Tonyas
Gleichmäßigkeit war beeindruckend. Und zugleich aufreizend. Wir würden uns doch niemals wiedersehen. Auch wir nicht.
Machte ihr das nichts aus? Mir schon. Weil ich es unvorstellbar fand, jemanden, den man
sehr mag, ziehen lassen zu müssen. Für immer. In eine ewig währende
Unerreichbarkeit. Ich fragte sie nicht, ob sie darunter leide. In mir drehte sich
sowieso so manches. In meinem Kopf, in meinen Gefühlen. Ich hätte, als ich in
der Kapsel saß, um zur Erde zurückzukehren, einfach wieder herausspringen und
mich vor den Monitor setzen mögen. Und immerzu schreien: „Papa, ich möchte dich
noch einmal umarmen!“ Und Tonya hätte ich auch gern umarmt. Ganz fest, und dabei
hätte ich flüstern oder schreien mögen: „Bitte gib diese innig herzliche
Umarmung an Ernesto weiter. An Papa. Und wenn es eben zehn Jahre dauert, ehe du
ihn triffst. Oder hundert. Oder tausend.“ Aber sie saß so unnahbar neben mir. Trotzdem ganz nah. Ich
konnte ihre Aura eratmen. Und die wirkte auf mich wie vordem diese
Stabilisatoren. Erzieherisch, beruhigend. Immerhin auch hilfreich. Sie begleitete mich den gesamten Weg, den wir gekommen waren,
nun zurück. Sie behandelte mich freundlich wie zuvor, sie beantwortete
meine Fragen, und sie sparte das Thema, das eigentlich für sie wichtig gewesen
wäre, aus. Es sei denn, ich selbst schnitt es an, indem ich fragte: „Werdet ihr
eine Art Ersatz für mich suchen? Für mich und Tineke? Werdet ihr ihn finden?“ Sie verneinte. Sie sagte ernst: „Es gibt keinen Ersatz. Du
weißt es. Die Besiedlung des neuen Planeten startet mit wenigen Menschen. Du
hast die Besatzung des Raumkreuzers gesehen. Es sind nicht viele, die
hinzukommen. Ob wir personell jemanden für dich hinzunehmen, wird vielleicht noch
entschieden. Vielleicht mit ja. Du musst es nicht wissen.“ Doch, ich hätte es schon gern gewusst. Sehr gern.
Vieles hätte ich gern noch erfahren. Vieles, das mir nur als
Mitreisendem zuteil geworden wäre. Etwa was aus jenem unterirdischen Raumfahrtbahnhof
werden sollte. Als ich Tonya danach fragte, waren wir schon zurückgekehrt auf
die Erde. Wir befanden uns noch Tausende Kilometer nordöstlich vom Ural. In
eben diesem Raumfahrtbahnhof. „Werdet ihr dieses Objekt sprengen oder womöglich
fluten?“ Sie verneinte abermals. „Dieses Objekt wird komplett übergeben.
