präsent. Ach ja, und es heißt natürlich Jerominus.“     

Folge 29 vom 28. April. 2020  

Auf dem Nachhauseweg sangen wir. „Butterfly, red, white and blue …“
 Tineke sagte: „Dies war nun auch schon die schönste lange Sommernacht unseres gemeinsamen Lebens.“ Wir küssten uns. „Nun bleibt uns gerade noch der schönste Vormittag. Ansonsten sind dann alle Tagesabschnitte verbraucht.“ Das klang traurig, so dass ich sie tröstete: „Wir werden uns steigern. Und wir werden unseren Wirkungskreis erweitern. Bald kommen die heimeligen Winterabende und davor die stürmischen Herbstmorgen.“
 Wir standen vor der Tür ihres Hausblocks. Tineke hielt mir ihren Zeigefinger auf die Lippen. Sie küsste mich kurz. Weil ich weitere Gelegenheiten für unsere potenziell schönsten Tageszeiten aufzählen wollte, warnte sie mich mit gedämpfter Stimme: „Nun halt mal deinen Schnorchel, sonst erwischt uns noch jemand.“
 Ach ja, wir stießen ab sofort in die totale Verbotszone. Ich wühlte absichtlich auffällig in den Hosentaschen. „Leider“, gestand ich, „hab ich mal wieder keine Verlobungsringe dabei.“ Sie fasste meine Hand. „Wir versuchen es durch den Dienstboteneingang. Falls uns aber jemand begegnen und uns nach den Standesamtspapieren fragen sollte, sagen wir, wir wären die Fensterputzer. Wir arbeiten absolut in Frühschicht.“ Sie kicherte, sie zog mich über die Treppen, dicht an der Wand entlang. Ich hatte auf einmal wirklich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Es war eine Art Nervenkitzel, und als irgendwo das Geräusch einer Wohnungstür zu hören war, blieb Tineke prompt stehen und drückte mich in eine schummerige Flur-Nische. Sie hielt mir mit der Hand den Mund zu. Ich zitterte, als befände ich mich in echter Gefahr. „Kein Problem“, flüsterte sie, „ich hol uns gleich aus dieser verdammten Misere raus.“
 Zum Glück gab es keine weiteren Anzeichen für den Fortgang der Misere, es blieb still. Wir schlichen weiter, und als wir die Tür der WeGe erreicht hatten und uns in der Wohnung befanden, atmete ich hörbar. Nicht nur zum Scherz, schon gar nicht um nachträglich noch eine zur Szene passende Spannung zu simulieren.
 Tineke stand vor mir. „Tut mir leid, wenn es zuletzt zu heftig für dich gewesen ist.“ Sie umarmte mich. „Rollenspiele haben es manchmal in sich. Davon abgesehen hattest du dieses Pseudo-Abenteuer allerdings begonnen.“
 Wirklich ich?
 Sie lächelte, sie umarmte mich inniger.
 Ich erwiderte: „Es wird wirklich das Beste sein, wir verloben uns, wenn ich zurück bin. Dann hat die Heimlichtuerei ein Ende.“
 Sie ging wieder auf Distanz. Sie sah nachdenklich aus, ernüchtert. „Das hatte ich jetzt direkt vergessen. Du bist ja bald weg.“ An ihrer Miene konnte ich lesen, dass sie eigentlich eine Menge Fragen hatte. Sie unterdrückte sie. Sie hatte es versprochen, sie wollte meine Abwesenheit ohne Antworten durchstehen. Oder doch nicht?
 Ich war müde. Ganz plötzlich fühlte ich das. Und zugleich war ich leer und voll. Mit allem und mit nichts. Ich riss mir die Hand vor den Mund und gähnte tief.
 „Du solltest zu Bett gehen. So unausgeschlafen und so ungesund aufgekratzt solltest du dein Vorhaben nicht in Angriff nehmen.“ Sie drehte sich um und lief über den Flur. Mit nur halb mir zugewandtem Gesicht schlug sie plötzlich vor: „Vielleicht würde es dir tatsächlich besser bekommen, wenn du in Jonathans Bett schläfst. Dann hättest du mehr Ruhe.“
 Ich lief ihr hinterher. In ihrem Zimmer standen wir uns dann abermals gegenüber. Ich wollte etwas sagen. Was? Ich durfte nicht reden. Nicht über das Treffen an Brücke sieben. Nun, nachdem ich das Schweigen so viele Tage hatte durchhalten können, hätte es wenig Sinn gemacht zu reden.
 So kurze Zeit bevor alles begann.
 Sie half mir, sie wandelte sich in freundliche Vernunft. „Entschuldige, Erasmus. Es ist unfair, dir diesen Gewissenskonflikt anzuzetteln.“ Sie umarmte mich wieder. Es war aber nicht mehr mit der gewohnten Wärme. „Geh jetzt schlafen“, sagte sie. Sie blickte auf ihr Bett.
 „Und du?“, fragte ich.
 „Mal sehen. Ich packe erst mal meine Sachen für die Arbeit zusammen. Irgendwie würde ich im Moment kein Auge zukriegen. Vielleicht setze ich mich ans offene Fenster und schau mir den Sonnenaufgang an. Mit ’nem heißen Kaffee. Es hat etwas, die Stadt erwachen zu sehen. Oder ich lese noch bisschen.“
 Ich zögerte erst, ehe ich ihr dann doch die Geschichte, die ich am Vortag geschrieben hatte, anbot. Die Geschichte des Sohnes, der seinen Vater nur im Abstand von mehreren Jahren zu sehen bekommt. Ich erklärte ihr, in welchem Ordner auf dem Laptop sie die Datei finden würde. Und ich beschwor sie, den Inhalt nicht als authentisch anzusehen. „Nur die Konstellation. Der Gewissenskonflikt. Der Seelenspiegel.“
 Sie blickte mich sehr skeptisch an. Sie verstand nichts. War es also gut, ihr diese Story zu geben?
  Ich legte mich ins Bett, ohne mir die Zähne geputzt und einen Schlafanzug angezogen zu haben. Ich würde eh bald wieder aufstehen müssen. Zum Bahnhof gehen. Mit dem Zug ab ins Schweizlein. Im Zimmer war es schon hell. Obwohl ich teuflisch müde war, kriegte ich die Augen nicht zu. Mein Blick fiel auf den Teil der Plattensammlung, den wir noch nicht im Küstenhaus hatten. „Dein Vater hat sich jedes einzelne Exemplar vom Mund abgespart“, hörte ich den Vorwurf meines Onkels. Und ich hatte die kostbare Sammlung im Internet zum Verkauf anbieten wollen. Ich hatte es vorgehabt, weil ich Geld brauchte, das mir Edward Erster genauso zugesteckt hätte. Als Geschenk. Aber drückte mich nicht auch die Last der Erinnerung, vergegenständlichten diese vielen alten Scheiben nicht auch ein hartes Stück Gewissen? Ich glaube, ich hatte die Plattensammlung gar nicht mehr gewollt. Wegen eben jener Erinnerungen.
 Wie dankbar war ich Tineke wirklich? Sie hatte diese vielen Schallplatten für mich gerettet. Und meine Vergangenheit ebenfalls.  

Tineke und ich und die Plattensammlung.
 Begonnen hatte es in der Bibliothek der Uni. Mit ihr, Tineke. Es war über mich gekommen wie ein schweres Sommergewitter. Es, damit meine ich sie, Tineke. Und die Liebe.
 Da ich vom Studium her noch den Benutzerausweis für die Uni-Bibliothek hatte, ging ich hin und wieder dorthin, um in diesen und jenen Büchern nachzuschlagen. Eines Tages begegnete ich Tineke dort. Es war im Lesesaal, ich kämpfte mit einem dicken Wälzer über Sizilien. Ich wollte mir Notizen machen und hatte nicht genügend Schreibpapier dabei. Tineke saß neben mir, sie las in einer Gesetzblattsammlung über Arbeits- und Sozialrecht. Ich hatte sie zunächst nicht mal angeschaut und bat sie, immer noch ohne ihr ins Gesicht zu sehen, um ein paar Blätter, die sie mir anstandslos gab. Danach begann ich aus dem Buch den Ausschnitt einer Landkarte nachzuzeichnen. Ich zeichnete Straßen, markierte Städte, Bahnstationen und Flugplätze, schrieb mir die Namen von Museen und historischen Stätten heraus. Es machte sie neugierig.
 Sie fragte: „Promovierst du über Siziliens Straßennetz oder planst du dort einen Anschlag?“
 Ich sah sie überrascht an und bemerkte, wie hübsch sie war. Mit ihren großen, lebendigen Augen, den hübsch geformten, roten Lippen und der braungebrannten Haut. Sie war schon Mitte zwanzig, wirkte aber immer noch wie ein Teenager. Vielleicht, weil sie die Haare noch lang und hinten zusammengebunden trug. Ich erwiderte: „Eher das Zweite. Darf natürlich niemand wissen. Außer dir. Sobald ich die Infrastruktur verinnerlicht habe, muss ich mir ein Buch mit Informationen über Sprengstoff, Munition und die Mafia ziehen. Das geht aber heute nicht. Die Gefahr, dass ich bei einer Sofort-Ausleihe damit Aufmerksamkeit erregen und mein Projekt entdeckt würde, wäre zu groß.“
 Da ich beim Sprechen ernst geblieben war, schaute sie mich etwas verwirrt an.
 Ich sagte: „Du könntest mir behilflich sein, Kleine. Wenn ich mit meiner Zeichnung fertig bin und meine Fingerabdrücke von den Seiten abgewischt habe, stellst du dieses Buch unauffällig in das Regal zurück und verlässt noch unauffälliger die Bibliothek. Ich müsste dann heute Nacht hier nicht einsteigen und die dicke Schwarte vernichten.“ Ich zwinkerte ihr verbindlich zu. „Wenn du mehr über die Vorbereitungen erfahren willst, dann treffen wir uns gleich in der zweiten Querstraße seitlich des Bibliotheksgebäudes wieder. Hinter dem alten Hochhaus befindet sich im Hinterhof so ein düsteres Steh-Café. Ein idealer Ort zum Abtauchen und zum Austauschen von Informationen. Und man kann dort im Fall des Falles durch das Toilettenfenster verschwinden. Aber pass auf, dass dir niemand folgt.“  Nachdem sie ein paar Minuten später fort war, kapierte ich, dass ich mich ganz heftig in sie verliebt hatte. Ihre Stimme klang süß wie ein Musikinstrument in meinen Ohren nach. Sie hatte etwas helles Melodisches, das einem eine Gänsehaut machte. Mir. Ich dachte, hoffentlich hast du sie mit deinem ewig dummen Gelaber nicht verschreckt, verscheucht. Und ich musste mich zwingen, noch eine Weile im Lesesaal zu bleiben und ihr nicht stracks hinterherzulaufen. Dann jedoch rannte ich. Und ich betete in Gedanken, lieber Gott, lass sie bitte in das Café gegangen sein. Lass sie auf mich warten.  

Folge 30 vom 29. April. 2020  

Ja, da stand sie an einem Eck-Board. Sie trug jetzt eine große Sonnenbrille, egal wie düster es im Café war. Sie wirkte damit wie ein Kind, das sich auf niedliche Art hatte maskieren wollen. Ich spendierte ihr von meinen letzten Euros einen Kaffee. Ich redete wieder normal, weil ich die Bekanntschaft mit ihr nicht aufs Spiel setzen wollte. Sie bedauerte das offenbar. „Täusche ich mich oder hast du die Pläne für den Anschlag inzwischen tatsächlich aufgegeben? Hat es womöglich was mit mir zu tun? Bin ich in deinen Augen ein Unsicherheitsfaktor? Wäre ja schade.“
 Ich nickte. „Natürlich hat es was mit dir zu tun. Und ein Unsicherheitsfaktor bist du solange, bis ich alles über dich weiß, vorher könnte ich dich niemals in dieses höllische Projekt einweihen, geschweige denn dich daran beteiligen.“ „Ich heiße Tineke“, sagte sie gespielt kühl.
 „Erasmus“, erwiderte ich.
 „Ein Tarnname. Oder?“
 Ich musste furchtbar laut lachen. Die wenigen Gäste starrten mich prompt an.
 „Also, wenn du wirklich fest daran glaubst, dass du Erasmus heißt, dann heißt du entweder wirklich Erasmus oder du bist ein absoluter Profi im Untergrundkampf, dann hast du deine wahre Identität vor dir selbst hundert Pro verborgen oder sogar ganz abgeschafft. Das schaffen, soviel weiß sogar ich, die Wenigsten.“ Sie hob die große dunkle Brille an und schaute mir richtig tief in die Augen.
 „Was wäre dir denn lieber?“, fragte ich.
 „Ach“, sagte sie ohne zu zögern, „eigentlich finde ich beides interessant. Anderseits würde mir ein echter Erasmus reichen. Vollkommen.“
 „Na gut“, entschied ich, „bis jetzt ist auch nichts passiert. Bis jetzt kann mich kein Staatsanwalt auf irgendwas festnageln. Es ist alles in meinem Kopf, sonst nirgends. Ich kann aus diesem Vorhaben sogar ohne Selbstanzeige aussteigen.“
 „Hast du keine Komplizen?“ „Nur einen. Eine Frau. Sie hat zum Glück so gut wie keinerlei Informationen über die geplanten Anschläge. Deshalb steigt sie am besten mit mir zusammen aus. Wir bekommen ein gesichertes Zeugenschutzprogramm.“
 Sie lachte. „Bin ich das?“ Und da ich nickte, fragte sie: „Wann beginnt dieses Programm?“
 „Es kann gleich beginnen“, entgegnete ich. „Wir gehen ins Kino. Wir sehen uns einen Film deiner Wahl an. Du suchst dir eine filmische Gestalt heraus, die zu dir passt und die du gern sein möchtest, und ich sorge dafür, dass du ihre Identität bekommst.“
 „Toll. Und du? Suche ich für dich eine dazugehörige Gestalt aus? Oder nimmst du einen anderen Film, und wir trennen uns?“ Da ich keine Antwort wusste, winkte sie ab. „Naja, es geht sowieso nicht. Ich hab in einer Stunde eine Aussprache in der Klinik. Da erfahre ich, ob und wie es mit mir weitergeht. Beruflich. Wenn ich Pech habe, lassen sie mich mit meinen Einwänden abblitzen, und alles bleibt wie vorher. Oder sie schieben mich noch weiter aufs Abstellgleis.“
 Es ging um die Arbeitsbedingungen, um die Fortsetzung ihrer Facharztarbeit. Um das, was sie später als Stillstand bezeichnete. Aber davon wusste ich in diesem Augenblick noch nichts. Sie wirkte, als sie das sagte, geknickt, dennoch entschlossen. Ich versuchte sie aufzurichten, aufzumuntern: „Kann ich dir irgendwie helfen, vielleicht, indem ich vorher hingehe und das Volk aufmische?“
 Sie schüttelte entschieden den Kopf. Sie lächelte nachsichtig. „Du magst zwar gut im Untergrundkampf sein, aber das Gespräch findet in der Station statt, auf der ich arbeite. Da liegen diverse medizinische Instrumente herum. Die OP-Bestecks beispielsweise. Diese Übermutter von einer Chefin würde mit ihrem Beschützerinnen-Instinkt vermutlich gleich mal davon Gebrauch machen. Dir gegenüber.“ Sie zog mit dem rechten Daumen eine imaginäre Linie vor der Stirn. „Weißt du, Erasmus, von welchem Instrument sich der Begriff skalpieren ableitet?“
 Ein Skalpell, natürlich. Ein durchsichtiger Scherz, der nicht zu dem passte, was sie in dem Gespräch erwarten würde. Ich ahnte jetzt, dass die Lage für sie nicht allzu günstig war und verzichtete auf weitere Aufheiterungsversuche. Ich schlug also vor: „Können wir das jetzt nicht mal lassen, dieses blutrünstige Fabulieren? Oder kannst du mich ansonsten nicht akzeptieren?“
 „Du bist schon akzeptiert. Mehr als das.“ Sie reichte mir die Hand. „Ich muss los. Wir treffen uns zur Abendvorstellung vor dem neuen Kinopalast.“  Ich hielt die Hand fest. „Gehen wir wirklich ins Kino? In diesen noblen Palast?“ Ich überrechnete in Gedanken den Inhalt meines Portemonnaies. Ich hatte noch … Nein, hatte ich nicht. Nicht mal mehr … O weh, oje. „Interessierst du dich womöglich gar nicht für Filme?“
 „Geht so“, antwortete ich. „Ich kenne eigentlich so ziemlich alle, das ist hauptsächlich mein Problem.“
 „Hör mal“, schalt sie. „Heute ist Donnerstag, es sind in eben diesen Minuten etwa acht neue Streifen losgelassen worden. Einige wurden bis gestern synchronisiert. Sag, wann du die gesehen haben willst?“ Da ich schwieg, dachte sie plötzlich in die falscheste aller Richtungen. „Kann das sonst sein, dass du auf Knall und Fall was ganz anderes mit mir vorhast? So nach dem Motto Wir übergehen das Kino am besten gleich, und ich nehme dich mit in meine Bude und zeige dir meine Briefmarkensammlung.“ 
 Sie war nun fürchterlich gereizt. Vielleicht weniger wegen mir als wegen des bevorstehenden Gesprächs. Sie lief los, und ich rannte ihr hinterher. Ich schwor, dass ich keine Briefmarken sammelte, allerdings hätte ich einen riesigen Schatz alter Schallplatten. Diese stammten von meinem damals so sammelwütigen Vater. Früh-Erbstücke. Aus finanzieller Not hätte ich nun vor, mich von den Platten zu trennen. Ich sei gerade dabei, einen Käufer zu suchen. Ich würde es über eine Internet-Börse versuchen. Und in meine Wohnung, die so ziemlich die allerschlimmste Räuberhöhle in ganz Berlin sei, könne ich sie ohnehin nicht lassen.  Wir waren bereits ein Stück aus dieser zweiten Querstraße heraus, als sie entnervt den Kopf schüttelte. „Also Erasmus, die Story mit Sizilien habe ich ja problemlos kapiert. Das war auch echt lustig. Es hat mich prima von dem Gedanken an dieses verflixte Gespräch in der Klinik und meine miserablen Zukunftsaussichten abgelenkt. Aber was du mir jetzt vorgesetzt hast, das krieg ich nicht rein in meinen Kopf. Will ich so kurz vor diesem blöden Termin auch gar nicht reinkriegen. OK?“ Sie ließ mich stehen.
 Ich starrte ihr entsetzt hinterher, dann rannte ich mehrere Stunden kopflos durch die Straßen. Ich dachte, das ist vorbei. Vergeigt, vertan, verschenkt. Die siehst du nie wieder. Nicht in dieser großen Metropole. Ich spürte einen tiefen Schmerz. Wo? Überall, am meisten in der Herzgegend.
 Erst allmählich sammelten sich meine Gedanken und ich hoffte auf eine kleine Chance.
 Ich ging in die Wohnung und öffnete die Schachtel mit der geheiligsten aller Reserven. Dort lagen fünfzig Piepen, die letzten. Dazu klemmte ich wahllos eine Langspielplatte unter den Arm. Ich hatte keine Ahnung, dass es die Scheibe mit unserem späteren Lieblingslied war. Butterfly, red, white and blue. Ich stand eine Ewigkeit vor diesem pompösen Filmpalast und überlegte, von welcher Brücke ich mich stürzen sollte, wenn sie mich versetzte. Tineke.
 Da kam sie. Schon lange vor Vorstellungsbeginn. Sie hatte die riesige Sonnenbrille auf die Haare gesteckt und sah selbst aus wie ein Kinostar, eines von den ganz jungen Dingern. „Schön, dass du da bist“, sagte sie erstaunlich unbefangen, auch sichtlich befreit. Ich wollte ihr die Hand reichen und ihr die Geschichte mit der Briefmarkensammlung und der Kino-Einladung irgendwie erklären, wollte mich entschuldigen, da umfasste die ihre vorsichtig meinen Nacken. Sie kam mit ihrem Gesicht dicht an mich heran, und ich spürte für Sekunden ihre Wange an der meinen. Sie seufzte. „Na ja, ich habe jetzt mal zugebissen und denen die Meinung gesagt. Mal richtig heftig. Meine Gesprächspartner waren völlig perplex. Wahrscheinlich wird die Chefin niemals wieder mit mir reden. Nicht nur sie. Immerhin hat es mich erleichtert. Ich musste die ganze Zeit an dich denken. Erasmus! Das hat geholfen“, hörte ich sie sagen. Es klang tapfer und getröstet zugleich.
 Ich brachte kein Wort heraus.
 Sie sagte: „Lass uns jetzt da reingehen und einen Film ansehen. Das lenkt ab.“ Dann deutete sie auf die Platte, die ich mit Schraubstockgewalt unter meinen Arm geklemmt hielt. „Das Corpus Delicti?“
Ich nickte. „Eines von vielen.“
 „Und wie viele gibt es von diesen scheußlichen Dingern?“   Ich hob die Hand und streckte fünf Finger aus.
 „Fünfzig ? Fünfhundert? Oder etwa fünftausend?“
  Ich räusperte mich. „Fünfhundert.“
 Sie pfiff durch die Zähne und sagte: „Ich hab genau dreihundertfünfundachtzig Euro auf der Kante. Die kann ich dir geben. Pro forma nehme ich die Sammlung in Verwahrung. Du kannst sie ja jederzeit auslösen. Es wird kein Stück davon verschwinden. Dafür verlange ich lediglich, dass wir beide in das gleiche Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden.“
 Sie fasste meine Hand, und wir gingen in die Halle des Filmpalastes. Sie wählte einen Film für uns aus, von dessen Titel und Inhalt ich nachher nichts mitbekam. An der Kasse zahlte sie und sagte: „Das ist jetzt eine Einladung von mir an dich. Denk also nicht, ich würde es mir vom Kaufpreis für die Platten abziehen.“  