Eine Raumfahrtbehörde aus Übersee hat Interesse gezeigt. Wir werden in den
nächsten Wochen alle Daten löschen, alle Anlagen demontieren und die
Infrastruktur neutralisieren. Das meiste werden die Computer erledigen. Sie
sind einfach gründlich. Und sie werden, wenn sie diese Arbeit erledigt haben,
sich selbst neutralisieren. Das Objekt wird bei der Übergabe steril sein. In
allen Belangen und in allen Dimensionen. Es wird dann nicht den geringsten
Hinweis auf unser Projekt oder auf Spuren unserer Arbeit geben. Auf Spuren von
uns. Die Nachfolgebehörde wird ein eigenes Raumfahrtprogramm auflegen. Die neuen
Nutzer werden auf dem Stand arbeiten, der allgemein als gegeben gilt. Erdumkreisungen
und Mondflüge. Der Professor hat geschmunzelt, als er es hörte. Woran wir
gearbeitet haben, auf welchem Niveau, und wohin wir gestartet sind, was wir in
die Tat umsetzen, das wird nicht mal jemand ahnen. Zum Glück, denn jene Leute,
die sich Forscher und Wissenschaftler nennen, müssten verzweifeln. Vermutlich
wird kein Team auf dieses Niveau kommen. Nicht in tausend Jahren.“ Ich trug jetzt wieder die Kleidung, in der ich Tinekes Wohnung
verlassen hatte. Es verursachte mir ein seltsames Gefühl. Es verursachte
Unwohlsein. Dieser leichte Raumanzug hatte vordem völlig für mich gereicht. In
allen Situationen. Ich hatte weder gefroren noch geschwitzt. Ich hatte mich
nicht eingeengt oder verloren gefühlt. Ich fragte Tonya, ob ich den Anzug nicht
behalten könne. Zur Erinnerung oder zum Anziehen in Stunden der Sehnsucht und
des Alleinseins. Sie verstand den Wunsch nicht. „Du hättest mit uns kommen und
immer diesen Anzug tragen können. Er ist verschleißresistent. Er reinigt sich
selbst. Während du ihn trägst. Er verhindert deine eigene Verunreinigung.“ Doch
sie nahm den Wunsch ernst, sie bediente kurz die Tastatur und gab ihn als Frage
weiter. Es war in der künstlichen Sprache. Ich war überrascht, weil ich alles,
das sie sagte, verstand. Die Antwort verstand ich ebenfalls: Ja, ich durfte diesen
Anzug behalten, es würde sich freilich kein Hinweis auf seine Herkunft mehr
daran befinden. Steril, auch bezüglich seiner Herkunft, so sollte er sein. „Und die Sprache?“, fragte ich. „Ich habe eure neue Sprache
immer noch im Kopf.“ Tonya sah mich verständnislos an. „Dachtest du wirklich, wir
verabreichen dir eine Gehirnwäsche? So wie in den Fantasy-Filmen, die du
gesehen hast.“ Sie war ernst geblieben. „Du wirst die Sprache mit der Zeit
vergessen. Es ist ja niemand da, mit dem du sie sprechen könntest. Und es wird
sich niemand finden, der sie von dir lernen will.“ Ich überlegte, wer in Frage käme. Ich stieß auf Jonathan. Er
war gutmütig, und wenn ihn etwas interessierte, fragte er nicht nach
finanziellen Vorteilen und nicht nach dem Aufwand. Ich würde sie ihm beibringen
und sie mit ihm sprechen können. Vielleicht. Sie sah mich irgendwie komisch an, als ich über Jonathan
sprach. Ausweichend, verwirrt. Dann lachte sie auf einmal. „Wer weiß, ob Jonathan
auf Dauer bei euch bleibt.“ Es klang aufgesetzt. Ich maß ihrem Verhalten keine
Bedeutung bei. Ich sagte: „Du kannst ja doch herzhaft lachen. Endlich.“ Und:
„Meinem Vater wird es guttun, wenn mal hin und wieder jemand in seiner Umgebung
lacht.“ Sie sah trotz des Lachens noch immer verwirrt aus. Ich erklärte: „Ich
bin froh, dass Ernesto dich gefunden hat und du bei ihm bleiben willst. Das
heißt, erst musst du ihn ja erreichen.“ „Ja“, erwiderte sie. Mehr nicht. „Ich werde oft an euch denken. Auch wenn du schon weit weg
bist. Bei ihm. Wenn ihr zusammen seid.“ Mir wurde schwindelig. Meine Knie, sie
schienen einknicken zu wollen. Ich gestand: „Eigentlich kann ich es nicht
fassen.“ „Was?“, fragte sie. „Alles, was ich erlebt habe. Oder nichts. Wie man’s halt
ausdrückt.“ Ich fühlte, wie Tränen in mir aufstiegen. Und ich meinte, in ihren
Augen auch welche zu sehen. Ja, wirklich, Tränen. Sie liefen auf einmal über
ihre Wangen. In Bächen. „Tonya“, staunte ich. Doch sie straffte sich. Sie lächelte.
Über sich selbst. Wieder gekünstelt, aufgesetzt. „Darf mir eigentlich nicht
passieren. Wo ich von Ebene Drei direkt auf Ebene Eins befördert werden soll.
Und noch weiter.“ Ich hatte ein Taschentuch in meiner Hose. Es war zerknautscht
und hatte ein paar Flecken. „Nimm’s mal“, bat ich. „Behalt’s mal. Eine
Erinnerung. Auch für meinen Vater.“ Sie griff danach, sie betrachtete es mit Scheu. „Unsere
Kleidung hat keine Taschen und unsere Konstitution erfordert so etwas nicht.
Ich lege es aber her und nehme es später mit. Es muss von den Computern
gecheckt und steril gemacht werden.“ Ihre Miene war wieder ernst. „Wir haben so
viele Erinnerungen an dich, Erasmus. Dein Vater hat mir vorher schon vieles
erzählt.“ Vielleicht hätte sie noch etwas Sentimentales sagen wollen.
Vielleicht: „Du und Tineke, er und ich, wir vier wären ein super Team geworden.
In der neuen, schönen Welt.“ Die Mahnung, dass wir zum Flugzeug müssten, kam nun dazwischen.
Dunkel erinnerte ich mich an den Flug über den Ural. Die Luftlöcher. Dies stand
mir, uns nun abermals bevor. War es richtig, dass ich dachte: uns?
„Der
Computer hat deine Uhr bereits eingestellt. Dein Handy ist auch aktualisiert.
Du solltest nachher die Mitteilungen durchsehen. Bestimmt hat jemand versucht,
dich zu erreichen.“ Wir standen in der Schleuse des Flughafens. Beide hatten
wir den Flug gut überstanden. Auch die Turbulenzen im Bereich des
Ural-Gebirges. „Du bekommst einen Wagen mit verdunkelten Scheiben. Ich werde
nicht weiter mitfahren. Das ist so festgelegt. Der Fahrer bringt dich allein in
die Hauptstadt, in die Nähe von Tinekes Wohnung. Tineke wird gerade von der
Arbeit zurückgekommen sein, wenn du an der Haustür klingelst. Du brauchst also
nicht zu warten.“ Tonya sah ganz entspannt aus. „Übrigens findest du im Auto
einen Blumenstrauß. Außerdem Pralinen. Und eine neue Sonnenbrille. Sehr
damenhaft, sehr passend zu Tinekes Gesicht. Du hast alles gekauft. Sagst du ihr.
Der Strauß ist übrigens in eueren Farben dekoriert. Rot, weiß und blau.“ Ich nahm ihre Worte nicht auf. Nicht wirklich. „Bist du nicht auch irgendwie traurig?“, fragte ich. „Es ist
unser Abschied, auf immer.“ Sie schwieg. Sie blieb reglos.
Sie umarmte mich. Nun doch. So fest und innig, wie ich es
gewünscht hatte. Noch während sie mich losließ, spürte ich unter meinen Füßen
eine Bewegung. Ein Laufband zog mich aus der Schleuse. Ich schaute nach unten,
und ich schaute nach hinten, und als ich nach vorn schaute, befand ich mich
bereits einen Meter von der Stelle entfernt, an der sie und ich gestanden hatten.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich noch ihr Gesicht, ihre Gestalt. Dann
schob sich ein Wandsegment zwischen uns. Es ging so schnell, ich konnte nichts
sagen, auch sie nicht. Es war gut so.