Sie küsste mich und flüsterte: „Mach’s gut, Jerominus. Ich warte auf dich. Hier. In Berlin.“
 Das bekam ich noch mit. Danach hörte ich ihre Schritte im Flur und kurz darauf die Wohnungstür. Ich schlief weiter. Nein, so richtig schlief ich doch nicht. Immer wieder wurde ich wach, immer wieder gaukelte mir das Unterbewusstsein im Halbschlaf unechte Szenarien vor. Bilder und Gespräche, Gesichter. Halb-Alb-Träume.  Als ich gegen neun wach wurde, war ich unausgeschlafen, matt, schlecht gelaunt; ich glaube, ich war sogar depressiv. Der Anblick der Plattensammlung, meine erste Wahrnehmung, tat das seine. Ich hätte aufstehen müssen, um dem Anblick auszuweichen. Ich brachte es aber nicht fertig, mein Körper wollte, schaffte es nicht. Es war eine Lähmung, die von der Angst herrührte, die ich vor den nächsten Wochen empfand. Brücke sieben. Angst vor dem Ungewissen und dem Gewissen. Angst vor dem Alleinsein, Angst vor dem Zusammentreffen mit diesen Leuten, mit meinem Vater.
 Angst vor den Tagen ohne sie, Tineke.
 Eine halbe Stunde dauerte es, ehe ich aus dem Bett kam. Ich taumelte ins Bad. Auf den Spiegel über dem Waschbecken war mit grellrotem Lippenstift ein großes Herz gezeichnet. Ein dicker Pfeil hatte es durchbohrt, an seinem Ende standen die Buchstaben T und E. Und: Ick liebe dir.
 Ich lächelte. Es wurde besser, es half.  

Folge 31 vom 30. April. 2020  

Ich goss mir in der Küche Kaffee ein und aß mit völlig lustlosen Kaubacken eine von den Stullen, die mir Tineke zurechtgemacht hatte. Frühstück und Reiseproviant. Erst als ich damit fertig war, wandte ich mich dem Zettel zu, den sie für mich geschrieben hatte. Er klebte am Laptop, den sie auf einen Stuhl gestellt hatte. Habe deine Geschichte gelesen. Sie ist so was von miserabel, dass sie schon fast wieder ganz gut ist. Sie hatte statt miserabel zunächst unrealistisch und davor für mich kein bisschen plausibel geschrieben und diese Worte später durchgestrichen. Miserabel hatte daher Gültigkeit. Eine Aussage, die nicht eindeutig war. Sie hatte zu starken Bezug zu den beiden durchgestrichenen Vokabeln. Nicht realistisch, kein bisschen plausibel. Ich hätte trotzdem niedergeschmettert sein müssen, denn ich hatte beim Schreiben so sehr viel Eifer und Herzblut vergossen. Nein, ich war nicht niedergeschmettert. Überhaupt nicht. Tineke bezog die Aussagen offensichtlich doch direkt auf mich. Da stand noch: Es war für mich trotzdem interessant, diese Story zu lesen, denn sie hat mich endlich etwas tiefer in dein unergründlich scheinendes Seelenleben blicken lassen. Und sie hat deine Situation genauer beleuchtet. Jemanden in einer Nervenheilanstalt zu haben, ist weder ein Grund sich zu schämen noch sich selbst dafür verantwortlich zu fühlen. Lieber Erasmus, ich wünsche dir, dass du diese gefürchteten vier Wochen unbeschadet überstehst. Ich denke ununterbrochen an dich, selbst wenn es länger dauern sollte.
 Tineke. 

Ich drehte den Zettel um und schrieb auf die Rückseite: Am liebsten bliebe ich ja hier. Bei dir. Und ich setzte in Klammern dahinter: Wegen dir. Immerzu. Ich war nahe daran, ihr noch zu schreiben, dass sie die Geschichte zu wörtlich genommen hatte. Nun doch. Leider. Ihr mitzuteilen, dass ich keineswegs in eine Nervenheilsanstalt fuhr, weil sich mein Vater nicht in einer solchen aufhielt. Aber ich hatte begriffen, dass es für sie auch leichter war, mit dieser Variante zu leben. Leichter, die nächsten Tage, Wochen zu überstehen.
  Und ich dachte an das Verbot. Und was immer auch geschehen sollte, bei ihr und bei mir, in wenigen Wochen war alles überstanden.
  Nachher, während der Fahrt mit der Untergrundbahn, fiel mir ein, dass ich Tinekes Liebeserklärung nicht erwidert hatte. Ich beschloss daher, vor dem Kauf eines Tickets den Fernreisebahnhof noch einmal zu verlassen. Ich wollte eine Postkarte kaufen und diese mit einem großen ICH LIEBE DICH direkt von der nahe gelegenen Hauptpost abschicken.  

Es kam anders. Ich kaufte und schrieb keine Karte, ich kam gar nicht aus dem Bahnhof heraus, und ich konnte schon gar nicht bis zur Post vordringen. Es herrschte ein Tumult, wie ich ihn bis dato niemals erlebt hatte. Auf dem Vorplatz, im U-Bahn-Bereich. Menschen über Menschen. Im Fernreisebahnhof selbst war es besonders schlimm. Mächtige, dichte Ströme, die sich von einem Bahnsteig zum anderen bewegten und gegen jene Ströme prallten und ankämpften, sich teils auch mit denen mischten, die von eben diesen oder wieder anderen Bahnsteigen zurückkamen. Aus den Lautsprechern ertönten andauernd Durchsagen. „Achtung!, kompletter Zugausfall, Schienenersatzverkehr ist leider nicht möglich!, alle wichtigen Bahnhöfe bleiben bis auf Weiteres gesperrt, für alle Strecken gilt bis auf Weiteres Nichtbefahrbarkeit!“ Dazwischen immer wieder in gewollt beruhigendem Tonfall: „Bitte haben Sie gegebenenfalls etwas Geduld! Bitte behalten Sie die Nerven. Unser Personal und unsere Computer arbeiten fieberhaft an der Beseitigung der Ursachen des Störfalles.“
  An den Reiseinformationsschaltern standen zahllose Leute, es wurde gefragt, diskutiert, vertröstet, geschimpft, abgewiesen, geflucht. Gedroht. Sogar geschubst. Der vertrackte Montagvormittag. Ich hatte keine Chance, etwas über die Abfahrtszeit eines Zugs in Richtung Schweiz und die Nutzbarkeit der von mir zu befahrenden Strecke herauszubekommen. Selbst wenn ich bis zum Info-Schalter vorgedrungen wäre.
  Und nun?
  Das Schicksal will es so, dachte ich. Fahr nach Hause, geh in Tinekes Wohnung, schlaf dich aus. Vergiss diese ominöse Brücke sieben, zieh einen Schlussstrich unter dein Vorleben. Warte noch ein paar Tage, dann fährst du mit Jonathans Auto in das Schweizer Hotel. Du verschrottest die alte Kiste dort und fährst mit der Limousine zurück. Vielleicht will Tineke mitfahren, dann wird es sogar ein schöner Ausflug.  Vorher wirfst du die Plattensammlung in den Müll.
  Eine Illusion. Ich befand mich in einer Einbahnstraße. Ich konnte mich nur in eine Richtung bewegen: vorwärts. Nicht zurück, nicht zur Seite. Ausstieg nicht möglich.
  Ich spürte eine Berührung am rechten Ellenbogen. „Ein fürchterliches Chaos ist das.“
  „Ja“, bestätigte ich oberflächlich, „fürchterlich.“
  „Wir hängen hier total fest. Es wird sich wahrscheinlich innerhalb von zwei Tagen nicht entzerrt haben. Man muss umdisponieren.“  „Ja“, sagte ich wieder. Wieder oberflächlich.
  „Wahrscheinlich innerhalb einer ganzen Woche nicht. Für mich wird’s auch schwierig.“  „Wenn Sie mir behilflich sind, nehme ich Sie in meinem Wagen mit.“  Behilflich? In seinem Wagen? Wohin?
  Jetzt erst wandte ich mich der Stimme zu. Sie gehörte einem Herrn mit sehr gepflegtem Äußeren. Lichtes, sorgsam geschei­teltes Haar, perfekt sitzender Sommeranzug, sehr ge­schmack­volle Krawatte, Schuhe aus feinstem Leder. Ein au­ßergewöhnlicher Mann, dessen Außergewöhnlichkeit durch die Symbolik eines speziellen Handicaps unterstrichen wurde. Er war blind. Er trug die Medaille mit den drei Punk­ten, eine Brille mit rußschwarzen Gläsern und einen mit Sen­soren ausgerüsteten Stab. Da er offenbar spürte, dass ich ihn ansah, anstarrte, bemerkte er seufzend: „In einem derartigen Gedränge schadet mein Superstab eher als dass er nützt. Man muss direkt aufpassen, dass er einem nicht unversehens weggerissen wird.“ 
  Ich empfand Respekt. Und Mitleid; und Scheu, trotzdem Hilfsbereitschaft. „Soll ich Sie führen?“, fragte ich unsicher.
  „Das wäre sehr nett.“ Er spreizte absichtlich den linken Arm leicht vom Körper weg, auf dass ich ihn ergreife.
  Ich tat es.
  „Da ist auch noch meine Reisetasche. Wenn Sie die für mich tragen könnten. Eigentlich eher ein Aktenkoffer, den ich ungern aus der Hand gebe. Nur jemand, dem ich vertraue, darf ihn haben.“ Ich bückte mich und nahm ihm den Aktenkoffer ab. „Und Sie, haben Sie gar kein Gepäck?“
  Ich stutzte.
  Er lächelte mitfühlend und ein bisschen spöttisch. „Blinde sehen meist mehr, als sich das Leute mit hinlänglicher Sehkraft vorstellen können. Wer nicht sehen kann, der hat gelernt, sich aus Geräuschen ein Bild von seiner Umgebung zu machen. Mehr noch aus den Pausen zwischen den Geräuschen. Aus den Abstufungen dieser Geräusche. Auch aus den Bewegungen, dem Luftzug, von denen die Geräusche begleitet werden. Und natürlich hat man gelernt zu kombinieren. Man kann voraussehen, wie der Gesprächspartner auf die jeweiligen Äußerungen reagiert.“ 
  Ich wechselte mit der Tasche in meine freie Hand. „Ich komme ohne Gepäck aus. Ich bin anspruchslos“, sagte ich.
  „Aber Sie sind doch zu diesem Bahnhof gekommen, um zu verreisen? Oder wollten Sie jemanden abholen?“   Wir mussten jetzt eine besonders dichte Menschentraube durchdringen. Daher war es mir nicht möglich, mich weiter mit dem Blinden zu unterhalten oder ihm wenigstens kurz zu antworten. Ich erklärte es ihm, und er, den ich nun mehr hinter mir her zog, als dass er neben mir lief, erwiderte: „Wenn Sie jemanden abholen würden, würde ich tippen, es ist ein Ihnen nahe stehender Verwandter. Ein sehr nahe stehender. Ihr Vater vielleicht.“
  Ich schlenkerte etwas unmutig mit dem Arm, worauf sein Arm mitschlenkerte. „Nein“, beharrte ich, „ich will verreisen. Aber es kommt bei mir auf eine Stunde nicht an.“
  Ich war bei den letzten Worten lauter geworden, um ihm meine Absicht zur Beendigung eines so mühsamen Dialogs anzuzeigen. Er ließ sich zunächst darauf ein, und wir konnten uns schweigend durch die Menschenmassen winden und erreichten schließlich den Bahnhofsvorplatz. Hier wimmelte es ebenfalls vor Menschen. Sie standen, schauten und warteten. Worauf? Die wenigen Taxis, die eintrafen, fuhren sofort wieder los. Sie waren vorbestellt oder sie wurden prompt von besonders aggressiv sich gebärdenden Reisenden okkupiert. „Es wird schwer, hier weiterzukommen, wenn nicht gar unmöglich“, prophezeite ich dem blinden Mann. „Die Menschen stehen wie eine dicke Mauer. Sie bewegen sich nicht, sie stehen wie fest verwurzelte Bäume. Weil sie nicht wissen, was sie tun können.“
  Er fand sich damit nicht ab. Er hob seine Stimme unerwartet stark an und rief: „Bitte mal Platz machen, bitte mal durchlassen. Ich bin behindert!“ Er hatte sich auf einmal vor mich geschoben und schnitt mit seinem Sensorstab, den er, fast drohend, hin und her schwenkend vor sich trug, eine Gasse in die Ansammlung, wobei er es mehrmals wiederholte: „Bitte lassen Sie mich und meinen Begleiter durchgehen, ich bin behindert, ich werde geführt.“
  Die Menschen, obwohl selbst misslaunig und aggressiv, schreckten angesichts des couragierten Auftretens ängstlich zurück. Wir kamen daher ohne wesentliche Mühe an die andere Seite des Bahnhofsplatzes. Zweimal fragte mich der Blinde, ob wir noch die Richtung hätten, in die wir gehen müssten. Die Richtung, in der jenes moderne, attraktive Imbiss-Restaurant läge, das kürzlich eingerichtet worden war.
  Ich bejahte es und dachte, wozu braucht er jemanden, der ihn führt, da er doch den Weg allein zu finden scheint?
  Als wir den dichtesten Teil der Menschenmasse hinter uns gelassen hatten, blieb er stehen. Er deutete an, ich solle die Führung wieder übernehmen. Und er fragte: „Sehen Sie etwa zwanzig Schritte links von dem Imbiss-Restaurant eine große Limousine? Schwarz, mit mattdunklen Scheiben und einem dicken Antennenstumpf mitten auf dem Dach?“
  Ich bejahte und brachte ihn dorthin.  

Folge 32 vom 01. Mai 2020 

Das Gewimmel der Menschen zog sich wie ein allmählich sich ausfransender Gürtel über Hunderte von Metern um den Bahnhof herum. Aufgeregte, unschlüssige, neidische Gesichter bestarrten die Fenster der Limousine, auf deren Rückbank ich neben dem blinden Mann saß. Hin und wieder winkte jemand oder postierte sich in halbwegs sicherem Abstand vor der Stoßstange, um uns zum Anhalten zu veranlassen, weil er hoffte, er könne bei uns mitfahren. Nein, wir nahmen niemanden auf. Der Fahrer wies die Attacken mit steinerner Miene ab, er setzte auch mehrmals die Hupe ein. Als die Leute sahen, dass sie keinen Erfolg bei uns haben würden, reagierten sie verärgert. Man konnte es den heftigen Bewegungen ihrer Münder oder den uns mit geballter Faust nachgesandten Drohgebärden entnehmen.
  Selbst außerhalb der Bahnhofsregion fuhren wir noch an Menschen vorbei, die von den Auswirkungen des großen Eisenbahn-Chaos’ betroffen waren. Man erkannte es, weil sie zermürbt, zerknirscht aussahen, weil sie aufgeregt in ihre Handys sprachen oder selbst hier noch den fremden Autos hinterher winkten.
  „Was war eigentlich die Ursache für den Totalausfall des Bahnnetzes?“, fragte ich, nachdem wir endlich aus der Innenstadt heraus waren und nun mit enormer Geschwindigkeit auf der Autobahn fuhren. Eine Antwort bekam ich erst, nachdem ich etwa nach einer halben Minuten Schweigens entschuldigend hinzufügte: „Ich dachte, Sie wissen mehr als ich. Ich weiß nämlich gar nichts.“ 
  Der blinde Mann neben mir schnaufte leicht genervt. „Erstens werden Sie es irgendwann ohnehin erfahren, und zweitens ist es nicht meine Aufgabe, Sie zu informieren. Zumindest nicht über derartige Vorfälle.“  
  Unversehens mischte sich der Fahrer der Limousine in das dürftige Gespräch. Er suchte über seinen Innenrückspiegel Blickkontakt zu mir. „Wie es heißt, soll die Stromversorgung zusammengebrochen sein. Total. Sie haben über den internen Bahnfunk, den man nur auf einer speziellen Frequenz empfangen kann, gemeldet, es sei, als hätte man sämtliche Hauptschalter –.“ Er konnte, durfte nicht weiterreden. Der Blinde verbot es ihm. „Sie sollen den Wagen steuern und nicht die Plaudertasche spielen.“ Das klang streng und ungehalten, und es kam mir vor, als vermeide es der Blinde ganz bewusst, den Fahrer bei seinem Namen zu nennen. Immerhin, er selbst wurde zugänglicher und bestätigte die Auskunft des Fahrers. „Aus Sicherheitsgründen musste das gesamte Strom-Netz der Bahn gekappt werden. Auch die Not- und Ersatzaggregate durften nicht in die Leitungen einspeisen. Nur eine Funkanlage und die Lautsprecher können zeitweise betrieben werden.“ Er lachte, als schildere er die deftige Pointe eines schwarzhumorigen Films oder Theaterstücks und koste im Nachhinein die Nachteile und Schäden der Handlungsbeteiligten noch genüsslich aus. „Da sieht man’s mal: Unser infrastrukturelles System hält nicht den leisesten Knacks aus. Es ist mindestens so anfällig wie das soziale. Eine zentrale Order, ein gezielter Handgriff und schon rennen alle durcheinander, und die Gesellschaft sieht aus wie ein Ameisenhaufen.“ 
  Ich schwieg, ich dachte dieses und jenes, und ich fragte mich, wie ein Blinder eine Vorstellung von einem Ameisenhaufen haben konnte. Mein Begleiter schien hingegen keine Fragen mehr zu haben. Er empfahl nach einiger Zeit: „Sie müssen sich um die eklatante Panne bei den öffentlichen Verkehrsmitteln keine Gedanken machen. Um deren Auswirkungen. Menschen können vieles aushalten, auch wenn sie zunächst jammern und lamentieren und meinen, sie stünden vor einem Abgrund. Bahnnetze sind keine Atommeiler, deren Störfälle unter Umständen Teile der Bevölkerung gefährden würden. Führt man beispielsweise einen Störfall im Bahnnetz künstlich herbei, kann das direkt auch mal heilsam sein. Man bekommt vorgeführt, auf welch dünnem Eis die Menschen auf dem Planeten Erde gehen und wie wichtig es ist, Lösungen zu schaffen. Lösungen, die präventiven Charakter haben und die außerhalb unseres Alltagsverständnisses liegen.“ Er sah mich an. Nein, er war ja blind und konnte mich gar nicht sehen; und ich war sicher, dass er die Blindheit nicht spielte. Er wandte demnach nur sein Gesicht in meine Richtung. „Ich gehe mal davon aus, jemand wie Sie, der ohne das kleinste Gepäckstück eine mehrtägige Reise antritt, hat keine Mühe, das zu begreifen.“  
  Mit der letzten Silbe, die er sprach, schnarrte in der Innentasche seines Jacketts das Handy. Er zog es ohne Hast und auch ohne sich zu verhaspeln heraus. Er drückte auf die Sprechtaste. Er hörte etwa eine halbe Minute der Stimme in dem kleinen Telefon zu, danach redete er. Ebenfalls lange und in einer Sprache, die ich nicht verstand, von deren Ursprung und Zuordnung ich nicht die geringste Ahnung hatte. Er lächelte wissend, nachdem er das Gespräch beendet hatte. Und sein Gesicht war nun nach vorn gewandt. Trotzdem waren seine nächsten Worte an mich gerichtet. „Dies ist eine Sprache gewesen, die vorläufig nur wenigen Menschen vorbehalten ist. Sie wurde künstlich erschaffen. Von Menschen und Computern. Zu gleichen Teilen. Diese Sprache hat den Vorteil, dass sie kein fremder Computer ohne die Mitwirkung eines eingeweihten Menschen und kein fremder Mensch ohne die Mitwirkung eines eingeweihten Computers erlernen, geschweige denn entschlüsseln kann. Es wäre demnach müßig, wenn Sie sich den Kopf über den Inhalt des soeben geführten Gesprächs zerbrechen sollten. Nicht mal der Herr vor uns, der diesen Wagen steuert, hat etwas verstanden.“  
  Ich wandte mein Gesicht stumm zum Seitenfenster. Wir hatten die Hauptstadt schon weit hinter uns gelassen und fuhren in Richtung Osten. Ich wusste, dass diese Route nicht zu meiner Planung passte, denn um den Wagen von Edward Erster abholen zu können, hätten wir eine Autobahn in Richtung Süden nehmen müssen. Schon gar nicht war dies die Strecke, die mich zu Brücke sieben, dem vorgegebenen Treffpunkt, führen würde.   Es störte mich aber nicht. Ich ahnte, nein, ich wusste, dass ich mich bereits mitten in dem Projekt Brücke sieben befand. Daher blickte ich gelassen, fast teilnahmslos auf die flache, kahle Landschaft, über der die Sonne mit ihrem freundlichen Gelb stand. Ihre Strahlen fielen ebenso gelassen und teilnahmslos wie meine Blicke auf die gedunkelten Scheiben unserer großen Limousine, doch sie wurden von den Scheiben gefiltert und gelangten nur als mattes Licht in das Wageninnere.
  Ich selbst fühlte mich matt, so wie dieses trübe Licht, als hätte ich ein Medikament zur Beruhigung eingenommen. Hatte ich das? Ganz sicher nicht. Seit dem Verlassen der Wohnung hatte ich weder gegessen noch getrunken. Und so war es auch nicht gelogen, dass ich auf die Frage des Blinden, ob ich Angst hätte, wenn ja, vor was, ein klares Nein zurückgab. Keine Angst, aber etwas rätselhaft kam mir diese Fahrt durchaus vor.  