Folge
45 vom 14. Mai 2020
Die Sonne tauchte die Häuserfassade
mit ihren flach einfallenden Strahlen in ein mildes Licht. Das Laub der Straßenbäume
war inzwischen rötlich gelb. Ein paar Tauben gurrten so aufgeregt, als würden
meine Schritte ihr Abendgeflatter stören. Auf der Straße überholte mich jetzt
die Limousine, die mich soeben an der vorletzten Kreuzung abgesetzt hatte. Die
Scheiben im Fond waren nicht mehr verdunkelt, der Fahrer wirkte wie jeder
andere Autofahrer in dieser Stadt auch. Ich wankte wie
benommen über den Bürgersteig. Es waren geschlängelte Linien, in denen ich mich
fortbewegte. Unwirklichkeit umgab mich, Unwirklichkeit war in mir. Ich erreichte
die Haustür, ich stand dort und starrte wie durch einen dichten Nebelschleier auf
das Schild mit Tinekes Namen. Ich brachte es nicht fertig, die Hand zu heben
und den Knopf zu drücken. Erst als sich der Summer auch ohne mein Klingelzeichen
meldete, stellte ich den Fuß gegen das Türblatt. Welch eine Kraft es mich
kostete, um diesen schmalen Spalt zu öffnen, durch den ich in den Flur gelangen
konnte. Welche Zeit es brauchte, um diese ein, zwei Schritte zu tun und dann das
Geräusch zu hören, das das zurückschnappende Türschloss verursachte. Klack. Ich
war drin, die Tür war zu. Vor mir die Treppe. Soundsoviele Stufen. Ich stand
aber immer noch. Wie lange? Weiß nicht. Lange. „Hallo, warum
kommst du nicht hoch? Hab doch durchs Fenster gesehen, dass du’s bist. Hab doch
gewartet wie nur was.“ Tinekes Stimme sickerte für mich gerade noch hörbar
durch das Treppenauge. Ich setzte Fuß vor Fuß, ich erklomm Stufe für Stufe. Als
ich den Treppenabsatz vor ihrer Wohnungstür erreicht hatte, kam ich irgendwie
nicht weiter. Egal, dass ich sie in der Türöffnung stehen und mich erwartungsvoll
anschauen sah. Die Frau, die ich liebte. „Tineke“,
flüsterte ich. „Bin wieder hier. Endlich.“ Sie erschrak.
Ihre Augen weiteten sich, der Mund öffnete sich mit seinen hübschen roten
Lippen. „Himmels Willen.“ Schon im selben Moment stürzte sie auf mich zu. Sie
unterlief mit ihrer rechten Schulter meine linke Achsel und zog, trug und schob
mich über die Schwelle. Durch den Flur. In ihr Zimmer. Ich drückte ihr den
riesigen Blumenstrauß und die Päckchen mit den Geschenken in die Hände. Dann saß
ich in dem wunderschönen Sessel in ihrem Zimmer, musste, durfte, konnte die
Beine hochlegen. „Hast du
getrunken?“, fragte sie fast fassungslos. „Oder gekokst?“ Ich schüttelte schwach
den Kopf. „Erschöpfung“, erwiderte ich kläglich. „Bin total erledigt. Bin am
Ende.“ Sie starrte
mich an. Entsetzt, erschrocken. „Ich verstehe dich nicht, Erasmus. Eben, als du
vor der Tür standest und geredet hast, habe ich dich schon nicht verstanden. Es
ist, als würdest du eine fremde Sprache sprechen. Was Afrikanisches. Oder
Burmesisch. Kittakombolatinisch. Irgendwas, das hier keiner versteht. Ist das
überhaupt eine Sprache?“ Ich verdrehte
die Augen. Welch ein Fauxpas, ich redete in Ernestos Neu-Sprache. Als wäre sie
mir angeboren. War sie mir vielleicht angeboren? Gen-Übertragung? Ich musste
nachdenken. Was hieß noch mal Erschöpfung? „Soll ich dir
einen Kaffee kochen? Einen ganz starken. Löslichen. Pulverkaffee. Es geht ganz
fix. In der Küche ist noch heißes Wasser.“ Sie sauste
schon los. Meine Gedanken schalteten jetzt um. Diese Wörter, Kaffee, Küche,
heißes Wasser, es gab sie in der anderen Sprache nicht. Papa, umarmen, innig,
herzlich. Und Erschöpfung. War denn irgendwann im Raumkreuzer so etwas wie
Erschöpfung erwähnt worden? Es gab auch keinen Geruch von frischem Kaffee.
Hatte es überhaupt einen Geruch gegeben in dem Raumkreuzer? „Steril, es muss
von den Computern steril gemacht werden.“ War es das? Wie das roch.
Frischer Kaffee. Leben, Belebung. Ach, Tineke. „Haben sie dir
dort nicht mal eine Tasse Kaffee angeboten?“ Das klang besorgt, hilfsträchtig. Entsetzt.
Taten- und rachedurstig. Mütterlich. Tineke, die Löwenmutti. Ich trank
schnell, um keine Antwort geben zu müssen. Zu schnell trank ich und verbrannte
mir die Zunge. Ich schimpfte. Es war wieder in der anderen Sprache. „Mensch,
Mensch.“ Tineke zitterte. Sie hatte Tränen in den Augen. Schon wieder Tränen. „Ich
würde dir ja was zur Beruhigung verabreichen. Oder zur Stärkung. Eine Tablette.
Oder Tropfen. Aber so auf Verdacht, das geht nicht. Ich muss erst wissen, was
los ist. Was sie dort, wo du warst, mit dir gemacht haben.“ Sie pustete in
meine Kaffeetasse, damit sich der Inhalt abkühlte. „Vielleicht ist Kaffee aber
tatsächlich besser.“ Ich fasste die
Tasse, zog sie nahe an mein Gesicht. Ich atmete tief den Duft ein. „Kaffee“,
sagte ich andächtig. Es war nun wieder in unserer Sprache. Meiner, Tinekes. Ich
kam mir vor wie Freitag, der von seinem Heilsbringer Robinson Crusoe allerlei
neue Begriffe lernt. Danach nippte
ich am Rand der Tasse. Ich schloss die Augen und ließ das Aroma tief in mich
hineinströmen. Ich genoss es. „Das Beste wird
sein, du schläfst.“ Obwohl ich die Augen geschlossen hatte, wusste ich, wie
dicht sie an mich herangekommen war. An mein Gesicht, meinen Mund. „Ich nehme
dir jetzt die Tasse aus der Hand und helfe dir aus deinen Sachen. Ist das OK?“ Ich nickte
schwach. Ich war so sehr froh, wieder zu Hause zu sein. Bei ihr. Sie zog mein
Shirt über den Kopf, die Wäsche. Ich ließ es geschehen, streckte Arme und Beine
vor, damit es leichter ging. Ihre Hände betasteten vorsichtig die Haut meiner
Armbeugen, ich sah bei einem letzten Zwinkern, dass ihr Blick meinen Rücken
absuchte. Als ich unter der Bettdecke lag, hörte ich sie sagen: „Ich wollte nur
sicher gehen, dass du nicht irgendwo Einstiche oder frische Wundnarben hast. Blutentnahme,
Drogen. Oder ob sie dich zur Organspende missbraucht haben. Ich kenne so einen
Fall aus einem Film.“ Ich schüttelte
kraftlos den Kopf. Ich schlief.
Folge
46 vom 15. Mai 2020
„Ich
hab noch nie so wunderschöne Blumen bekommen. Vor allem, dass sie in unseren
Lieblingsfarben dekoriert sind, das ist der absolute Knüller.“ Ich hörte ihre
Stimme, sie klang ganz erfüllt. Ich hatte die Augen kurz geöffnet, schloss sie
wieder, öffnete sie nun endgültig. Ich war auch jetzt benommen, umgeben von
Unwirklichkeit. Nein, nicht ganz. Tineke, sie war wirklich. „Ich brauche dich“,
sagte ich. Sie kniete neben dem Bett. Sie atmete tief. Es
verursachte einen leichten Luftzug auf meinem Gesicht. „Möchtest du ein
Frühstück?“, fragte sie. „Im Bett? Ich war beim Bäcker Brötchen holen.
Knusprige Dinger.“ Nein, ich wollte nicht im Bett frühstücken. Ich wollte sowieso
auch nicht im Bett sein. „Wie spät ist es?“
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. „Es ist noch nicht spät.