Einige Zeit nach dem Mittag sagte der Blinde: „Ich möchte Ihnen danken, dass Sie keine Fragen stellen. Ein anderer an Ihrer Stelle wäre nervös geworden und hätte insistiert, wohin wir führen. Daher gehe ich ganz einfach davon aus, Sie ahnen, in wessen Auto Sie sitzen und zu welchem Ziel wir unterwegs sind.“
  „Ich denke, ich ahne es nicht nur, sondern ich weiß es sogar. Es geht um Brücke sieben. Und um meinen Vater.“
  Er lächelte anerkennend, und da das Handy erneut in seiner Jackett-Tasche summte, nahm er es heraus und redete, ohne die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen, einige Sätze hinein. Er benutzte wieder die künstliche Sprache, deren Inhalt und Struktur ich nicht nachvollziehen konnte. Dennoch war mir die Bedeutung seiner kurzen Erwiderung klar. Er, wir sollten nicht gestört werden.   Wir fuhren eine Weile schweigend, dann hob der Blinde das Mobil-Fon, das er in der Hand behalten hatte, und drückte auf drei Tasten. Prompt stieg hinter den Vordersitzen des Autos eine dicke Plastikwand empor. Sie fuhr unterhalb des Stoffhimmels in eine vorgezeichnete Nut und trennte den Blinden und mich vom vorderen Bereich. Der Fahrer konnte uns nicht mehr hören.
  „Gegenüber Ihrer letzten Konsultation hat sich Entscheidendes geändert“, sagte er, ohne auf die Unterbrechung durch den Anruf und die aufgezogene Trennwand einzugehen. „Das damals entwickelte Programm wird komplett umgesetzt. Mit einigen Modifizierungen, Verbesserungen. Es ergeben sich ja beständig neue Erkenntnisse und Fortschritte. Wichtig ist auch die Optimierung unserer Erfolgsaussichten. Wir haben inzwischen eine stabile Quote von einhundert Prozent erreicht. Und somit wird es nun ernst. Genauer: Es ist ernst.“
  Mir wurde es mulmig. Jetzt doch. Kam da nicht ungeheuer was auf mich zu? Ich weiß nicht, warum, aber ausgerechnet jetzt fiel mir der Wagen ein, den ich abholen sollte, wollte. Tineke fiel mir ein. Mein Onkel Edward Erster, die Henriette, selbst Jonathan und Clements.
  „Sie müssen wegen der aktuellen Situation keine Angst bekommen“, beruhigte mich der Blinde, als hätte er einen Rutsch meines Herzens bemerkt. „Auch nicht wegen der nun folgenden Schritte. Sie werden, wenn Sie das später wünschen, garantiert zu Ihren Leuten zurückgebracht. Und das Auto, das Sie aus der Schweiz abholen sollen, ist bereits auf dem Weg. Es steht, wenn Ihre Freundin morgen von der Arbeit kommt, bei ihr vor dem Wohnblock. Wir werden es direkt hinter dem Auto Ihres Freundes Jonathan abstellen. Die Papiere und die Schlüssel wird Ihre Freundin im Briefkasten finden.“ Er wandte wieder das Gesicht zu mir, und es war, als würde er mich anstarren. Ein Blinder, der sehen konnte. Er sagte: „Sie haben ab jetzt noch fünf Minuten Zeit, um aus dem Projekt auszusteigen und sich gegen die Begegnung mit Ihrem Vater zu entscheiden. Niemand würde Ihnen etwas vorwerfen. Es sei denn Sie selbst. Später.“ Immer noch war sein Gesicht auf mich gerichtet. „Wenn Sie also das Begonnene abbrechen möchten, werden wir in Kürze halten, und man bringt Sie zu jener Autobahnstrecke, auf der der Wagen Ihres Onkels überführt wird. Sie würden den Wagen übernehmen, und wir zögen uns zurück. Wenn Sie später in Berlin einträfen, würde Ihre Freundin nichts von dem Einschnitt in Ihren Tagesablauf mitbekommen.“  

Folge 33 vom 02. Mai 2020  

Ich schloss die Augen. Ich lächelte, weil ich in meinen Gedanken Tinekes überraschtes Gesicht sah. „Donnerwetter! Schon zurück. Und das Auto. Tatsächlich.“ Wir hätten den Rest der Woche für uns. Die Abende. In den spätsommerwarmen Biergärten und in ihrer Wohnung. Vielleicht würde ich die Verlobungsringe besorgen und wir konnten uns ein neues Rollenspiel ausdenken, mit dem wir unsere Zeit ausfüllten. Mal sehen, welches.
  „Nein“, entgegnete ich, „es ist entschieden. Ich bleibe. Ich möchte ihn sehen. Und mit ihm sprechen.“
  Ich glaube, er lächelte erleichtert. Sein erstes Lächeln in meinem Beisein. Oder auch nicht. Er tastete jedoch wieder über sein Mobil-Fon und drückte abermals drei Ziffern. „Dann beginnen jetzt die konkreten Sicherheitsmaßnahmen“, sagte er. „Bitte nehmen Sie das nicht persönlich. Es gibt nur ein paar ausgesuchte Mitarbeiter, die den nun folgenden Weg ohne Einschränkungen passieren dürfen. Ich gehöre zwar dazu, aber ich erlaube mir mal, Ihnen weiterhin Gesellschaft zu leisten. Im Übrigen, da die Maßnahme Eins in der Verdunkelung des Raumes besteht, wäre bei einem Blinden wenig in Sachen Veruntreuung oder böswillige Weitergabe von optisch erlangten Informationen zu befürchten.“ Sämtliche Scheiben, die uns umgaben, verdunkelten sich auf einmal, um mich herum wurde es schwarz. Ich sah nichts, ich war blind, ich war in Dunkelheit gefangen. Ein Zustand, in dem ich seit eh zu panischem Verhalten neigte. Schon als kleines Kind. Ich bekam Angst, nun richtig.
  Der Blinde beschwichtigte mich. „Sie müssen sich nicht fürchten. Es ist vorgeschrieben, dass Sie nicht sehen dürfen, wohin wir fahren. Deshalb muss es nicht völlig dunkel bleiben.“ Er schwieg mehrere Sekunden. Dann sagte er, und es klang das erste Mal ein bisschen herzlich: „Wir werden Ihnen zur Ablenkung einige Aufnahmen zeigen. Sie werden staunen. In die Dunkelheit habe ich Sie nur versetzt, damit Sie einen kurzen Eindruck von meiner Situation bekommen. Blind zu sein, Herr Erster, das ist mit das gemeinste Handicap, mit dem ein ansonsten gesunder und intelligenter Mensch, einer mit quasi überirdischen Ambitionen, im irdischen Terrain geschlagen sein kann.“ Im selben Moment, da er das sagte, passierte etwas, das meinen Atem stocken ließ. Unwillkürlich entfuhr mir ein Laut maßlosen Erstaunens. Ich krallte mich an den Polstern der Rückbank fest, ich glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Um mich herum war Weltraum. Sterne, Planeten, Schweife, Bahnen und vieles mehr. Die Dimensionen waren so vielfältig und fremd, auf dass meine Augen und mein Hirn dafür nicht ausgelegt schienen. „Ich zeige Ihnen diese Aufnahmen, damit Sie ein bisschen darauf vorbereitet sind, was Sie erwartet. Wie ich bereits sagte, unser Erkenntnisstand hat sich seit Ihrer letzten Konsultation erheblich weiter entwickelt. Und auch räumliche Änderungen hat es gegeben. Der Kontakt zu Ihrem Vater ist nun nicht mehr von einer Bodenstation aus möglich.“
  Ich entspannte mich, und ich glaube, ich gewöhnte mich in der folgenden Stunde sogar an das Weltraumpanorama. Ich hielt meinen Blick immer wieder auf einzelne Punkte oder lineare Bahnen gerichtet, die ich auf diese Weise mit meinen begrenzten Wahrnehmungsmöglichkeiten zu betrachten und zu ergründen suchte. Und ich wagte, als die Limousine plötzlich langsamer fuhr und die Weltraum-Aufnahmen in das allmählich wieder zunehmende Außenlicht hinein schmolzen, schüchtern zu fragen: „Sind die Aufnahmen von ihm?“  

Der Flugplatz. Waren wir angekommen?
  „Es ist zwar jetzt wieder hell in unserer Kabine, aber Sie werden nichts von der Umgebung sehen können. Keine Gebäude, keine Menschen. Nur die Lichtspender in den Plastikscheiben. Sicherheitsstufe. Tut mir leid.“ Der Begleiter hatte mir sein Gesicht wieder zugewandt. „Ich hoffe, die Fahrt ist Ihnen bekommen und ich war nicht zu streng mit Ihnen. Ich habe ja nur begrenzten Spielraum. Legen Sie meine gelegentliche Wortkargheit bitte nicht als negative Einstellung Ihnen gegenüber aus.“ Er wirkte freundlich. Auf einmal. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er von Geburt an blind sei. Und: Welche Rolle er spielte, welchen Rang er in dem undurchsichtigen System bekleidete. Sicher gehörte er schon zu den wichtigen Leuten. Zu jenen, denen die neue Sprache zugänglich gemacht worden war. Doch der Mut fehlte mir, oder ich war einfach zu höflich, zu taktvoll. Vor allem zu beeindruckt. „Ich übergebe Sie nun an die nächste Instanz“, beschied er mich. „Ihre neue Begleitung ist im Verhältnis zu mir ungleich charmanter und attraktiver.“
  Von außen wurde der Wagenschlag geöffnet. Aber nicht der Chauffeur wartete auf mich, vielmehr eine Frau. „Machen Sie’s gut“, wünschte mir der blinde Mann. Ich wollte mit „Auf Wiedersehen“ antworten. Doch ich meinte, dies zu einem Blinden nicht sagen zu dürfen. So beließ ich es bei einer einfachen Erwiderung: „Sie auch. Danke.“
  „Hallo, Herr Erster. Guten Tag.“ Es war ein völlig nahtloser Übergang. Eine Übergabe, eine Übernahme. Ich stieg aus, die Tür der Limousine schloss sich, das Fahrzeug verschwand. Ich stand in einem großen Raum. „Dies ist die Schleuse, ich bin Tonya.“ Sie trug ein schwarzes Kostüm, darunter eine hochgeschlossene Bluse in Flieder. Sie sah wirklich gut aus, der Blinde hatte nicht übertrieben, obwohl er sie nicht hatte sehen können.
  „Wohin werde ich geschleust?“, fragte ich. Ich meinte, sie würde über den von mir versuchten Scherz lachen oder so tun, als fände sie die Bemerkung lustig.
 Mitnichten. „Wenn Sie mir bitte folgen.“ 
  Ich folgte. Der Weg führte durch einen künstlich beleuchteten Gang, dessen Polster-Beschichtung an Decke, Wänden und Boden jeden Laut absorbierte und auf dem wir über einen leichten Anstieg allmählich in ein höheres Geschoss gelangten. Nach etwa zwei Minuten erreichten wir eine offene Tür. Nein, es war keine Tür. Es war einfach ein offenes Segment. Vermutlich ließ sich die Wand an jeder beliebigen Stelle auf diese Weise öffnen.   Zum Staunen kam ich nicht. „Wenn Sie hier bitte eintreten und danach den Anweisungen, die Sie über Funk erhalten, folgen.“ Tonya stand neben der Öffnung, jetzt lächelte sie sogar. Es war ein unverbindliches, dienstverpflichtetes Lächeln.
  Ich trat ein, das Segment schloss sich von selbst hinter mir, und man konnte von der Öffnung in der Wand, durch die ich gekommen war, nichts mehr erkennen. Ehe ich mich weiter umblicken konnte, meldete sich die angekündigte Stimme. Sie gehörte zu einer Frau, jedoch nicht zu Tonya, und ihr Ursprung ließ sich nicht lokalisieren. Irgendwie füllte diese Stimme den gesamten Raum.
  „Bitte gehen Sie viereinhalb Schritte geradeaus, bitte öffnen Sie die Tür der vor Ihnen befindlichen Kabine, bitte treten Sie ein, bitte bleiben Sie jetzt stehen.“ Die Anweisungen waren sehr präzise und meinen Bewegungen und Schritten genauestens angepasst. Ich nahm von dem Raum nur die kahlen Wände und die Kabine wahr, und ich bemerkte, dass sich die Schiebetür hinter mir schloss. Danach meldete sich die Stimme der Frau in meiner Kabine wieder. „Bitte legen Sie jetzt alles ab, was Sie tragen. Bitte legen Sie die Sachen auf den vor Ihnen befindlichen Tisch.“ Ich befolgte die Anweisungen. Schon als das erste Kleidungsstück auf dem Tisch lag, setzte sich dessen Platte in Bewegung. Ein Laufband also. Die Sachen wurden Stück für Stück abtransportiert. Sie verschwanden in einer Öffnung in der Kabinenwand. Nachdem ich mich der Kleidung, meiner Uhr und des Handys entledigt hatte, wurde ich von der Stimme aufgefordert, mich vor die linke Seitenwand der Kabine zu stellen und, nachdem sich diese von selbst geöffnet hatte, hier hindurch zu bewegen. Die Wand schloss sich hinter mir. Ich stand auf einem gläsernen Plateau. „Achtung, Herr Erster, Sie werden nun gecheckt.“ Von oben, unten und von den Seiten tauchten Lichtstrahlen in unterschiedlichen Farben auf. Sie streiften berührungslos über sämtliche Stellen meiner Haut, und sicherlich durchleuchteten sie auch meinen Körper. Bevor ich mich fragen konnte, ob die Strahlen radioaktiv oder anderweitig abträglich sein konnten, meldete sich die Stimme erneut. Sie klang gleichmäßig freundlich und entspannt. „Herr Erster, Sie haben von diesem Check nichts zu befürchten. Die Strahlenintensität ist zu gering, um Ihnen irgendeinen Schaden zuzufügen.“ Ich drehte mich nervös, mein Blick folgte unruhig einigen der Lichtstrahlen. „Herr Erster, bitte haben Sie Vertrauen, dieser Check dauert vier Minuten und zwölfeinviertel Sekunden. Er beinhaltet neben einem Controlling auch Ihre Immunisierung. Im letzten Teil der Strahlen-Dusche aktivieren wir für Sie ein personenbezogenes Anti-Viren-Programm und eine Firewall. Ihr persönlicher Sicherheits-Code, den ein Scanner für Sie ermittelt, wird in unserer Zentrale gespeichert, niemand hat darauf Zugriff.“
  Ich nickte, ich schloss die Augen und wartete. Vertrauen haben, mich in die Abläufe ergeben. Oder was hätte ich sonst tun sollen?
  „Herr Erster, die Sicherheitsmaßnahme ist beendet. Bitte gehen Sie nun in die Kabine zurück, in der Sie Ihre Sachen abgegeben haben.“ Ich öffnete die Augen und befolgte die Anweisung. „Herr Erster, bitte nehmen Sie die Sachen, die vor Ihnen auf dem Tisch liegen. Das ist für die Dauer des Aufenthalts bei uns Ihre Kleidung.“ Es war ein zweiteiliger Anzug in Mint und aus einem völlig fremdartigen Gewebe, den sie mir hingelegt hatten. Er passte, als sei er maßgeschneidert, ohne dass es eines Stückes an Unterwäsche oder etwa eines Pullovers bedurft hätte.
  Der Anzug stand mir, nachdem ich in das Unter- und danach das Oberteil geschlüpft war, unerwartet gut. Ich konnte es im Spiegel, der sich nun wandgroß in der Kabine zeigte, erkennen. Ein neuer Anzug, eine neue Identität.
  Ein neuer Mensch? 