Halb neun.“ „Und welcher Tag?“ „Wie, du weißt nicht, welcher Tag ist?“ Wie entsetzt sie
aussah. „Samstag. Und du bist vorgestern zurückgekommen. Genau nach jenen vier Wochen,
die du vorausgesagt hast. Und du hast fast anderthalb Tage geschlafen. Alle
Achtung.“ Ich schloss die Augen, nun doch noch mal. Ich sah den Monitor
mit dem Gesicht meines Vaters. Papa. Und Tonya und Lurtz. Der Planet. Die neue
Sprache. Ich erschrak. Ich starrte Tineke an. „Kannst du mich jetzt wieder
verstehen? Die Sprache.“ Sie nickte fest. „Was war los, wo hast du dieses Kauderwelsch
aufgeschnappt?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Man könnte denken, du warst
bei einem Stamm am Amazonas und nicht in der Rhön.“ Ich verstand sie nicht. „Rhön?“ Sie seufzte. „Wenn man schon diese fürchterliche Geheimniskrämerei
betreibt, dann sollte man es richtig tun. Professionell. Jetzt habe ich also
die Geschenke ausgepackt. Du hattest sie mir gegeben. Und naturgemäß habe ich
vor Neugier gebrannt. Die leckeren Pralinen. Die Blumen sowieso. Ich war
wirklich hin und weg. Aber dieser seltsame Zweiteiler, auf den ich zuletzt
gestoßen bin. Mintfarbener Anzug, ohne Taschen, ohne Knopf und Reißverschluss.
Sogar ohne Gummizug. Auch keine Hosenträger. Dieser komische synthetische
Stoff, wo ich nicht gedacht habe, dass es so was gibt. Da klebte dieser Zettel
drin: Besucher-Kleidungsstück der Rhön-Klinik Kantemus zur kühlen Ruhe in Bad …
Um welchen Bade- oder Kurort es sich handelt, konnte ich nicht feststellen, das
letzte Stück vom Zettel war abgerissen.“ Ich musste lauthals lachen. So laut, dass es mich
schüttelte. Als würde ich frieren. Tineke sah mich stumm an. Und stumpf. Ein bisschen Vorwurf.
„Ich hab im Internet gesurft. Es gibt keine Klinik, die Kantemus heißt. Zur
kühlen Ruhe, das schon gar nicht. Nicht in der Rhön und nicht im ganzen Land.
Wahrscheinlich auf der ganzen Welt nicht.“ Sie seufzte besorgt. „OK, Erasmus,
wir hatten vereinbart, dass du mir nicht sagen musst, wo du diese vier Wochen verbringst.
Dann soll es halt dabei bleiben.“ „Und die Sonnenbrille?“ „Welche Sonnenbrille? Ach so, die.“ Sie erblühte sofort.
„Die Sonnenbrille, die ist so was von super. Sie sitzt, als hätte man sie nach Maß
für mich angefertigt. Wackelt nicht, rutscht nicht, ist nicht zu spüren. Und
wie ich damit sehen kann, nicht zu glauben. Die Gläser passen sich an. Ans
Licht und anscheinend sogar auf alle Entfernungen und auf alle angepeilten
Objekte. Ich musste vorhin nicht mal zwinkern, als ich beim Bäcker war. Ich
konnte die Zeitungs-Überschriften am Kiosk schon von weitem lesen. Sagenhaft. Es
ist so ganz anders als der Zweiteiler.“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf.
„Also, über den Zweiteiler komme ich nicht hinweg. Wie konntest du dieses Teil
auftreiben? Doch wohl nicht in der Rhön.“ Ich lachte abermals. Nicht mehr so heftig. Und ich sagte:
„Der Zweiteiler war kein Geschenk für
dich. Er lag einfach nur zwischen den anderen Sachen. Ich wollte ihn selbst behalten.