Es war derselbe Flur wie vordem, über den ich nun wieder geführt wurde. Wieder von Tonya. Wieder verlief der Boden ansteigend, und wieder gelangten wir vor ein fehlendes Segment in der Seitenwand. „Wenn Sie hier bitte eintreten und danach den Anweisungen, die Sie über Funk erhalten, folgen.“ Ich tat es wortlos, ich staunte erneut, wie leise und komplett sich die Wand hinter mir schloss. „Bitte gehen Sie vier bis fünf Schritte geradeaus und nehmen Sie auf dem Sessel Platz, der vor Ihnen steht“, sagte die raumfüllende Frauenstimme.
  Ich empfand auch jetzt, da mir die Situation nicht mehr neu war, eine heftige Anspannung. Es ließ nach, als ich saß und sich vor mir auf einer Wand ein riesiger Bildschirm auftat. Das hübsche Gesicht einer Frau erschien. Ich war mir nicht sicher, aber ich meinte, sie sei Tonya.
  Sie sagte: „Hallo, Herr Erster. Guten Tag.“
  Ich nickte, ich fragte: „Sind Sie nicht Tonya? Warum unterhalten wir uns nicht von Angesicht zu Angesicht?“
  Sie gab keine Antwort. Zumindest nicht auf meine direkte Frage. Gleichmäßig und unaufgeregt setzte sie ihre Rede fort. „Ich gebe Ihnen nun einen Überblick über den Verlauf Ihrer Konsultation in unserem Space–Center. Alles ist so abgestimmt, dass für Sie kein Zeitverlust entsteht. Sie haben soeben den Sicherheits-Check absolviert. Es hat keine Komplikationen gegeben. In Ihren persönlichen Sachen und in Ihrer anatomischen Konstitution wurden keine Hinweise auf beabsichtigte Einwirkungen zwecks Abhörtätigkeit oder Manipulation festgestellt. Wir werden uns daher ohne Verzug dem Kern Ihrer Konsultation nähern.“
  Ich nickte, und spontan fragte ich: „Das heißt, ich darf meinen Vater sofort sehen, sprechen?“
  Vielleicht wurde meine Frage gar nicht wahrgenommen. Oder sie sollte nicht wahrgenommen werden. „Herr Erster, trotz – oder auch wegen – der knapp bemessenen Zeitvorgabe gehen wir schrittweise vor. Um Ihrem Vater begegnen zu können, müssen Sie abermals den Standort wechseln. Diesmal liegt eine größere Distanz vor Ihnen. Wir befinden uns derzeit auf einem Flughafen, in einem komplett abgeriegelten, gesicherten Bereich. Von hier aus werden Sie in Richtung Nord-Osten geflogen. Zu unserer Basisstation. Von der Basisstation besteht die Möglichkeit, innerhalb weniger Zeitabschnitte mit der Raumfähre zur Space-Plattform zu gelangen, von wo aus es sich am günstigsten und vor allem ohne die Gefahr von Fremdeinwirkungen mit unseren Zielobjekten im All kommunizieren lässt.“
  Ich wurde blass. „Soll das heißen, ich werde in den Weltraum geschossen?“ 

Folge 34 vom 03. Mai 2020   

Einige Stunden später war ich über den Wolken. Ich hatte mich nach der wenig zweideutigen Ankündigung eines Weltraumtrips einigermaßen beruhigt. Obschon, das Herz schlug schneller als gewöhnlich, der Puls hämmerte keineswegs im gewohnten Takt. Ich saß in einem der Appartements, in die das Flugzeuginnere aufgeteilt war. Da man mich als Letzten gebracht hatte und sämtliche Türen geschlossen gewesen waren, wusste ich nicht, wie viele Personen, vor allem welche, noch mitreisten.
  Neben mir saß Tonya. Sie hatte mich begleitet und vor dem Start gefragt, wie ich nun weiter mit ihr kommunizieren möchte. Ob per Bildschirm oder persönlich. Ich hatte sie heftig am Arm festgehalten, und endlich hatte sie gelächelt, von innen heraus, mit einem sichtlichen Verständnis. Dennoch hatte sie mich beschwichtigt: „Natürlich kann ich mich zu Ihnen setzen, Herr Erster. Trotzdem ein Hinweis: Wenn Sie auch allein sitzen bleiben, wir sind bei Ihnen. Wir sehen Sie, wir greifen gegebenenfalls ein.  Glauben Sie es?“
  Ich glaubte es nicht nur, ich wusste es. Aber ich sagte: „Ich mag Sie. Schon deshalb ziehe ich Ihre direkte Anwesenheit einem Dialog per Bildschirm vor. Ich hatte ja nicht gedacht, dass sich jemand wie Sie um mich kümmert. Bei meinem vorigen Besuch hatte ich überhaupt keine Hostess.“ 
  „Schön“, erwiderte sie, „das ist eine interessante Aussage. Vor allem in Bezug auf spätere Entscheidungen und Schritte. Allerdings bin ich keine Hostess. Ich arbeite hauptverantwortlich im Rahmen unseres Projektes. Sie werden darüber mehr erfahren.“   Ich staunte. Ich fragte: „Und auf dem Bildschirm, von dem ich soeben Anweisungen und Erklärungen erhalten habe, waren das nicht Sie?“
  Sie lächelte nachsichtig. „Nein, das war kein Mensch, jedenfalls kein wirklicher. Es war ein Gesicht aus der Animation. Stimme und Aussehen wurden künstlich erstellt. Natürlich mit höchstem Niveau. Wenn Sie mich damit verwechseln, ist das direkt ein Kompliment.“
  Ich staunte wieder. Ich schwieg. Ich sah zu, wie sie den Platz wechselte. Hatte sie eben noch neben mir gesessen, so saß sie mir jetzt gegenüber. Sie sah mir in die Augen, sie lächelte, und ich begriff das diesmal als Ausdruck persönlichen Stolzes. „Ich möchte Ihnen noch kurz meinen Aufgabenbereich erklären“, sagte sie. „Ich bewege mich seit einem Jahr auf Ebene drei. Das ist hoch. Zumal ich ja doch sehr jung bin.“ Ich sah, wie sie dazu ansetzte, ihren Rang und den Status weiter zu präzisieren, sich jedoch rechtzeitig abfing. „Entschuldigung, ich möchte, ich darf gar nicht so viel erzählen. Jetzt noch nicht“, sagte sie, und ich akzeptierte es.
  Immerhin mutmaßte ich: „Und diese neue, die künstliche Sprache, beherrschen Sie sicher auch.“
  Sie nickte, und prompt redete sie in der fremden Sprache soviel, dass in etwa ein ganzer Satz zustande kam.
  Ich verstand nichts, ich entgegnete: „Bedaure, das werde ich nie lernen. Es wird einfach keine Gelegenheit geben.“
  Sie widersprach. „Wir halten Sie durchaus für sprachbegabt.“
  Ich widersprach ebenfalls. „Ich meinte keine fehlende Begabung, sondern ich sprach von der fehlenden Gelegenheit zum Erlernen der Sprache. Diese Gelegenheit wird sich für mich niemals bieten.“
  „Niemals ist eine Kategorie, die bei uns schon ab Ebene sieben nur noch vage in Betracht gezogen wird. Wir loten immer weiter aus, wir arrangieren uns mit Dimensionen, für die sich vergleichsweise das klassische menschliche Niveau, auch das hohe, bestenfalls im Entengang fortbewegt. Herr Erster, wir tauchen in das Weltall ein. Genauer gesagt: Wir sind schon eingetaucht. Wir überbrücken unerhörte Weiten. Visuell, akustisch und auf dem Wege der intergalaktischen Logistik. Allein die Erfindung unserer eigenen Sprache gibt uns die Möglichkeit, viel mehr auszudrücken und zu vermitteln als die hinlänglichen Sprachen an Potenzial besitzen. Auch die Ihre. Wir können damit, wenn die Situation eintreten sollte, und sie wird hoffentlich eintreten, mit völlig fremden Sozio-Kulturen kommunizieren. Wir selbst entwickeln uns allein über die Sprache zu einer neuen, einer bereinigten Sozio-Kultur.“
  Ich wollte beleidigt sein. So abgewatscht, erniedrigt, ausgelacht. Als zurückgeblieben abgetan. Doch sie hatte nicht herablassend oder überheblich geredet. Sie hatte geschwärmt und mich begeistern, mitreißen wollen. Sie reichte mir die Hand. Symbolisch, aber auffordernd. Dieser Apparat, diese Organisation reichte mir die Hand, man wollte mich haben. Oder bildete ich mir das einfach ein? War ich, wenn ich alles, das sich seit einiger Zeit um meine Person gedreht hatte und immer noch drehte, zusammenrechnete, nicht auch für den Einstieg in diesen Apparat mit seinem speziellen Projekt vorgesehen? Oder realistisch ausgedrückt: Sollte ich nicht verschlungen, eingesaugt, einverleibt werden?  Ich stellte ihr ganz unversehens die Frage nach dem blinden Mann.
  Tonya zögerte sichtlich. Sie setzte mehrmals zum Sprechen an, hielt jedoch inne. Dann offenbarte sie es doch: „Er lässt sich Lurtz nennen. Er arbeitet in Ebene Eins, wo es nur eine einstellige Anzahl von Beauftragten gibt. Er wollte den Kontakt zu Ihnen unbedingt persönlich herbeiführen. Er wollte auf jeden Fall auch Ihre Begleitung selbst übernehmen. Er ist damit eine Gefahr eingegangen, die nach unseren Statuten für jemanden wie ihn nur in extremen Ausnahmefällen zumutbar ist.“ Sie warf mir einen bedeutsamen Blick zu. „Daran erkennen Sie Ihren Stellenwert. Oder?“
  „Und mein Vater? Ernesto Erster? Welche Rolle spielt er?“ 
  Sie straffte sich. „Über Ihren Vater, Professor Ernesto Erster, will, muss ich Ihnen natürlich mehr als nur einen Satz berichten. Das geschieht in wenigen Minuten, in einem offiziellen Kontakt.“  
  Ich erschrak. „Wird es wieder nur ein künstliches Gesicht sein, das über einen Bildschirm zu mir spricht?“  Sie lachte spontan. Doch sie beherrschte sich gleich. „Nein. Diesmal reden Sie wirklich mit mir. Über den Bildschirm und als Animation geht es aber auch.   Möchten Sie es?“  

Tonya saß nun neben mir. Wieder. Obwohl sie mich nicht berührte, spürte ich sie. Ihre Bewegungen, ihren Duft. Ich glaube, sie roch nach Flieder. Vielleicht wegen der Farbe ihrer Bluse. Ihre Ausstrahlung war bemerkenswert, ebenso der Bann, in den sie mich zog. Ich wollte dagegen ankämpfen, indem ich in meinen Gedanken die zahllos vorhandenen Bilder sortierte. Ich suchte nach dem Bild von Tineke. Ich fand es schnell, doch ich konnte es nicht festhalten. Warum nicht?
  „Ich bewundere Ihren Vater sehr“, sagte Tonya. Sie sagte es einfach so, und es klang schwärmend, und da sie sofort bemerkte, dass sie sich so wohl nicht hatte äußern dürfen, korrigierte sie sich in sichtlicher Verlegenheit gleich. „Diese Aussage war jetzt natürlich nicht Bestandteil unseres offiziellen Kontakts.“ Sie bewegte den linken Arm und drückte auf der Tastatur, die sich neben ihrer Sitzlehne befand, mehrere Ziffern. Unser Appartement versank in Dunkelheit, vor uns erschien auf der Wand ein Bildpanorama. Eine Stimme meldete sich und erklärte, dies sei das Segment mit der Nummer dreitausendachthundertzweiundzwanzig im vordernördlichen Achsenbereiche des neunten … Tonya drückte wiederum auf die Tastatur. „Das wird zu schwierig, wenn Sie nun gleich den Standort messbar fixieren sollten.“ Ich atmete erleichtert auf.
  „Es wäre übrigens zulässig, wir schalten den offiziellen Begleittext zurück und ich erkläre Ihnen die Flugbahn des Objektes mit eigenen Worten.“
  „Gern“, entgegnete ich. Ich meinte das ehrlich.
  „Ich muss es nur eben eingeben. Für das Protokoll und für Ebene Eins.“ Sie drückte wieder einige Ziffern auf der Tastatur, danach redete sie ein oder eineinhalb Minuten in der fremden Sprache.
  Ja, ich versuchte abermals, aus dem Gesagten etwas für mich herauszufiltern. Ein Wort, ein kleines Stück Struktur. Es ging nicht. Ich war nicht mal fähig, einzelne Buchstaben oder Satzzeichen der neuen Sprache herauszusezieren. Nicht mal vermochte ich zwischen Vokalen und Konsonanten zu unterscheiden.
  Sie bemerkte es. Sie redete tröstend: „Nicht verzweifeln, Herr Erster. Es gibt Lösungen. Welche, die einfach und genial in einem sind. Und völlig schmerz-, allerdings auch unabdingbar kompromisslos. Dafür umso verheißungsvoller.“ Sie sah mich bedeutungsvoll an. „Übrigens wäre es für Sie aus einem bestimmten Grund besonders nahe liegend, sich mit der neuen Sprache zu befassen. Wissen Sie, wer der Urheber ist?“
  Ich ahnte es, ich wusste es vielleicht. 
 „Ihr Vater hat einen enormen Anteil an der Entwicklung der Sprache. Wir haben uns zwar offiziell auf die Aussage festgelegt, dass die Computer und die Menschen je zur Hälfte an der Entwicklung beteiligt waren und diese Relation auch bei eventuellen Entschlüsselungserfordernissen gilt, damit die Computer wegen eines möglichen Image-Verlustes nicht irgendwann meutern. Aber realiter geht fast alles auf Professor Erster zurück.“  
  „Arbeitet mein Vater auch auf Ebene Eins?“

Folge 35 vom  04. Mai 2020  

Sie sah mich zunächst fassungslos an. Dann lächelte sie jedoch. „Ach ja, das können Sie nicht wissen. Professor Erster steht weit über Ebene Eins. Er ist die absolute Kapazität in unserem Organ. Nicht nur die Entwicklung der neuen Sprache geht auf ihn zurück. Auch das Forschungsprogramm, die Umsetzung dieses Programms sowieso, die großartigen Ziele und Ideen, fast immer ist er am Ursprung beteiligt. Er ist die Seele, um mal diesen veralteten Begriff zu benutzen, unseres Organs.“ Sie schwieg, und es war ein Signal ihrer grenzenlosen Bewunderung für jenen Mann, den Professor, meinen Vater. Auf der Bildschirmwand jedoch begannen mehrere Lämpchen zu blinken, um sie an die Fortsetzung des Vortrags zu erinnern. Und natürlich, um noch etwas zu fordern: mehr Zurückhaltung. Sie nickte mir kurz zu, was hieß, ich selbst hätte allen Grund, auf meinen Vater stolz zu sein. Dann jedoch lenkte sie ihre und meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm und begann zu erklären.
  Da ihr Vortrag logisch aufgebaut war und sie verständliche Formulierungen gebrauchte, hatte ich kaum Mühe zu folgen. Sie zeigte auf einer Karte unseres Sonnensystems, wo und zu welchen zeitlichen Konstellationen Raumschiffe von der Erde aus starten konnten, welchen Weg sie nehmen würden, um diesen Wust an Sternensystemen, der üblicherweise als Milchstraße bezeichnet wurde, zu verlassen. „Denn“, so bekräftigte sie, „die Forschung ist bis zu einem bestimmten Zeitpunkt stetig davon ausgegangen, dass unser Sonnensystem in dieser Milchstraße beheimatet wäre. Schon immer nämlich. Aber das ist falsch. Ihr Vater, Herr Erster, hat diese Behauptung sehr stichhaltig widerlegt. Wir gehören eigentlich nicht in diese Milchstraße. Unser Sonnensystem wurde aus einer fern gelegenen galaktischen Sphäre auf seinen jetzigen Platz geschleudert. Und der Vergleich mit den Substanzen anderer, ebenso weit entlegener Himmelskörper hat das mittlerweile eindeutig bestätigt.“
  Wieder blinkten auf dem Bildschirm mehrere Lämpchen. Sie mahnten Tonya, nicht vom vorgegebenen Thema abzuschweifen. „Ich ereifere mich immer viel zu schnell, und dann verlasse ich den Weg der wissenschaftlichen Vortragsweise“, gab Tonya zu. „Sicherlich finden Sie mich deswegen lächerlich.“
  Ich schüttelte den Kopf. Ich tat es flüchtig, denn ich fand ihre Ausführungen durchaus interessant. Nur war da jene wesentliche Frage, die mich mehr als alles bewegte: „Mein Vater, ist er nun vor zehn Jahren mit einem Schiff ins All gestartet und diese lange Zeit unterwegs gewesen, oder befindet er sich sozusagen in Reichweite auf einer festen Raumstation?“
  „Ja“, erwiderte sie, „ganz klar, sie wollen Antworten. Bei den letzten Konsultationen ist man eher unkonkret mit Ihnen umgegangen. Das hat die jeweilige Situation erfordert. Wir hatten Geheimhaltungsstufen, die man sich kaum vorstellen kann. Inzwischen sind wir nicht nur auf der Forschungsebene viel weiter. Wir könnten – nicht nur theoretisch – innerhalb kurzer Zeit unsere Anbindungen an den Planeten Erde kappen und mit der festen Station ins All ziehen. Wir hätten alles, was wir brauchen, bei uns. Auch die Menschen. Wir könnten Flugzeiten von Jahren, Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten und noch mehr unbeschadet überstehen. Wir verfügen über perfekte Systeme.“
  „Und wohin würde die Reise gehen?“
  „Dorthin, wo sich Ihr Vater bereits aufhält. Es nimmt, seit wir über die neuen Antriebssysteme verfügen, eine Flugzeit von zehn Jahren in Anspruch.“ 
  „Ist er so lange mit dem Raumschiff unterwegs gewesen? Zehn Jahre?“   „Nach Erdenzeitrechnung zehn Jahre.“ Sie stand jetzt auf, stand vor der Bildschirmwand. Sie erklärte: „Nach unseren inzwischen gesicherten Forschungsergebnissen teilen wir die Raumabschnitte noch mal in Unterabschnitte und die Unterabschnitte in Segmente und diese nachher wiederum in Achsenbereiche ein. Hier, sehen Sie mal, welchen intergalaktischen Weg das Raumschiff Ihres Vaters zurückgelegt hat.“ Sie zeichnete mit einem Leuchtstab Linien auf den Bildschirm, die sich auf dunklem Feld gründeten und zwischen Haufen von hellen und matten Punkten hindurch zogen. Wir reisten sozusagen im Zeitraffer dieselbe unvorstellbar weite Strecke, wobei der Bildschirm von Segment zu Segment schwamm und ich, wie zuvor in der hinteren Kabine der Limousine, nicht in der Lage war, in jenen Dimensionen zu denken und wahrzunehmen, die dafür erforderlich waren.  
  Andererseits genoss ich die Vorführung. Immer mal wieder ließ Tonya den Bildfluss stoppen. Sie vergrößerte einzelne Ausschnitte. „Dies ist ein Planet, von dem wir dachten, man könne hier menschliches Leben ansiedeln. Ihr Vater hat ihn bereits nach vier Jahren gefunden. Sehen Sie mal die blaugraue Front!“ Ich schaute hin. Ich staunte: „Wolken? Das heißt, Wasser, Regen?“ Sie vergrößerte die Bildausschnitte abermals. Es ging ganz problemlos. Und die Kamera näherte sich dem Planeten zusehends. Sie durchstieß die Wolken. Mehrere Flecken von blauer Farbe, die von einer Vielzahl weißer Linien durchzogen und von riesigen weißen Feldern durchbrochen und umgeben wurden.  
  „Schnee?“, fragte ich spontan.     Tonya schüttelte den Kopf. „Die Computer haben das zunächst gemeldet. Sie hatten Beweise vorgelegt, die unwiderlegbar schienen. Professor Erster hat dann kurzerhand nachgewiesen, dass es sich nicht um Schnee, sondern um gewaltige Salzvorkommen handelt, meterdick und flächendeckend und in einer bis dato noch nicht für existent gehaltenen hohen Konzentration. Damit stand fest, dass hier kein menschliches Leben ansiedelbar ist. Die Korrektur hat zu einem kolossalen Konflikt zwischen unseren Wissenschaftlern und den Computern geführt. Sie ahnen nicht, Herr Erster, wie eitel und uneinsichtig moderne Computer sein können. Unser Technik-Psychiater musste sein ganzes Fachwissen aufbieten, um die elektronischen Hirne zur Fortsetzung ihrer Arbeitsaufgaben zu bewegen. Oje“, unterbrach sie sich, denn die Lämpchen blinkten erneut, „ich schweife schon wieder ab. Das ist nicht vorgesehen.“ Sie wartete, bis die Lämpchen verlöscht waren. „Wir haben natürlich andere Himmelskörper gefunden, auf denen die Bedingungen für menschliches Leben annehmbar gewesen wären. Zumindest laut Computer-Befund. Aber der Leiter der Expedition hat sich gegen eine Besiedelung entschieden. ‚Wir werden etwas finden, das für unsere Lebensverhältnisse optimal ist. Und dann werden wir diesen unbekannten Planeten für uns kultivieren. Wir werden von vornherein eine Gesellschaft schaffen, die voller Güte und Gerechtigkeit ist.’ Die Worte stammen von ihrem Vater.“ Sie sah mich erwartungsvoll an.  
  Sollte ich ein Loblied auf meinen Vater singen? Konnte ich das?    „Herr Erster, Ihr Vater hat nun den Planeten, nach dem er lange gesucht hat, gefunden. Dort können, werden Menschen glücklich leben. Frei, ohne Hass und Gewalt, ohne Geldpro­bleme. Es wird niemals zu einem Klimakollaps oder zu Seuchen kommen. Niemand wird das Wort Krieg kennen. Begreifen Sie, welch ein Dienst der Menschheit erwiesen wurde?“ Und da ich schwieg, kündigte sie an: „In der Raumstation, die Sie am Ziel dieser Expedition betreten werden, werden Sie Aufnahmen des neu entdeckten Planeten zu sehen bekommen. Das wird Ihre Zweifel beseitigen.“  
  Prompt blinkten auf dem Bildschirm die Lämpchen.  

Ich hatte die Vermutung, dass jene Turbulenzen, in die unser Flugzeug mitten in dem offiziellen Kontakt geriet, nicht zum ersten Mal auftraten. Man ging trotz der Heftigkeit gelassen damit um. Auf dem Bildschirm erloschen die Weltraumansichten, es erschien eine Art Schrift. „Eine Sturmwarnung. Wir sollen uns setzen, anschnallen und die Sitze auf Liegestellung kippen.“ Ich fragte nicht, ob dies die Sprache war, die künstliche, erfunden von meinem Vater, nun als visuelle Erscheinung. Ich gehorchte der Weisung, Tonya ebenfalls. Nun verschwand auch die Schrift, nur mehr ein Lichtchen schien, damit wir nicht völlig im Dunkeln waren.  
  Wir lagen nebeneinander. Tonya, ich. Es war trotz der abwegigen Bedingungen romantisch.   Ich schaute zunächst auf das Lichtchen, danach wandte ich mich zur Seite. Zu ihr. Sie blickte mich an. Eine ziemliche Weile musste sie es bereits getan haben. Ich lächelte angestrengt. Sie blieb ernst. Sie sagte: „Das ist zum Beispiel einer der Unterschiede. Diese Wetterabhängigkeit innerhalb der Erdatmosphäre. Ein bisschen Gewitter kann dich auf diesem Planeten das Leben kosten. Oder du wirst so durchgerüttelt, dass du nie wieder in ein Flugzeug steigen magst. Schon gar nicht in ein Raumschiff.“
  Ich zog mein Lächeln zurück und erwiderte: „Im Weltraum, ist es da anders?“
  Jetzt lächelte sie. Sie sah beglückt aus. Es war der Gedanke an den Kosmos, an Raumschiffe, an Flüge durch dieses unendlich scheinende All. „Im Weltraum gibt es schon mal keine Luftlöcher, in die man sacken kann. Man schwebt, zugleich rast man, weil man eine unvorstellbar hohe Geschwindigkeit aufgenommen hat.“
  „Und diese gefürchteten Energiefelder? Und die Gesteinsbrocken und Kometen?“ 
  „Du siehst zu viele schlechte Filme. Wo nichts ist, kann kein Energiefeld entstehen. Und gegen andere fliegende Objekte kann man vorsorgen. Man muss ihnen rechtzeitig ausweichen oder sie selbst zum Ausweichen zwingen. Das ist Sache der Computer, die arbeiten so gründlich, es kann nichts passieren.“
  „Bist du schon im Weltraum geflogen? Zu anderen Himmelskörpern. Oder bei Erdumkreisungen.“ 
  „Oft“, erwiderte sie. „Ich war eigentlich noch ein Kind. Die Behörde hat es trotzdem erlaubt. Ich war perspektivisch für Expeditionen ohne Rückkehr vorgesehen. Und Erdumkreisungen sind sowieso kaum noch gefährlich. Für uns. Höchstens monoton. Mit vierzehn habe ich an richtigen Raumflügen teilgenommen. Einmal war ich mit einer Mannschaft fünf Jahre unterwegs. Seitdem bin ich vollends mit dem kosmischen Reisefieber infiziert. Es ist eine einzige Herausforderung. Immer die Erwartung, auf etwas zu stoßen, das so neu und so unvorstellbar ist. Immer die Hoffnung, die Erklärung unlösbar scheinender Fragen zu finden.“ Ja, sie sah mich immer noch an. Aber ihr Blick ging durch mich hindurch, er stieß in andere Welten. Sie sagte: „Ich wäre bereit, mein ganzes Leben durch den Kosmos zu fliegen. Nie wieder zurückzukehren zu dieser kleinen Erde. Oder zu einem anderen Planeten.“ Sie schwieg und schloss die Augen. Und sie fasste meine Hand. Ich dachte, warum tut sie es nicht. Warum füllt sie nicht ihr Leben mit einem unendlich währenden Raumflug aus? Sie könnte sich melden und meinem Vater hinterher fliegen. Jemand von Ebene Drei hatte doch gewiss die Kompetenz für eine lange, vielleicht lebenslange Expedition. Sie beantwortete die Frage, ohne dass ich sie aussprechen musste. „Es gibt Vorschriften, Erasmus. Dein Vater hat sie geprägt. Und er hat sicherlich Recht. Eine lautet, man muss, wenn man für ein derartiges Unternehmen zugelassen werden will, einen zuverlässigen Partner an seiner Seite haben. Es ist Voraussetzung.“ Sie zögerte. „Jemanden, den man … liebt.“ 

Folge 36 vom  05. Mai 2020  

Ich zögerte ebenfalls, bevor ich fragte: „Und mein Vater, hat er dort jemanden, den er … liebt?“ 
  Sie verneinte. „Er lebt ganz für die Wissenschaft. Er geht darin auf. Aber er ist eine Ausnahme. Noch.“
  Fast im selben Moment sackte unser Flugzeug mindestens zehn Meter in die Tiefe, wurde dann, nachdem es der Pilot mit einem klassischen Ruck abgefangen hatte, nach rechts geworfen und federte einige Male in meterhohen Amplituden auf und ab. Als es sich in seiner Flugbahn endlich wieder stabilisiert hatte, konnte ich ein Stöhnen nicht unterdrücken. Ich fühlte mich flau und zitterte sogar. Ich hatte die Augen geschlossen. Als ich sie kurz öffnete, sah ich Tonyas Gesicht über mir. „Geht’s wieder?“ Sie sah eher amüsiert als besorgt aus. Sie sagte: „Es kommt ziemlich oft vor, dass wir in derart rebellierende Luftschichten stoßen, wenn wir den Ural überqueren. Selbst mir wird dabei flau im Magen. Nach Jahren noch.“ Sie hatte ein Tuch in der Hand und wischte damit meine Stirn trocken. „Du hast geschwitzt, Erasmus. Und blass bist du auch.“ Ich hatte die Augen wieder geschlossen. Weil ich erschöpft war. Und weil ich es für besser hielt. In dieser Situation. „Ich mag dich“, sagte sie, „ich bin froh, dass ich die Order für deine Betreuung bekommen habe.“
   „Ja“, erwiderte ich. „Es geht mir schon besser. Aber ich müsste jetzt mal schlafen.“ 

Als ich erwachte, waren wir kurz vor der Landung. Die Maschine brummte in lauten Tönen. „Unsere Basis-Station ist nicht sehr groß, vor allem liegt sie sehr versteckt. Wesentliche Teile davon befinden sich unter der Erde“, erklärte Tonya. „Die Landebahn ist von oben abgedeckt. Sie ist daher ungewöhnlich kurz, und die Maschinen, die hier landen, brauchen besondere Bremskräfte. Das verursacht diesen Lärm. Und den heftigen Gegenschub.“ Die Lehne ihres Sitzes stand aufrecht. Sie sah von oben zu mir hinunter. „Wie geht’s dir? Du hast ja eine Ewigkeit geschlafen.“
   Ich wischte mit der Hand über meine Augen und die Stirn. Der Schlaf hatte alles, das ich seit dem Verlassen von Tinekes Wohnung erlebt hatte, neutralisiert. Ich fing an, zu rekonstruieren, zu begreifen. Ich fuhr abermals mit der Hand über Stirn und Augenbrauen und drückte die Lider nach unten.
   „Falls du es vergessen haben solltest, ich bin Tonya“, sagte sie. „Wir landen in wenigen Minuten etwa fünftausend Kilometer nordöstlich des Uralgebirges. Wir werden dieses Flugzeug verlassen und uns in die Basisstation begeben. Dort wartet eine wunderbare Weltraumfähre auf dich. Und auf mich. Wir fliegen zum festgelegten Zeitpunkt los und docken pünktlich im All an unsere Raumstation an. Und dort wird Herr Erster Senior mit Herrn Erster Junior sprechen. Über Bildschirmkontakt, aber absolut zeitsynchron. Vorher musst du allerdings noch ein paar Überprüfungen und Sicherheitsmaßnahmen überstehen und ein Gespräch mit einem Vertreter von Ebene Eins führen.“
   „Warum duzen wir uns?“, wunderte ich mich. 
   „Warum. Darum. Wenn ich jemanden mag, dann sage ich du zu ihm. Oder ich nenne ihn Erasmus. Und er darf und muss bitte Tonya zu mir sagen. Und du.“  
   „Ich habe eine feste Freundin. Wir lieben uns. Wir werden uns verloben.“ 
   „Ich weiß das, Erasmus. Ich habe Tineke gesehen. Ich habe ihre Stimme gehört. Ich saß in der Bahn hinter und neben ihr, als sie zu ihrer Arbeit fuhr. Im Supermarkt stand sie vor mir an der Kasse. In der Autobahnraststätte ist sie vor mir … na, du weißt schon. Sie ist hübsch. Und klug. Und sie hat Humor. Sie wird eine phantastische Ärztin. Und sie passt zu dir, wie unterschiedlich ihr auch seid.“ 
  Ich war entsetzt. Aber ich begriff auch die Unabdingbarkeit von Überprüfungen. 
  „Du kannst aber beruhigt sein, Erasmus. Wir sind nicht in eure Intimsphäre eingedrungen. Wir haben nur das Umfeld gecheckt. Die Kontakte. Es geht in solchen wichtigen Dingen nun mal nicht anders. Es steht sonst zu viel auf dem Spiel. Wir hier, die zu diesem Projekt gehören, leben selbst mit dem Wissen, bis zu einem gewissen Grad gläsern zu sein. Es dient unserer eigenen Sicherheit.“   
   „Habt ihr auch daran gedreht, dass Tineke diese lukrative Stelle in der Großklinik so überraschend bekommen hat?“   
   Sie seufzte. „Und wenn’s so wäre, wie schlimm wäre das?“   
   Ich schwieg.   
   „Es ist besser, du stellst deine Lehne senkrecht. Der Landeschub setzt unmittelbar ein. Mach dich auf einiges gefasst.“   
   Sie hatte Recht. Der Lärm nahm so sehr zu, auf dass ich glaubte, ihn nicht zu ertragen. Und nicht nur den Lärm. Die Bremskraft besorgte das Übrige. Das Fahrwerk der Maschine schien zu blockieren, so hart wurde sie zum Stehen gebracht, wurden wir gegen die Sitze gepresst. Selbst Tonya blieb nach dem endgültigen Stillstand noch gut eine Minute sitzen. Schließlich blies sie erleichtert eine Portion Luft durch den linken Mundwinkel. „Manchmal leben wir hart am Limit. Oder? Immerhin“, ihre Stimme drückte Anerkennung aus, „du hast das gut durchgestanden. Ich denke nicht, dass du nachher beim Fitness-Test Probleme haben wirst.“     
   Ich dachte, auch das noch, Fitness-Test.      
   Sie erriet meine Gedanken. „Alles halb so schlimm. Sobald wir durch den Eingangscheck sind, gibt’s einen leichten Imbiss, danach besagter Test, noch ein Gespräch mit Ebene Eins. Dann geht’s schon rüber in die Kapsel. Zwischendurch zeig ich dir mal einiges von dem, was es hier zu sehen gibt.“     
   Mir wurde schwindlig.     
  „He, Erasmus!“ Sie löste sich aus ihrem Sitz. „Bitte keine Schwachheiten. Denk dran, du wirst innerhalb der nächsten zehn Tage deinen Vater sehen.“      „Und dazu muss ich ins All? Kann man nicht wie bei den anderen Treffen von der Erde aus Bildschirmkontakt mit ihm aufnehmen?“    
   „Nein!“ Sie wurde resolut, dennoch nicht unfreundlich. „Damals war Ernesto noch nicht so weit entfernt wie jetzt. Das ließ sich leichter überbrücken. Im Übrigen willst du doch wohl nicht so dicht vor dem Ziel abspringen? Ist es dir egal, was ich dann von dir denke?“      
   Was sollte diese Frage? Mir fiel wieder diese seltsame Regel ein, die mein Vater, der Professor, aufgestellt haben sollte: Nur mit zuverlässigem Partner, mit jemandem, den man liebt, durfte man ins All reisen. Ich knurrte innerlich: Hohe Ansprüche festlegen, aber sie sollten in erster Linie, oder in Ersters Linie, für andere gelten. Nicht für Ernesto. Und natürlich, dieser zielgerichtet genährte Verdacht, der in mir schwelte: Tonya hatte mich als Partner für ihre auf Lebenszeit währende Weltraumreise ausgeguckt. Ihr Partner auf dem neuen Planeten. Da sie Tineke hinreichend ausspioniert hatte, würde sie es zwangsläufig auch mit mir getan haben. Nebenbei hatte sie sich offensichtlich in mich verliebt und beschlossen, mich ins All mitzunehmen. Eine viel versprechende Variante. Für sie. Ich war der Sohn des Genies, des großen Denkers und Anführers Ernesto Erster. Dieser Sohn würde auf jeden Fall eine Sonderstellung in allen Projekten einnehmen. Und seine Partnerin natürlich auch. Ja, sie hatte es gut geplant. Mich hatte sie geplant. Eingeplant.    Hatte sie? Nein, ich traute es ihr nicht zu.  

Folge 37 vom  06. Mai 2020      

Es wurde in der Tat nicht so schlimm, wie ich gemeint hatte. Essen, turnen, Hygiene, weitere Sicherheitsprüfungen und ein Rundgang durch die Basisstation. Und: neu einkleiden, wieder in einen mintfarbenen Zweiteiler, der kein anderes Kleidungsstück vermissen ließ.
   Tonya war die meiste Zeit an meiner Seite. Sie trug nun ähnliche Kleidung wie ich. Sie erklärte dieses und jenes. Und sie ließ mir die Ruhe, alles selbst zu beobachten, damit die Atmosphäre in diesem halb unterirdischen Weltraumbahnhof auf mich einwirken konnte. Tatsächlich schwanden meine Vorbehalte gegen den bevorstehenden Start ins All. Vorfreude meldete sich, Spannung, Stolz. Die Erde von draußen sehen. Ein Abenteuer. Es kribbelte in mir. Überall. Ich versuchte nachzurechnen, wie viele Menschen seit dem ersten bemannten Weltraumflug schon am Raumfahrtprogramm teilgenommen hatten und wie viele nach den zahlreichen Tests und Entbehrungen wirklich in den Genuss eines Raumfluges gekommen waren. Zwanzig? Fünfzig? Hundert? Nein, keine hundert. Und wie viele würden es sein, die ihren gesamten weltlichen Besitz und noch Jahre ihres Lebens gegeben hätten, um mal einfach so in den Kosmos starten zu können? Ganz viele.
   „Na siehst du, jetzt bist du schon besser drauf.“ Tonya sah mir den Stimmungswandel an. „Schade, dass ich’s keinem erzählen darf, wenn ich wieder zurück bin“, sagte ich. „Solch ein Raumflug, ich sag dir, die Mitmenschen würden reihenweise neidisch werden.“
   „Wenn du wieder zurück bist.“ Sie sprach dieses Wenn so aus, auf dass man es mit einem Falls hätte ersetzen können. Ersetzen müssen.
  Ich ging auf die Variante nicht ein. Ich sagte: „Ihr werdet das kontrollieren, ob ich mich an die Geheimhaltungspflicht, die ihr mir über alles hier Erlebte auferlegt, halte?“
   Sie schwieg zunächst, und ihre Miene schloss sich. Schließlich erwiderte sie: „Unsere Computer haben zu hundert Prozent vorausberechnet, dass du bleibst. Bleiben bedeutet, dass du an dem bevorstehenden Endziel-Flug teilnimmst. Auf eigenes Verlangen, ohne den Einfluss von uns. Und wenn du dann tatsächlich irgendwann zur Erde zurückkehrst, ist es völlig egal, dann erzähl den Leuten, was du willst. Dann leben hier unten schon ganz andere Generationen.“
   „Diese Computer“, seufzte ich, „sie sind wirklich sehr eitel und von sich eingenommen. Du hast es selbst gesagt. Gib zu, es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich täuschten.“
  Sie hielt die Miene geschlossen, sie blieb ernst. „Warte ab, Erasmus, bis du genug gesehen und erfahren hast. Bis du weißt, was wir zu bieten haben. Genauer: Was das All zu bieten hat. Vorher solltest du dich einfach noch nicht festlegen.“
   „Aber mal rein theoretisch: Wenn eure Computer nicht Recht behalten und ich in mein altes Leben zurückkehren will, werdet ihr versuchen, mich daran zu hindern? Es könnte ja sein, dass ich Dinge ausplaudere, die euer Unternehmen platzen lassen. Rein theoretisch.“
   Sie sah jetzt genervt aus. „Erasmus! Mal rein theoretisch: Erstens, warum sollten wir dich hindern, wir können jede Menge andere Interessenten gewinnen. Zweitens, warum sollten wir Angst haben, dass du etwas ausplauderst? Wer in deinem Umfeld würde dir wohl glauben? Willst du hingehen und erzählen: ‚He Leute, ich bin mal kurz im Weltall gewesen. Vier Wochen. He, ich habe per Bildschirm mit meinem Vater kommuniziert. Er befindet sich … ach je, jetzt hab ich vergessen, auf welchen Raumkoordinaten er sich zurzeit aufhält … auf jeden Fall war er zehn Jahre mit einem Raumschiff unterwegs. Und ich hab rausgekriegt, dass demnächst eine riesige Weltraumexpedition startet.’ Willst du mit diesem Statement in einer Zeitung oder einem Fernsehsender auftreten? Oder willst du die Story Tineke auftischen?“
   Sie hatte Recht, wie bedauerlich es war. „Trotzdem, es wird ganz schwer werden, ein derartiges Erlebnis in mir zu behalten. Aber noch schwerer wäre es, wenn ich es ausplaudere, und alle halten mich für verrückt. Womöglich würden sie mich dann in eine Anstalt schaffen.“
   Sie lächelte auf einmal. „Jonathan würde dir glauben.“
   Den kannten sie also auch. „Der hätte dafür ganz bereitwillig an eurem Flug teilgenommen. Sozusagen um euch einen Gefallen zu tun. Er hätte sich auch als Partner für dich angeboten. Hol doch ihn!“
   „Ich glaube nicht, dass ich ihn will. Ich habe nämlich schon einen. Und mit dem kann sich kein Jonathan messen. Wie nett und hilfsbereit er auch sein mag.“ Sie blickte mir wieder ganz tief in die Augen. Und da ich sichtlich erschrak, sagte sie: „Mit meiner Partnerschaft ist es ganz sicher nicht das, was du in diesem Augenblick denkst, Erasmus. Wenn wir auf der Interstellaren sind, wirst du es wissen.“ Sie drückte ganz fest und warm meine rechte Hand, und es fühlte sich an wie eine lange Umarmung.  