Für mich. Als Erinnerung. Gelegentlich möchte ich ihn aber auch tragen.“ Ich
atmete tief durch. „Wenn ich mich einigermaßen gesammelt habe, versuche ich,
dir alles zu erzählen. Wo ich war, wen ich getroffen habe. Vielleicht kannst du
begreifen, wie überrascht ich selbst von allem gewesen bin. Obwohl ich nicht
weiß, ob es was bringt.“ „Ob es was bringt? Du gehst also von vornherein davon
aus, dass ich dir nicht glauben werde. Schlecht. Vielleicht solltest du es lieber
aufschreiben. Und ich lese es.“ „Und wirst du es dann glauben? Schwarz auf weiß.“ „Wenn du sagst, dass es wahr ist. Ja.“ „Und wenn ich von einer ganz unglaublichen Reise und noch
unglaublicheren Begebenheiten schreibe? Von meinem Vater und von anderen
Leuten?“ Sie starrte mich an. Sie sah genervt aus. „Tu’s doch
einfach. Ja? Und wenn nachher rauskommt, dass du doch nicht bei deinem Vater in
irgendeiner Klinik warst, sondern dass du selbst in der ominösen Irrenanstalt
Kantemus, die es allerdings gar nicht gibt, behandelt beziehungsweise
nottherapiert wurdest und dabei deine kühle
Ruhe gefunden hast, was immer das sein mag, dann werde ich das akzeptieren.
Dann ist das deine Wahrheit. Eine Wahrheit. Und meine. So geschafft und
verwirrt wie du zurückgekommen bist, ist es auf jeden Fall heftig gewesen.“ „Vielleicht war ich in gar keiner Irrenanstalt und man hat mir den Zettel einfach in den Anzug gelegt?
Rein geschmuggelt. Aus Gründen der Geheimhaltung, der Sicherheit. Zur Ablenkung
vom wahren Sachverhalt.“ „Dann bliebe immer noch der Anzug als solcher. Und ich
will wirklich nicht gemein sein, mein Lieber, aber solch ein Kleidungsstück
aufzutreiben, da hätte ich für meinen Teil schon mal Mühe. Da müssten dann
schon richtig spezielle Sicherheitsleute am Werk gewesen sein. Nicht nur irgendwelche
harmlosen kühlen Rhön-Ruhe-Polizisten. Und das Ganze letztlich nur, um so ein
unbedeutendes Kind wie mich in die Irre zu führen?“ Sie kicherte plötzlich.
„Schön, dass dein Humor nicht erloschen ist. Jerominus!“
Ich
fand die Idee nicht übel. Aufschreiben. Alles. Für mich. Ob ich es Tineke
nachher zu lesen geben würde, musste ich jetzt noch nicht entscheiden. Eher
nicht, das war abzusehen. Es würde in der berühmten Schublade, genau genommen
in einem Unterordner auf meinem Laptop, landen. Zumindest fiel mir das
Schreiben mit diesem Beschluss leichter.
Folge
47 vom 16. Mai 2020
„Ich muss dir
was gestehen“, sagte Tineke. „Ich habe mich für heute und morgen zum Dienst
angemeldet. Nachmittagsschicht im Klinikum. Ich habe in der Zeit, in der du weg
warst, auch an den Wochenenden gearbeitet. Nun haben sie mich in der Klinik
auch für dieses Wochenende eingetragen. Das heißt, ich habe nicht
widersprochen, als sie mich fragten, ob ich komme. Ich war mir irgendwie nicht
sicher, dass du tatsächlich nach diesen angekündigten vier Wochen wieder da bist.
Ich wollte nicht allein in der Wohnung sitzen. Und allein an die Küste wollte
ich schon mal gar nicht fahren. Zu unserer Familie.
Ich krieg dafür demnächst ganz viele Tage zusätzlich frei. Einen Teil davon
werde ich für meine theoretischen Studien verwenden, den anderen verbringen wir
als Pflicht-Urlaub an der Küste. Bist du einverstanden oder bist du sauer, weil
ich mich so reinknie und weil ich gleich wieder arbeiten muss?“ Wir saßen beim
Frühstück, das eher ein Spätstück war. Es ging auf den Mittag zu. Nein, ich war
nicht sauer. Vielleicht war es gut, dass sie nachher arbeiten ging. Ich fühlte
mich mittlerweile besser, ich würde, wenn sie fort war, mit dem Schreiben
beginnen. Es brodelte in mir. Die Bilder des Ausfluges wanderten als
überdimensionale Gebilde von einer Hirnhälfte in die andere. Es war, als würden
sie mit riesigen Füßen in mich hineintreten. Neben meinem
Gedeck lagen Tinekes Geschenke. „Ich hab auch was für dich. Habe vor ein paar
Tagen mein erstes neues Gehalt und dann noch eine ansehnliche Nachzahlung von
der vorigen Stelle gekriegt.“ Sie strahlte gewaltig. „Ich weiß. Und
du warst gleich einkaufen.“ Die Bemerkung rutschte mir einfach so raus. Sie sah mich
erstaunt an. Das Erstaunen wandelte sich schnell in Empörung. „Nichts weißt du.