Es sollte losgehen. Wirklich? Wir hatten einen schlauchartigen Gang durchquert und befanden uns in einem kugelförmigen Raum. Es gab keine Fenster. Die Kapsel? In der Mitte hing ein großer, ebenfalls kugelförmiger Monitor, auf dem Aufnahmen einer unberührt aussehenden Landschaft zu sehen waren. Wälder, Flussarme, Vogelschwärme, in der Ferne ein Stück Küste. Wolken, ein paar Sonnenstrahlen. „Dein vorerst letzter Blick auf die Erde. So sieht es oberhalb des Weltraumbahnhofs aus“, sagte Tonya.
   War es Morgen oder Abend?
   An den Wänden waren insgesamt zwölf Sessel aufgereiht. Man schaute, wenn alle Plätze besetzt gewesen wären, sich gegenseitig an oder man blickte auf den Monitor. Man fühlte sich keineswegs wie in einer Fähre, die in den Weltraum starten sollte, sondern wie in einem Eisenbahnabteil der allerbesten Klasse. Es herrschte Clubraum-Atmosphäre.
   Konnte es also sein, dass es sich um ein anderes Transportmittel handelte, um einen Zubringer, den wir bald wieder verlassen mussten? Eine Fähre zur Fähre.
   Nein. Die Ausstattung bewies das Gegenteil. Allein die Sessel waren so komfortabel und raffiniert, dass sie keine Sessel im eigentlichen Sinn mehr waren. Sie hatten abklappbare Rückenlehnen und breite Fußauflagen, an den Armstützen befanden sich Tastaturen und diverse Instrumente.
   „Es ist egal, wo wir uns hinsetzen, es wird nicht eben überfüllt sein“, sagte Tonya. Sie ließ sich wahllos auf einem der Plätze nieder, ich setzte mich neben sie. Ich fühlte, wie die Polster des Sessels auf meinen Körper reagierten und ich leicht einsank. Sehr bequem, sehr wohltuend.
   „Bist du OK?“, fragte sie.
   Ich deutete auf den frisch entpackten Zweiteiler, den ich trug. Der Mann in Mint. „Hätten wir nicht vorher die Raumanzüge anziehen sollen?“
   Sie schüttelte den Kopf. „Du hast den Raumanzug an. Es ist nicht mehr wie früher. Schon gar nicht wie in den seltsamen futuristischen Filmen und Serien. Stabile Anzugkombinationen, dicke Helme mit kleinem Fenster, unbequeme Handschuhe, Schwerpunktstiefel, die Raumfahrer sahen aus wie tapsige Bären – alles nicht mehr erforderlich. Ich trage diese Sachen ja auch nicht. Wir haben bei unseren Starts und Landungen keinen Kontakt zum freien Raum, es gibt nirgends Druckabfall. Falls wider Erwarten etwas passiert, reagieren die Sessel. Sie würden sich über dir schließen, du hättest darin dauerhafte Überlebensmöglichkeiten. Du wirst also nicht platzen und nicht ersticken. Und es wird auch keinen Höllenlärm wie vorhin im Flugzeug geben, da der mehrstufige Düsenantrieb aus den Anfangsjahren ebenfalls abgeschafft worden ist. Es gibt leise Antriebssysteme, die zudem effektiver sind.“ Sie zeigte auf die Tastatur. „Drück mal die Eins-Eins-Neun.“ Ich tat es, und prompt schlossen sich um mich herum die Haltegurte. Ich war auf eine angenehme Art eingebettet.

Folge 38 vom  07. Mai 2020 

Es war alles perfekt, wir hätten starten können. Warum taten wir es nicht?
   Tonya sah mir auch diese Frage an. „Sobald der Begleiter von Ebene Eins gekommen ist, beginnt der Countdown. Er führt das abschließende Sicherheitsgespräch mit dir während des Fluges. Es ist allerdings nicht mehr als eine formlose Unterhaltung. Der Offizielle Kontakt entfällt. Das bedeutet, dass du ab jetzt mit Sicherheitsrisiko null eingestuft bist. Du gehörst demnach zu uns. Das ging schnell, oder?“
   Ich nickte, ich fühlte mich geschmeichelt, stolz. Ich dachte nicht an das Leben auf der Erde, an meine Absicht, unbedingt dorthin zurückzukehren. Ich lockerte mich und schloss die Augen, um mich zu konzentrieren und den Start ins Weltall bewusst erleben zu können. Erschöpft wie ich war, schlief ich jedoch sofort. Ein, zwei Minuten, dann gab es ein Geräusch, ich öffnete die Augen wieder und entdeckte im Sessel neben mir den Blinden. Lurtz. Er schaute auf den Monitor, als könne er die Zeichen dort erkennen. War er also nicht blind?
   Tonya erriet meine Gedanken. Doch sie sagte, erklärte nichts. Sie lächelte ein bisschen. Es sah geheimnisvoll aus.
   Lurtz neigte seinen Kopf ein wenig in meine Richtung. „Hättest du nicht Interesse, die neue Sprache zu erlernen?“ Er redete mich nun ebenfalls mit du an, er offerierte mir einen Sprachkurs. Jene Sprache, die nur diesem begrenzten Kreis von Auserwählten zugänglich war.
   Bedeutete das nicht eine Menge?
   Ich war verwirrt. Ich stotterte. „Ich bin im Leben nie als bemerkenswerte Sprachbegabung aufgefallen. Es würde zehn Jahre dauern, bis sich der erste Erfolg einstellt.“
   Lurtz lächelte ein bisschen. Tonya ebenfalls. Sie sagte: „Sprachen erlernen hat nichts mehr mit Begabung zu tun. Du wirst für eine begrenzte Zeit an einen Computer angeschlossen, und der speichert das Vokabular und die Grammatikregeln in deinem Hirn ab. Du wirst in einen Zustand versetzt, als wärst du mit dieser Sprache aufgewachsen.“
   Schön, was sollte ich aber mit einer Sprache, die ich nachher nicht anwenden konnte? Oder anders gefragt: Ich würde in einigen Wochen in mein ordinäres Erdleben zurückkehren und hätte diese Sprache in meinem Hirn-Speicher, war dies nicht ein sehr deutlicher Beweis für meinen Ausflug ins All?
   Tonya und Lurtz teilten diese Ansicht nicht. „Es gibt für diese Sprache keine annähernde Kompatibilität in deinem Umfeld. Es gibt keinerlei Schlüssel. Weder für Mensch noch Computer. Niemand hätte Zugang, niemand hätte Verwendung dafür. Du könntest dich nicht verständigen. Im Übrigen wäre es kein Problem, das Potenzial dieser Sprache vor einer Rückkehr zu canceln.“
   Der Start hatte es dann doch in sich. Schwerkraft, welch unterschätzter, verniedlichter Begriff. Ich lag auf meinem Sessel und fühlte mich, als wäre ich ein Klumpen Blei. Nicht nur so schwer und kompakt fühlte ich mich, sondern auch so stumpf und unförmig und ungelenk. Ich konnte nichts sprechen, nichts bewegen, nichts hören. Gerade noch atmen. Die Erde zog mich an; wie immer man das sonst beschreiben will. Immerhin, es ließ nach. Nach wenigen Minuten schon. Meine Rückenlehne, die vordem automatisch in die Waagerechte gesäuselt war, richtete sich allmählich wieder auf. Ich hatte den Bildschirm im Auge und sah die Erde als Halbrundung. Ein faszinierender Anblick. Die Farben, die Umrisse, die Senken, die Erhebungen, die Bewegungen und Strömungen von Wolken und Luftmassen. „Unglaublich!“, stieß ich fast tonlos hervor. Nein, ich hatte es eigentlich nicht sagen wollen, weil es kindlich und unkontrolliert naiv klang; doch es war rausgerutscht, mir.
   „Ja“, bestätigte Lurtz. „Aber man gewöhnt sich daran. Und wer bis in andere galaktische Systeme vordringt und so sehr viele einzelne Planeten zu sehen bekommt, für den ordnet sich die Erfahrung Erde unter. Es gibt so vieles mehr zu sehen, zu bestaunen. Unberührtes, Unverdorbenes, Unentdecktes. Neuland.“
   Wie konnte er das beurteilen? Er war blind. Oder?  
   „Ihm werden vom Computer alle Bilder direkt ins Hirn umgesetzt, übersetzt“, erklärte Tonya. „Er kann sehen, ohne seine Augen zu benutzen.“ Sie war souverän, trotzdem geduldig, großzügig. „Wenn du möchtest, Erasmus, kann dir die Kamera Nahaufnahmen von einem bestimmten Abschnitt der Erde liefern. Du kannst bestimmen, welchen. Möchtest du?“ 
    „Europa“, entschied ich ohne zu zögern, und tatsächlich hörte mich der Computer, und ich sah meinen, unseren Kontinent fast im selben Augenblick auf dem Bildschirm. Es wirkte wie eine Trick-Aufnahme, und doch war es echt.    
   „Möchtest du näher heran? Vielleicht einen Blick auf die Küste der Nordsee werfen? Euer Häuschen, den Deich, das Wattenmeer, die Leute, die sich dort aufhalten? Das Nachbargrundstück bei Tinekes Großmutter?“ 
   „Berlin, das würde ich gern sehen“, erwiderte ich prompt. „Geht das?“  
   Es ging. Ich sah die Hauptstadt. Die Flüsse, Seen, Wälder, Bahnlinien, die großen Gebäude, das moderne Stadion, meine einstige Uni, mehrere Kirchen, die Biergärten, Hochhäuser, Türme, die Flughäfen.      „Reicht dir die Einstellung? Du kannst dir auch eine Straße, ein Haus oder irgendwelche Menschen heraussuchen. Du kannst, wenn du das möchtest, jemandem direkt ins Gesicht schauen, ohne dass er davon weiß. Wir geben den Namen ein, und der Computer findet die Person für dich. Wo immer sie sich aufhalten mag.“  
   Ich zögerte. Es war einfach die Angst, dass das wahr werden würde. Dass sich damit die Gewissheit erfüllte, selbst gesehen worden zu sein, über Jahre hinweg, in unbedarften, unkontrollierten oder unanständigen Situationen. Und die Befürchtung, nach der Rückkehr wieder gesehen zu werden. Auch wieder wider Willen. Egal, ich überwand mich. Ich nannte Tinekes Adresse und verlangte einen Ausschnitte aus der Straße, in der sie wohnte. Und ich sah nach ein paar Sekunden den Wohnblock, den Hauseingang mit dem Straßenabschnitt, auf dem das Klapper-Auto von Jonathan und dahinter die Limousine von Edward Erster standen. Ich konnte in der Nahaufnahme die Kennzeichen der Nummernschilder lesen und auf Edwards Wagen einen Kratzer im Lack erkennen, über den der Onkel sich vormals lauthals bei mir beschwert hatte. „Da hat eine von diesen verantwortungslosen Müttern nicht auf ihr Kind aufgepasst. Die Göre ist mit dem Roller gegen mein Auto geraten, und dann sind beide stiften gegangen. Und ich sitze jetzt da mit den Kosten.“ Der gute Edward. Hatte ich nicht unvermittelt den Wunsch, ihm gegenüberzustehen und ihn zu umarmen?
   „Möchtest du noch mehr sehen? Die Möglichkeiten sind praktisch unbegrenzt. Wir können auch die verschiedensten Geräusche und Stimmen einfangen. Selbst durch Wände und Dächer hindurch.“    
   Da ich schwieg, sagte Lurtz: „Bitte Erasmus, denke nicht, wir würden dieses Potenzial missbrauchen. Wir sind Forscher, unser Blick ist nur in die interstellare und vor allem in die intergalaktische Ferne gerichtet. Da brennen wir vor Neugier. Wenn wir auf der Erde Personen und Plätze fokussieren, dann geschieht das im Zusammenhang mit unserem wissenschaftlichen Programm. Dass wir an Personen interessiert sind, die noch nicht zu uns gehören, kommt selten vor. Dich haben wir beispielsweise wegen deines Vaters ins Auge gefasst. Er hatte sich das gewünscht. Er würde sich noch mehr wünschen, dich in seiner Nähe zu haben. Er hängt, obwohl er emotional ansonsten weit über allen menschlichen Ambitionen steht, sehr, sehr stark an dir.“ Er machte eine Pause, und ich glaubte, ihn zaghaft lächeln zu sehen. „Mit Ausnahme einer anderen Person, die ihm ebenfalls eine Menge bedeutet.“

Folge 39 vom  08. Mai 2020

Wir stießen Abertausende von Kilometern in den Weltraum vor. Obwohl wir nach Auskunft der Bordinstrumente rasten, hatte man den Eindruck, die Kapsel stünde oder hinge bewegungslos in der Dunkelheit. Immer noch spielte uns der Monitor Aufnahmen von der Erde vor, wenngleich diese nun mit Motiven aus dem Kosmos wechselten. Bilder vom Erdmond, vom Zwillingsplaneten oder von der Sonnenkorona, wobei die einen künstlich erhellt und die anderen stark gedunkelt werden mussten. „Es passiert nicht allzu viel auf diesem Abschnitt“, sagte Tonya. „Wir fliegen durch das Erd-Sonnen-System, wo nicht viel zu entdecken ist.“ Es sah aus, als würde sie gähnen. „Das heißt, wir könnten jetzt unsere Weltraumstation ins Visier fassen. Damit hättest du einen Eindruck von dem, was dich erwartet.“
   Der zuständige Computer reagierte sofort. Er warf eine matte Kugel auf den Bildschirm, die bei schneller Annäherung mit dem Teleobjektiv an Kontur gewann. „Das ist sie schon“, erklärte Tonya stolz. „Sie ist mit einem geeigneten Strahlenschild umgeben und selbst für unsere Instrumente nur als Schatten auszumachen. Andere Beobachter können sie gar nicht erfassen. Speziell die nationalen Raumfahrt-Behörden auf dem Erdplaneten. Eine Sicherheitsmaßnahme. Die Station ist völlig autark. Eigene Energieversorgung, eigene Sauerstoff- und Wasserproduktion, eigene Nahrungsmittelerzeugung. Es funktioniert alles in sich geschlossen, im Kreislauf. Wir haben ein komplettes Krankenhaus an Bord, Forschungslabore, und es gibt jede Menge Regenerationsmöglichkeiten. Körperliche Ertüchtigung, auch Sport genannt, spielt eine wesentliche Rolle.“
   „Und wenn jemand stirbt?“, schoss es mir durch Kopf. „Wird der dann in diesen Kreislauf einbezogen?“
   Sie schüttelte den Kopf. „Man altert während eines Raumfluges nur minimal. Daher ist kein Todesfall vorgesehen. Man schläft viel weniger. Man hat einen vergleichsweise sehr geringen Bedarf an Nahrung, man ist auf andere Art beansprucht und unterliegt nicht dem körperlichen Verschleiß und dem Verfall unter Erdbedingungen. Und der Planet, den dein Vater für uns zur Neubesiedlung ausgesucht hat, weist sowieso völlig andere Daten auf als die kleine Erde. Er dreht sich bedeutend langsamer um seine Achse und kreist in einer vergleichsweise viel weiteren Bahn um sein Energiezentrum. Er braucht – nach Erdmaßstab – mehrere Jahrzehnte für nur einen Tag. Der Aufenthalt dort würde also für Erdmenschen fast das ewige Leben bedeuten.“ Sie nickte mir anerkennend zu. „Dein Vater hat gründlich und erfolgreich gesucht.“
   „Also ist er im selben Alter wie bei Verlassen der Erde?“
   „Ja“, entgegnete sie. „Du und er, ihr würdet, wenn du mit uns zu ihm fliegst, in Anbetracht der hohen Lebenserwartung irgendwann zu Brüdern werden.“
   Und unvermittelt sagte Lurtz: „Es ist auch kaum ein Altersunterschied zwischen ihm und mir, der ich ursprünglich ja noch älter bin als er; und nicht zwischen ihm und Tonya.“
   Ich dachte über diesen Einwurf nicht nach, ich überlegte vielmehr, welche Auswirkungen die Alterungsstagnation auf die Bevölkerungsentwicklung haben musste. Sterben, geboren werden, leben, arbeiten, lernen, heiraten, Familie gründen. Galten diese Abläufe weiterhin? Bedurfte es überhaupt noch einer Auffrischung durch Nachwuchs? Waren nicht zwangsläufig Konflikte vorprogrammiert, oder hatte Professor Erster die Lösungen längst schon parat?
   Aber es wurde zu schwierig. Es machte einen, mich, schwindelig, wenngleich es sich in der Tat als Verlockung erwies. Als große, als größer werdende Verlockung.  

Vom Andocken spürte ich fast nichts. Die Fähre hatte bereits in der Annäherung an den Raumkreuzer so viel an Geschwindigkeit abgebaut, dass der Bremsvorgang milde vor sich ging. „Wir sind drin“, hieß es, und im selben Augenblick öffneten sich mehrere Wandelemente unserer Kapsel. Eine Halle tat sich vor uns auf, mit Tischen und Pulten, Bildschirmen und Sesseln. Zwei Männer und zwei Frauen waren zu sehen, sie sahen freundlich aus und nickten uns zu. Tonya nickte zurück. „Das ist Erasmus höchst persönlich. Er wird mit dem Professor Kontakt haben. Er ist der Sohn des Professors.“
   Sie nickten wieder. Sie sagten wie aus einem Mund: „Wir wissen, dass er das ist. Schon lange wissen wir das.“
   Gleich darauf breitete sich ein seltsames Prasseln aus. Von allen Seiten fiel es geradezu auf uns herab. Auf mich.
   Regnete es?
   Nein, es konnte hier keinen Regen geben, auch keinen kosmischen Schauer. Also auch kein echtes Prasselgeräusch. Ohnehin klang das Prasseln anders, doch nicht wie Regen, es klang wie Beifall. Es klang, als würden unzählbar viele Hände noch und noch ineinander fallen, getrieben von einer unaufhörlichen Begeisterung, um zu applaudieren. Die Publikumsreihen ganzer Theatersäle, Stadien, Politikarenen, Bühnenshows, Zirkuszelte. Nicht einzeln, vielmehr summiert. Laut und doch erträglich. Stürmisch, dennoch gefühlvoll.
   „Wie sich das anhört“, staunte ich. „Ich hätte nie vermutet, dass es im All derartige Geräusche gibt.“
   Tonya sah mich bedeutungsvoll an. „Es ist keineswegs das, was du zunächst zu hören geglaubt hast.“
   Vermutete oder wusste sie, was ich zu hören geglaubt hatte? Las sie meine Gedanken?
   „Es ist kein Regen, sondern Beifall. Kannst du dir das vorstellen, Erasmus?“
   Ich nickte, ich staunte immer noch.
   „Dieser Beifall ist an dich gerichtet. An Erasmus Erster. Er wird von den Computern erzeugt. Sie mögen dich. Sie schätzen dich sehr. Sie haben dich erwartet, und nun freuen sie sich über dein Kommen.“ Tonya drückte auf einen Knopf. „Aber ich denke, es ist genug des Guten.“ Der Applaus ebbte ab, so wie er in Theatersälen abebbte, wenn die Schauspieler nach einer gelungenen Aufführung sieben oder acht Vorhänge bekommen hatten und den Zuschauern schon seit Minuten vom Klatschen die Hände wehtaten.
   Trotzdem blieb es nicht still. Nun erklang ein lauter Ruf: „Erasmus Erster, unser wunderbarer Freund, er lebe hoch!“ Und ganze Chorreihen, gemischt aus Männer- und Frauenstimmen, fielen ein: „Hoch, hoch, hoch!“ Und: „Wir heißen ihn willkommen!“
   Bevor ich mich nach dem Ursprung der Rufe erkundigen konnte, erklärte Tonya: „Das sind sie ebenfalls, unsere Computer. Sie wissen eine Menge über dich. Nur Positives, sonst wären sie nicht so euphorisch. Sie zeigen dir, wie begeistert sie sind. Von dir. Über dein Erscheinen.“ Sie lächelte jetzt, sie sah verständnisvoll, auch ein bisschen mitleidig aus. „Du solltest nicht darüber nachdenken, wie viele es sein könnten und ob sie sich in weibliche und männliche Exemplare aufteilen. Es würde für dich vorerst reichen, wenn du dich von der Vorstellung lösen könntest, die du von euren Erdcomputern hast. Diese hier sind denen nicht bloß um Generationen voraus, sie sind eigentlich schon Wesen auf einer ganz anderen Entwicklungsstufe.“
   Ich wusste nichts zu antworten als: „Wahrscheinlich muss ich mich auch von diversen anderen Vorstellungen, die ich bisher hatte, lösen.“
   „Sei einfach offen“, empfahl Tonya.
   Und Lurtz, der mich nun weiter führte, mutmaßte: „Bestimmt hast du dir auch die Zentrale eines Raumkreuzers anders vorgestellt.“
  Hatte ich das? Ich wusste es nicht. Ich kannte nur Filme, in denen Raumstationen und Raumkreuzer zu sehen waren. Ich sagte daher: „Dies ist die erste Raumstation, die ich betrete. Oder ist es ein Raumkreuzer. Auf jeden Fall: Ich hatte bisher nichts im Kosmos zu tun.“ 

Folge 40 vom  09. Mai 2020  

Lurtz nahm es nicht als Scherz. Er erklärte, und er begleitete seine Erklärungen mit so sicheren Gesten, als wäre er nun nicht mehr blind. „Dieser Raumkreuzer ist im Grunde eher eine Raumstation. Sie ist so groß wie eine kleine Siedlung in irgendeiner Stadt auf der Erde. Flächenmäßig ergibt sie die Summe von etwa fünfzig mittelgroßen Einfamilienhäusern und den dazugehörigen Grundstücken. Sie untergliedert sich natürlich in diverse Etagen. Wir brauchen viel Platz für die Technik und für Bevorratungen. Dafür leben weitaus weniger Leute hier als in einer Siedlung.“
   „Was heißt das in Zahlen?“ 
   „Mit uns dreien sind wir zwanzig. Menschen. Die, die du noch nicht gesehen hast, werden sich später vorstellen. Du bist ihnen nicht unbekannt. Durch den Professor, und auch sonst. Hinzu kommen die Computer. Du hast sie ja soeben erlebt. Sie haben den Anspruch, sich mit dir anzufreunden. Wenn du mit uns fliegst, werden sich dazu genug Gelegenheiten ergeben. Du wirst es nicht bereuen.“  
   „Und falls ich nicht mitfliege? Falls ich meinen Vorsatz beibehalte und zur Erde zurückkehren will? Zu meinem Onkel und meiner Freundin.“  
   Er reagierte nicht auf die Frage. Stattdessen fragte auch er etwas. Ich weiß nicht genau, ob es mich überraschte, was er fragte. Auch nicht, ob ich mit der Möglichkeit, die sich mit seiner Frage eröffnete, Erleichterung empfand. „Was hältst du davon, deine Freundin mitzunehmen? Tineke.“   
   Es war zumindest so, dass ich auf das Angebot keine Erwiderung wusste. Zu viele Fragen, Aufgaben ergaben sich mit einer solchen Variante.  
   „Es wäre auch für sie ein Traum.“ Lurtz war immer noch ganz ernst. „Sie könnte sich zu einer Ärztin mit absoluter Kompetenz und fast unerschöpflichen Möglichkeiten entwickeln. Wir würden ihr die medizinischen Computer unterstellen. Sie könnte forschen, ärztlich tätig sein und wäre mit dir zusammen. Es würde die Erfüllung der Partnerschaftsbedingung für dich bedeuten. Unser Team würde auf einundzwanzig Personen anwachsen.“   
   „Und wie erkläre ich ihr diesen Traum?“  
  „Tonya könnte dir behilflich sein. Ich ebenfalls. Es sind in Erdzeit noch zwölf Wochen, bis wir mit dem Raumkreuzer starten. Wir sind in der Lage, Situationen herbeizuführen, in denen wir sie beeinflussen, ihr bei der Entscheidungsfindung helfen können. Oder traust du uns das nicht zu?“       O doch. Ich dachte an die Katastrophensituation im und um den Bahnhof herum. Und trotzdem, ich hielt es für aussichtslos. Tineke hatte Bindungen. Nicht nur sie. Ich ebenfalls. Da war die Henriette, da war Jonathan, und ganz gewiss war da Edward Erster, mein Onkel. Sie alle könnte ich, könnten wir nicht zurücklassen. Die müssten schließlich auch mit. Ich sagte es, und er wehrte es ab. Es sei bereits geprüft, von den Computern. Die Umsetzbarkeit sei null Prozent. Fast null.  
   Fast, das hieß, eine kleine Chance würde es also geben.  

Später saß ich in einem herrlichen Sessel. Es hieß: Einführung in die von Professor Erster geschaffene künstliche Sprache. Einfach so, ohne aktiv sein zu müssen. Eine Methode, die ebenfalls auf den großen Ernesto zurückging.
   Ich glaubte das nicht recht. Learning by dreaming.
   Ich ließ es dennoch auf mich zukommen. Das Lernen ohne mich anstrengen zu müssen.
   Ich war jetzt allein. Ich dachte ja nicht mal an die fremde Sprache. Ich wusste ja außerdem, ich würde sie niemals benutzen. Weil ich sie niemals benötigen würde. Also wollte, musste, brauchte ich sie nicht lernen. Nicht mal träumend.
   Oder täuschte ich mich?
   Ich dachte viel lieber an Tineke. Ich versuchte mir das nun vorzustellen, sie und ich auf diesem Raumkreuzer. Später sie und ich auf dem fernen Planeten. Alles neu, alles herrlich harmonisch. Ruhe, Frieden, Glück. Keine Aufregungen, keine Nöte. Keine Gefahren. Keine Pflichten. Keine Zwänge. Oder war Zwanglosigkeit nicht allein schon ein Zwang?
   Und trotzdem genügend Abwechslung?
   Tineke und ich auf Lebenszeit aneinander geschmiedet. Nicht geschmiedet, sondern verschmolzen. Nicht aneinander, sondern miteinander, ineinander. Und nicht auf die Dauer eines Lebens schlechthin. Auf die Ewigkeit. Zumindest auf das, was ich als Ewigkeit empfand. Zehntausende Jahre.
   Ein Gefühl der Zeitlosigkeit hatte sich bei mir eingestellt. Ich spürte, wie sich leichte Schwingungen auf meinen Kopf übertrugen. Oder war das Einbildung? Ich hatte die Augen geöffnet, meinte jedoch zu schlafen. Dreaming? Ich schaute auf den Monitor, der in noch und noch wechselnden Bildern Eindrücke vom Weltall präsentierte, dennoch sah ich immerzu Tineke. Sie war in Berlin, sie verließ jetzt das Haus, in dem sie wohnte, sie schaute auf die vor der Tür geparkte Limousine meines Onkels, und ihr Blick war skeptisch und wurde von einem kaum merklichen Kopfschütteln begleitet. Sie zog das Handy aus der Tasche und drückte die Nummer von Edward Ersters Anschluss. Sie fragte, ob sie die Limousine nicht in die Garage auf Edwards Grundstück bringen könne, solle. Zur Villa. Es wäre besser, sinnvoller. Edward bejahte. Er sagte: „Du kannst dir den Wagen jederzeit holen, wenn du ihn brauchst. Oder wenn Erasmus zurück ist.“
   Tineke nickte flüchtig. Sie fragte, ob Edward etwas von mir gehört habe.
   Nein, hatte er nicht, er würde auch nichts hören, solange ich mich nicht gemeldet hätte. Tineke sagte, sie würde die Limousine am Abend zur Villa bringen und mit der U-Bahn zurückfahren. Dann lachte sie, und sie jubelte fast, denn sie hätte gestern in der neuen Stelle ihr erstes Gehalt bekommen. Und noch eine Nachzahlung für den letzten Monat. „Wenn Erasmus zurück ist, lade ich ihn von meinem ersten großen Geld zu dem neuen Italiener ein, der hier um die Ecke aufgemacht hat. Dort gibt’s schwarzweiße Spaghetti. Längs gestreift! Oder wir gehen mal in einen ganz noblen Schuppen. Vielleicht ins Hickory Top.“
   Edward Erster lachte ebenfalls. Er empfahl: „Kauf ihm aber vorher was zum Anziehen, sein Outfit ist eher als scheußlich zu bezeichnen. Dummerweise nimmt er von mir nicht nur kein Kleidergeld an, er lässt sich auch nicht beraten. Und Letzteres ist besonders übel, denn sein Geschmack beim Kauf von Kleidung ist seit Beginn seiner Schriftstellerei unter aller Sau.“ Und er empfahl: „Bitte lass meiner Haushälterin deine Adresse und die Telefonnummer dort. Damit sie dich gegebenenfalls erreichen kann. Und sie soll endlich die Post der letzten zwei Tage herschicken. Sonst fliegt sie!“
   Tineke kniff die Augen ein bisschen zusammen, was er natürlich nicht sehen konnte, und entgegnete, das eine würde sie gewiss tun, ihre Adresse dort lassen, und das andere hätte sie schon getan, ein paar Sachen für mich gekauft. Rotes Oberhemd, weißes T-Shirt und Blue Jeans. „Red, white and blue. Außer ihm weiß keiner, was das bedeutet.“
   Edward seufzte, und selbst das konnte ich verstehen. Er entgegnete: „Schön, wenn man jung und verliebt ist und so viele Ideen hat.“
   Sie kicherte, und sie beendeten das Gespräch.
   Tineke ging nun durch die Straßen zur Bahn-Station, um zur Arbeit zu fahren. Vor dem Zeitungskiosk blieb sie stehen. Sie las die Überschriften der Tageszeitungen, wobei sich ihre Stirn ein wenig furchte. Da stand: Auswirkungen des unglaublichen Bahn-Chaos’ auch nach zehn Tagen nicht beseitigt. Vergebliche Suche nach den Ursachen. Sie lächelte, als jemand neben ihr sagte: „Da waren außerirdische Kräfte am Wirken, so was bringen die Menschen hier unten nicht fertig. Nicht in tausend Jahren.“ Sie stieg in die Bahn, sie las in einem Fachbuch, aber ihre Gedanken waren nicht bei dem Buch. Sie blickte ins Leere, sie träumte. Sie lächelte still.
   Ganz sicher dachte sie an mich.  

Folge 41 vom 10. Mai 2020

Es wurde hell. Vor mir, um mich. Auf dem Monitor, in der Halle. Alles, das sich bis eben in meinem Kopf befunden hatte, erlosch. Ohne dass es jemand angekündigt hatte, wusste ich, es ist soweit. Ich fühlte einen Schauer im ganzen Körper, schon bevor das Gesicht auftauchte. Ich fror und schwitzte, so ruhig und entspannt ich auch versucht hatte zu sein. Mein Vater. Das Gesicht war da, sein Gesicht, es füllte den Monitor aus, der sich groß über das ganze Wandsegment ergoss.
   Ergoss?
   Er hatte sich nicht verändert. Nicht um ein graues Haar, nicht um eine Furche im Gesicht. Und es waren doch dreieinhalb Erdenjahre vergangen, da ich ihn gesehen hatte. Ebenfalls auf dem Bildschirm, obgleich ich damals noch von der Erde aus Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Nicht ich, aber die Mitarbeiter der Bodenstation. Tonya, Lurtz hatten seinerzeit nicht dazu gehört.
   „Papa.“ Warum begann ich das Gespräch ausgerechnet mit diesem Wort? Es klang, es war mir fremd. Es war fern. Auf einmal.
   „Guten Tag, Erasmus.“
   Es würgte mich, und es hätte, hätte ich sofort geantwortet, zu einem heftigen Ausbruch kommen können, müssen. Sentimentale Gefühle. Vater und Sohn, Familie. Anhänglichkeit, Anklebrigkeit, Aufdringlichkeit. Vergessen, verstoßen verlassen. Verwundet. Scheinbar geheilt, vernarbt. Unzählbar viele offene Fragen. Offene Wunden. Liebe?
   „Ich kann dich nicht hören, nur sehen“, sagte er und schaute zur Seite, wo sich vermutlich die Tastatur für eines seiner Steuergeräte befand. „Es gibt keinerlei Anzeichen für Störungen oder Unterbrechungen.“
   Ich lächelte mager. Ich zitterte fürchterlich, ich beschloss, etwas Kurzes zu sagen, damit kein Beben oder Jammern in meine Stimme zog, kein Anzeichen der Aufregung, Fassungslosigkeit. Ich konnte ihm das nicht antun. Er, in seiner fernen Welt, betraut mit Aufgaben allerhöchster Dimension. Der Schöpfer neuer Lebensart, neuer Lebensform. Der Gründer einer neuen Welt.
   „Wie geht’s dir?“ Meine Worte holperten dennoch, dieser kurze Satz allein misslang. Mir war, als hätte ich ihn hemmungslos herausgeschluchzt.
   „Es stimmt was nicht.“ Er wirkte ungehalten. Er hantierte abermals an der Tastatur. „Computerbereich neun­zehn!“, schimpfte er zur Seite. „Sprachstabilisatoren korrigieren!“ Es klang energisch, beherrschend. Etwas sogar herrisch. 
   Sofort spürte ich aus dem Oberteil meines Sessels wieder leichte Schwingungen. Sie streichelten meinen Kopf, die Arme und den Körper. Ich fühlte mehr Ruhe in mir, auf mir; die Stimme festigte sich. „Hat dich der Transfer von der Erde zum Raumkreuzer doch stärker mitgenommen als wir dachten?“ Ernesto wirkte besorgt. „Vermutlich haben wir den emotionalen Faktor unterschätzt. Tut mir leid.“ 
   „Ich war sehr aufgeregt“, gestand ich, weil ich Ehrlichkeit für angebrachter hielt. „Nach so langer Zeit. Dass wir uns wiedersehen. Über diese wahnsinnig große Entfernung. Ich kann’s immer noch nicht fassen. Es sind jetzt zehn Jahre, dass du von der Erde weg bist. Und drei Jahre seit dem letzten Gespräch über den Bildschirm. Papa.“ Ich benutzte wieder diese Anrede, die ich schon lange vor seinem Reiseantritt abgelegt hatte. Vor zehn Jahren und den zehn Jahren davor. Nun kam es einfach über mich. Das Wort.  
   In welcher Sprache eigentlich?
   Ich glaube, nein, ich bin sicher, er kannte die Vokabel noch. Dennoch lehnte er sie ab. Er wehrte sich spürbar gegen sie. „Es stimmt, Erasmus, ich bin dein Vater. Leiblich, genetisch. Aber ich habe so viele andere Dinge ins Leben gerufen, erschaffen. Das ist auch eine Art Vaterschaft. Erfolg ist das.“ Je mehr er redete, wirkte er nun ebenfalls verunsichert. Belastet. Er wurde es. Ich sah, wie sein Blick flackerte, wie die Stimme – ein wenig jedenfalls – bebte.   
   Wollte er nicht die Stabilisatoren wieder aktivieren lassen, seine diesmal?
   „Du bist ein Held und ein Genie“, lobte ich. Das kam nicht von Herzen, sondern aus dem Kopf. Ich wusste es, er ebenfalls. Es beruhigte aber unser Gespräch. „Sie blicken alle zu dir auf, alle sind dir dankbar. Alle hoffen weiter auf dich.“
   „Ja“, antwortete er. „Ich habe viel getan. Für uns. Es war, es ist meine Arbeit. Mein Leben. Ich verwirkliche mich selbst dabei. Und ich möchte jetzt jemanden an meiner Seite haben, der mir gewachsen ist, der sich mir verbunden fühlt.“
   „Ich glaube nicht, dass ich dir gewachsen sein könnte. Und eine Verbundenheit zwischen dir und mir, das kann man sich wünschen, mehr nicht. Wir sind zu lange auseinander. Schon bevor du endgültig weggegangen bist, hatten wir keine emotionale Bindung.“ Ich sprach absichtlich mit diesen hochtrabend klingenden Formulierungen. Sie drückten die Situation treffender aus. Sie ließen auch Distanz.
   Und so war es für uns beide gut, besser.
   „Ja“, sagte er wieder, und er blieb mit Bedacht kühl. „Du hast Recht. Vollkommen.“
   „Ich wollte dich nicht verletzen“, entschuldigte ich mich jetzt. „Du bist so weit von uns entfernt, und es ist nicht angebracht, zu jammern oder Vorwürfe aufzutischen. Es lohnt auch nicht, diese vielen zurückliegenden ungelösten Fragen auszugraben. Trotzdem will ich nicht lügen.“
   Er schüttelte den Kopf, und ich hatte kurz den Eindruck, er wolle lächeln. Tatsächlich das. Nein, er blieb ernst, und er sagte etwas, das mich überraschte, wiewohl es mich eigentlich nicht hätte überraschen müssen. „Es geht mir noch um einen anderen Menschen. Du weißt, Erasmus, ich selbst habe die Regel eingeführt, nach der wir uns paarweise auf dem neuen Planeten ansiedeln. Es sieht immer so aus, als solle das für mich nicht gelten. Ich könnte es auch so beschließen und dabei selbst die Ausnahme bleiben. Das möchte ich überhaupt nicht. Ich möchte nicht allein hier sein. Mir, uns allen steht hier eine unendliche Lebenszeit bevor. Wir können diese Spanne noch gar nicht übersehen. Deshalb brauche ich jemanden. Eine Frau.“ Er schwieg, und er suchte ganz eindeutig meinen Blick, meine Miene. Sicherlich auch meine Zustimmung, mein Verständnis.
   Ich schwieg ebenfalls, obwohl ich hätte fragen können, wollen, ob er beabsichtige, meine Mutter, seine einstige Ehefrau, als Gefährtin zurückzugewinnen. Mit meiner Unterstützung, meiner Fürsprache. Mit mir als Vermittler, als erklärendem Bindeglied. Wahrscheinlich hätte ich ihm diese Bitte nicht erfüllen können. Versucht hätte ich es aber, wiewohl mein Interesse an ihr völlig erloschen war. An meiner Mutter, seiner damaligen Ehefrau. Sie hatte eines Tages ihre Sachen gepackt und mich zurückgelassen. Ich war ihr egal. Damals war ich traurig. Enttäuscht, wütend. Dabei verstand ich, dass es sich mit jemandem wie Ernesto nicht zusammenleben ließ. Nicht ohne totale Selbstaufopferung. Aber ich. Sie hätte wegen mir bleiben können. Müssen.
   Nun war es vorbei. Und es war egal. Sie. Mir. Ganz und gar. Ich wusste nicht mal, wo sie heute lebte. Marthe Erster. Wie und mit wem. Welchen Nachnamen sie inzwischen führte. Ob sie noch in jenem Adelshorst in Rumänien hockte oder vielleicht allein lebte, wieder allein. Weil sie in der vermeintlichen Glitzerwelt auch nicht froh geworden war.  

Folge 42 vom 11. Mai 2020  

Ich sagte es ihm: „Du meinst Mutter, oder? Ich kann dir helfen, sie zu suchen und ihr erklären, um was es geht. Dir, Papa. Ansonsten wüsste ich für mich keine Rolle in diesem Stück. Marthe ist genauso verschwunden wie du. Ich bin bei deinem Bruder geblieben. Erinnerst du dich, Papa?“
   Er war sichtlich aus dem Konzept gekommen. Er hatte mir über die Frau berichten wollen, die er gern zu sich holen würde. Ich kam ihm dagegen mit der Geschichte seines Ehedebakels. Gar noch mit der Erinnerung an seinen Bruder. „Ach ja, Erhard“, sinnierte er. Er kratzte sich am Kopf, er wirkte zerstreut. „Wir müssen nicht über Erhard reden.“
   „Er heißt Edward“, verteidigte ich auf einmal meinen Onkel, seinen Bruder. Ich begriff nur langsam, warum. Ich tat es aus Loyalität, aus Sympathie heraus. Auch aus Zuneigung. Und ich tat es mit Leidenschaft. „Nein, wir müssen nicht über ihn reden. Ich möchte dir nur versichern, dass er sich sehr um meine Entwicklung bemüht hat. Er ist für mich zugleich Vater und Mutter gewesen, und nebenbei hat er ein international agierendes Unternehmen aufgebaut und geleitet. Einen riesigen Konzern. Seine Schokoladen-Erzeugnisse sind bis heute gefragt. Allerdings hat er sich selbst zur Ruhe gesetzt.“
   Das Gesicht des Professors verlor sich in Desinteresse. „Ja, der gute Edward. Er hat unserem Namen Ehre gemacht. Aber hier hat so was keine Bedeutung.“
   Ich seufzte. „Er hat quasi nebenbei auch noch einen Doktortitel erworben und sich diverse Millionen auf die Kante verfrachtet. Milliarden.“  
   „Millionen? Milliarden?“ Sein Blick flackerte fragend.  
   „Ich spreche von Geld, Papa. Vermutlich spielt es in deinem Leben keine Rolle. Bei uns ist es inzwischen wichtiger denn je. Geld ist fast wichtiger als Liebe.“    
   „Jaja, Geld. Nein, du hast Recht. Es gehört zu den lästigen Kommunikationszwängen, deren wir uns in unserem neuen System zuerst mitentledigt haben. Welch ein unnötiges Zeug. Geld. Bezahlen. Wertbildungsprozesse.“ Es schien, als wolle er einen Vortrag halten. Ist Geld notwendig oder nicht?   
   Mich interessierte das nicht. Ich steuerte zu dem anderen Thema zurück. „Soll ich also mit Marthe reden? Ich müsste sie zunächst suchen lassen. Es müsste für deine Computer ganz leicht sein, sie zu finden. Sie sehen, wissen alles. Auf der Erde. Über die Menschen.“ 
   „Nein!“, entschied er energisch. „Marthe wird es nicht mehr geben. Wieso sprichst du von Marthe? Ich hatte sie, ob du’s glaubst oder nicht, bis zu diesem Augenblick gänzlich vergessen. Es geht mir um Tonya. Sie und ich sind verlobt. Sie hat zugesagt zu kommen. Zu mir. Sie wird kommen. Es steht fest. Sie und ich, wir sind dann zusammen.“ Dies also war der Augenblick der Überraschung. Tonya. War es wirklich eine Überraschung?  „Warum schweigst du?“, fragte er. Er sah ängstlich aus. Er sah aus, als sei meine Meinung, meine Zustimmung für ihn von großer Bedeutung. „Tonya verehrt mich, sie brennt darauf herzukommen, mit mir den neuen Planeten zu gestalten, eine neue Menschheit.“ 
   Ob sie ihn auch liebte? Er sie? Ich wagte die Frage nicht zu stellen. Ich wollte diesen gemeinsamen Beschluss, das gegenseitige Versprechen nicht in Zweifel ziehen. Tonya verehrte den Professor nicht nur, sie schwärmte für ihn. Mehr als sie für Ernesto Erster konnte niemand für einen anderen Menschen schwärmen. Es war nicht auszuschließen, dass sie ihn liebte. Ansonsten würde sie beginnen, ihn zu lieben, wenn sie in seine unmittelbare Umgebung eintauchte. „Papa“, sagte ich also, „ich habe Tonya kennen gelernt. Ich kann nur bestätigen, sie ist eine gute Wahl. Bitte entschuldige, ich muss mich erst an den Altersunterschied gewöhnen, der angesichts eurer hohen Lebenserwartung völlig bedeutungslos ist. Für mich ist alles so neu, so fremd ...“ Ich fand auf einmal keine Worte mehr. Ich spürte wieder meine Gefühle. Aufregung spürte ich und Verwirrung.  „Was ist los?“, rief von der Bildschirmwand mein Vater. Er hatte sich zur Seite gewandt, er hantierte an seiner Tastatur. „Warum sind die Stabilisatoren nicht leistungsbereit? Computerbereich neunzehn, die Stabilisatoren!“ Er beugte sich aus dem Sichtbereich heraus und war für mich nicht zu sehen. Im selben Moment begann auf der Unterkante meines Monitors eine Schriftzeile zu laufen: Papa?, Papa,?, Papa?, ?, ?, ?.  
   „Die Computer kennen das Wort Papa nicht“, hörte ich Ernesto Erster stöhnen. Es gehört nicht zum Vokabular. Noch nicht. Warum nicht?“ Sein Gesicht tauchte wieder auf. Etwas gerötet, genervt. Die Unterlippe zitterte. „Ich muss dir etwas sagen, Erasmus, etwas Aufklärendes. Wir haben uns beide in meiner neuen Sprache unterhalten. Der zuständige Computer hat sie auf dein Hirn übertragen, während du im Sessel geruht hast. Du hast es nicht gemerkt, nicht mal, dass du diese Sprache gesprochen hast. Du hast sie problemlos angenommen, das zeigt, wie begabt du bist. Ein anderer hätte die Regeln und Vokabeln in dieser Schnelligkeit nicht umsetzen und verwenden können. Nur das Wort Papa ist dir in deiner Erdsprache über die Lippen gekommen. Weil es bei uns nicht gegenbelegt ist ...“ Er lächelte plötzlich. Es war so unerwartet, so fremd zuerst, doch augenblicklich so erinnerungsträchtig. Ich sah mich zurückversetzt in die mittleren Schuljahre, als er noch einen Teil seiner Abende zu Hause verbracht hatte. Ich kam mit Bestnoten in Serie heim, und Vater lächelte, er war voller stillem Stolz. Ich wollte ihm gerade davon erzählen. Doch er fing sein Lächeln ab. Es kostete Mühe, ich sah es wohl. Er redete, nein, er presste die Worte hervor. „Der Computer begleitet die Sprachanfänger üblicherweise in der Anfangsphase. Er hat es auch bei dir getan. Aber er kennt dieses Wort nicht: Papa. Und meine Computer haben offenbar dasselbe Problem. Papa, dieses Wort. Es ist mein Fehler, dass ich es den konstruierten Hirnen nicht eingepflanzt habe. Offenbar sind dadurch einige Schnittstellen nicht funktionsfähig und das System führt die Sprachüberwachung nicht mehr richtig aus.“ Ich hörte, wie sein Atem zitterte. „Dadurch haben sich die Stabilisatoren ausgeschaltet. Es sind Lücken im Sprachgebrauch entstanden. Wir sind unseren Gefühlen ausgeliefert.“ Es klang panisch, hilflos. Hektisch. Ich fürchtete, er wolle abschalten oder zumindest das Gespräch unterbrechen, bis der Computer wieder auf unsere Unterhaltung zugreifen würde. Voller Angst schrie ich daher: „Papa!“ Immer wieder. „Bleib!“, schrie ich. „Bitte, bleib!“ Er hantierte immer noch, sein Gesicht wankte dabei, offenbar auch sein Körper. Und er wischte sich immer wieder über die Augen, wo auf einmal Tränen flossen. Bäche. Aber er redete nun, wenn es auch brüchig und zerrissen, dennoch sprudelnd und sich überschlagend herauskam. „Ich habe dich holen lassen, damit du Tonya kennen lernst. Damit du weißt, mit wem ich leben werde. Und damit du siehst, wo ich lebe, wie es ist. Falls wir uns niemals mehr sehen. Ich bin hier mit einem anderen Teil der Mannschaft auf der Raumstation vor unserem neuen Planeten. Sobald die letzten Vorbereitungen abgeschlossen sind, gehen wir hinunter. Von dort unten ist es nicht möglich, eine Verbindung zur Erde aufzubauen. Ich habe den Planeten mit einem Schutzschild überziehen lassen. Vielleicht sehen wir uns daher nie wieder. Nie.“ Er schluchzte auf, es schüttelte ihn, und auch mich erfasste diese Rührung. Auch mir liefen in Strömen die Tränen. „Ich habe dich lange vernachlässigt, Junge“, stieß er hervor, immer noch klang es erschüttert, fast gehetzt. „Ich weiß das, und es lässt sich nicht wiedergutmachen. Aber nun sollst du sehen, warum es so gewesen ist und wofür ich mich eingesetzt habe. Ich würde mir so sehr wünschen, dass du zu uns kommst. Dass du dieses Mädchen mitbringst. Aber ich habe auch Verständnis, wenn es nicht geht. Weil es so sehr viel ist, was ich verlange. Weil ich wieder deine Bereitschaft für etwas fordere, anstatt mich selbst für deine Belange bereit zu zeigen.“ Er holte tief Luft und wurde ruhiger. Er bediente wieder die Tastatur, und auf dem Monitor lief auf der Unterkante eine neue Schriftzeile: Papa – bedeutet Mitglied einer Familie. Familie – Synonym für zusammenlebende Menschengruppe. Der Computer hatte es also gecheckt. Papa – bedeutet eine Art Oberhaupt, auch Kommandant. Das Wort, das ihm bisher fremd gewesen war. Ernesto hatte es dem System soeben eingeimpft.   
   Die Stabilisatoren arbeiteten wieder. Ich nahm ihre Schwingungen, wie wenig spürbar sie auch sein mochten, wieder wahr. Mich selbst nahm ich wahr. Anders. Aufrechter, beherrschter, kühler. Entschlossener. Und meinen Vater ebenfalls. Ernesto Erster, der Professor, der Sprachschöpfer, der Weltengestalter. Papa.

Folge 43 vom 12. Mai 2020  

Die Tränen waren getrocknet. Ich hatte nach der erneuten Aktivierung der Stabilisatoren eine für mich nicht wahrnehmbare Zeit damit verbracht, den neuen Planeten zu besichtigen. Ernesto konnte mit seinen Kameras jede Stelle, jeden Winkel erreichen, er zeigte mir zahllose Motive auf dem Monitor, er kommentierte sie und erklärte mir seine Vorhaben und Entwürfe. Er schwärmte und schwelgte, und er hatte sich wieder in der Gewalt. Nicht er sich, sondern diese Stabilisatoren ihn.
   Immerhin, dieser sein Planet war eine einzige Verlockung. Die übersichtliche Struktur, die komplette Ordnung. Zugleich das Geheimnisvolle der Landschaften, die denen der Erde so vielfach glichen. Die kleinen Siedlungen, die auf ihre wenigen Bewohner warteten, an denen aber durch den vorläufigen Leerstand kein Schaden und kein Verfall eintreten konnte. Auch kein Raub, keine böswilligen Beschädigungen und kein Unglück durch Wettereinschlag, untergründiges Beben oder eine um sich greifende Feuersbrunst. Keine Vulkane oder Sturmfluten. Keine Achsenverschiebungen und Änderungen von Umlaufbahnen. Alles ordnete sich der Ordnung unter, die Ernesto mit seiner präzisen wissenschaftlichen Projektion angelegt hatte. Der tiefe Frieden, der herrschte, schloss jeden Kampf von Art zu Art und jede Form von Vernichtung aus. Der Kreislauf der Natur vollzog sich, ohne dass man einander belauern, töten und fressen musste. Durch die Langsamkeit dieses Kreislaufs war der Bedarf an Nahrung minimal. Man trank viel, man bewegte sich sinnvoll und gemäßigt, und das Wenige, das man zum Verzehr brauchte, wurde synthetisch erzeugt. Man beugte Krankheiten vor, man würde keine Vor- oder Nachteile erfahren, wurde nicht durch unnötiges Wetteifern beeinträchtigt, man hatte alle Bildungs- und Beschäftigungschancen, man erlitt keine Schikanen, Diskriminierungen oder Demütigungen.
   Die Kette der Annehmlichkeiten und Verheißungen schien unendlich. Ich konnte sie irgendwann nicht mehr fassen. Mein Aufnahmevermögen war erschöpft, ich stieß an die Begrenztheit meiner Vorstellungskraft.
   War es ein Paradies, das er mir gezeigt hatte?
   Ernesto Ersters Gesicht füllte am Ende der visuellen Führung wieder den Monitor aus. Dieses Gesicht sprach von Zufriedenheit, der Mann, mein Vater, der Professor war auf die ihm jetzt noch mögliche Art glücklich. Doch er begriff auch die Anzeichen meiner Überforderung. Egal, dass er es mir wieder anbot: „Für Tineke und dich könnte es keinen schöneren Platz zum Leben geben. Leben in der Ewigkeit. Leben in optimalen Verhältnissen. In ganz neuer Qualität. Und wenn es nicht anders gehen sollte“, er zögerte ein wenig, doch war dies keine Schwäche, sondern sollte wohl eher eine gewisse Großzügigkeit unterstreichen, „so kannst du deine Kolonne mitbringen. Jonathan und die Großmutter und“, dies fiel ihm sichtlich nicht so leicht, „meinen Bruder Edward. Die Computer haben es durchgecheckt: die Lebenserwartungen und das Anpassungsverhalten der drei. Es ist zwar grenzwertig, aber realisierbar. Wenn es deine Entscheidung positiv beeinflusst, dann soll es so sein.“
   Ich erwiderte nichts. Vielleicht hatte er in all seiner Forschungsarbeit sogar die Fähigkeit entwickelt, in die Zukunft schauen zu können. Dann würde er das eine wissen: Ich hatte mich längst für ein Nein entschieden.
   Wir sahen uns schweigend in die Augen. Waren das jetzt Sekunden, Stunden, waren es andere Zeiteinheiten?
   Ich hatte trotz der Stabilisatoren sehr starke Gefühle in mir. Wehmut, Traurigkeit, Angst. Ich litt. Nie wieder, dachte ich, werden wir uns sehen. Vater und Sohn. Nicht mal mehr via Bildschirm. Und ich sagte mit schwerer Stimme: „Ich hätte dich so gern noch einmal umarmt, Papa. Einmal noch, herzlich, innig … wie ganz früher … Ich glaube, diese wenigen Umarmungen, die es jemals zwischen uns gegeben hat, sie liegen lange zurück. Sehr lange.“ Mir versagte die Stimme. Ihm ebenfalls. Ich ahnte, begriff, dass die Stabilisatoren erneut ausgefallen waren. Diese Wörter liefen unten an der Bildkante entlang: umarmt, umarmen? ... Umarmungen, Umarmungen? … umarmt, umarmen? … Ich war abermals in meine Erdsprache gewechselt. Für diese wenigen Begriffe, die Ernesto nicht in den Sprachschatz aufgenommen hatte. Nicht in seine Gedanken- und Gefühlswelt. Warum nicht? Auch die anderen Wörter nicht: herzlich, innig? … herzlich, innig? ? ?
   Ich sah neuerlich Tränen in seinen Augen, die Mundwinkel zuckten. Die rechte Hand langte sofort zur Tastatur. Doch nun wurde der Monitor blasser, das Gesicht des Vaters verschwamm, es verlor sich. Er verschwand. Ich rief, schrie, als würde er ertrinken oder ersticken und meine Stimme könne ihn retten. Im letzten Moment noch. „Professor!“, schrie ich, „Herr Erster, Ernesto!“ Ich hoffte, die Stabilisatoren würden sich von selbst aktivieren und der Vater käme auf die Bildwand zurück. Und dann noch einmal: „Papa!“
   Nein. Es war vergebens. Meine Stimme erstarb, meine Augen starrten auf das Nichts. Ich seufzte tief und tastete mit der Hand an meiner Kleidung. Ein Taschentuch? Nein, ich trug diesen seltsamen Anzug. Er hatte keine Taschen, kein Taschentuch. Und ich wusste es ja auch: Es bedurfte in dieser interstellaren und intergalaktischen Welt keiner Taschentücher. Man heulte nicht, man schnupfte nicht. Man hatte die Stabilisatoren.
   „Vermutlich hat er den Computer nachprogrammiert, damit er bei Fehlwörtern die Verbindung sofort kappt. Er möchte keine Fehlreaktionen erzeugen.“
   Ich nickte stumm und begriff erst allmählich, dass Tonya neben mir stand.
   „Du hast das gut gemacht, Erasmus, wirklich. Mit Fassung und trotzdem nicht kalt und ablehnend. Er kann stolz auf dich sein. Er ist es.“
   „Ja“, entgegnete ich. „Ich bin auch auf ihn stolz. Auf eine andere Weise sicherlich als er auf mich. Aber ich kann mit niemandem darüber reden. Über ihn. Über unser Gespräch.“
   „Mit mir, Erasmus. Oder mit Lurtz.“
   „Wenn es unten wenigstens einen Menschen geben könnte. Tineke.“
   „Es liegt an dir. Nur an deiner Entscheidung. Komm mit. Komm zu uns. Ich habe gesagt, wir würden dir helfen. Ernesto hat dir sogar angeboten, dass du deinen gesamten Tross mitbringen könntest. Das war großzügig, denn die Computer haben für diese drei Leute eine klare Minus-Effektivität ermittelt. Der Professor müsste das demografische Programm umschreiben oder erweitern, um die drei zu integrieren. Ein wirklich unfassbares Zugeständnis an dich.“ 
   „Er hat gesagt, es gibt nicht die geringste Hoffnung, dass wir uns wiedersehen.“
   Tonya gab sich unentschlossen. „Man muss mit solchen Prognosen vorsichtig sein“, erwiderte sie. „Für uns steht natürlich die Sicherheit an erster Stelle. Aber wir möchten auch gern über das Geschehen auf der Erde Bescheid wissen. Vielleicht lässt sich später eine Zeitstaffel herstellen. Zu dir. Falls du zurück bleibst. Man bräuchte eine Vielzahl von Staffelelementen. Stationen. Es wäre in der Art von Satelliten. Es ist ja weniger das Problem, die Entfernung zu überbrücken als die Zeit. Die Zeit ist eine Dimension, für die selbst der Professor noch keinen brauchbaren Ansatzpunkt gefunden hat. Sie lässt sich elementar nicht erklären. Höchstens in ihren Erscheinungsformen und in ihren Auswirkungen.“ Sie schwieg, sie dachte nach. Sie sagte: „Ernesto hat es geschafft, die Zeit erheblich zu verlangsamen. Für uns. Wir gewinnen ihr günstigere Variationen ab. Genau genommen hat er sie für uns optimiert. Er wird sie weiter optimieren. Bis wir vielleicht wirklich unsterblich sein werden. Ist das nicht genial? Aber der bisherige Lösungsweg führte ursächlich über die Lebensform, über unsere Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit. Er kann die Zeit also weder bremsen noch aufheben. Nicht mal er.“ Sie sah ein bisschen traurig aus. Nicht, weil es hier ein unüberwindliches Hindernis gab, sondern weil sie es für Ernesto bedauerte. Sie sagte es ja auch: „Ich hätte es ihm so sehr gegönnt. Dass er diesen Code entschlüsselt. Wo er so vieles andere erfolgreich angegangen ist.“    Wir schwiegen einige Sekunden. Bis ich unversehens eine gänzlich andere Frage stellte: „Könnt ihr, kann er eigentlich auch in die Zukunft sehen?“
   Tonya schüttelte den Kopf. „Nicht so wie du das jetzt gern hättest. Die Computer stellen Berechnungen an. Daraus lassen sich Prognosen ableiten. Die sind durchaus dicht an der Wahrheit. Mehr aber nicht. Wir können weder hellsehen noch determinieren. Und das, was die Leute Vorsehung nennen, obliegt nicht unserem Einfluss.“
   Ich glaube, ich war erleichtert. Ich schloss die Augen.
   Ich sagte: „Ich will zurück.“      

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Kap. 44 am  13. Mai 2020