Es sei denn, du hast in dieser Kantemus-Anstalt nebenbei einen Hellseher-Kurs
absolviert. Dann wirst du ja auch wissen, was sich in den drei Päckchen
befindet.“ Ich dachte an Tinekes
Telefongespräch mit Edward Erster. „Rotes Oberhemd, weißes T-Shirt und Blue
Jeans.“ Ich musste meine gesamte Beherrschung aufbieten, um es nicht zu sagen. Red,
white and blue. Vor allem, um noch überrascht auszusehen. Um mich zu freuen. Nein, als ich
die Sachen sah, freute ich mich in der Tat. Sie hatte an mich gedacht, mit
Liebe. Ich lenkte es in die scherzhafte Bahn. „Jetzt bist du mir endgültig auf
die Schliche gekommen. Kantemus, das ist tatsächlich der Name eines Hellseher-Instituts.
Leider haben sie dort keine Internetseite.“ „Ach. Hatte ich
das nicht sowieso vermutet? Und das Kauderwelsch, das du gesprochen hast, heißt
Kante-Musisch. Oder? Also, wenn es sich wirklich als geheime Sprache herausstellt,
möchte ich sie auch unbedingt lernen. Zusammen mit dem Hellsehen. Am besten
auch im Vier-Wochen-Crash-Kurs. Was muss ich dafür tun?“ „Voraussetzung
ist ein mintfarbener Anzug. Ein Zweiteiler. Ohne Taschen, ohne Knöpfe, ohne Reißverschluss,
ohne Hosenträger. In den steigst du rein, und dann musst du dich damit vier Wochen
versteckt halten. In der Rhön. Niemand darf dich sehen oder anrufen. Schon bist
du drauf. Du kannst dieses Kante-Musisch sprechen, und das mit dem Hellsehen
klappt auch mit der Zeit. Klar, die ersten Male geht es meist daneben, weil
sich der Anzug an dich gewöhnen muss. Aber es gibt sich.“ „Soll ich mal
raten, wo es die Anzüge gibt?“ Ich setzte eine
skeptische Miene auf. „Auch in der
Rhön, oder?“Ich lachte
laut. „Volltreffer. Leider ist die Rhön denn doch nicht so klein, als dass man
den Anzug auf Anhieb im erstbesten Second hand findet. Genau genommen hat man
nur alle zehn Jahre die Chance. Und zwar für vier Wochen.“ „Schade, ich
hätte das gut für die Arbeit brauchen können. Mit diesem Hellsehen im
Kantemus-Verfahren wäre es im Krankenhaus erheblich einfacher, Diagnosen zu
erstellen.“ Sie seufzte. „Kann ich nicht deinen Anzug haben? Nur mal für
heute.“ Ich zuckte die
Achseln. „Warum nicht. Aber es wird nicht funktionieren. Mit der Sprache, mit
den sicheren Diagnosen.“ „Schade. Dann probier
jetzt wenigstens die Sachen an.“ Ich zögerte.
Hemd, Hose, T-Shirt. Red, white and blue. „Was ist? Gefallen sie dir etwa nicht?“
Nach dem Mittag brachte ich sie zur
U-Bahn. Ich hatte das Bedürfnis, auf der Straße zu sein. Unter den Menschen, zu
denen ich gehörte. Wie wacklig und durchgedreht ich auch war. Ich trug die
neuen Sachen. Sie sahen gut aus, sie gefielen mir. Aber sie waren ungewohnt. Immer
noch. Wegen des mintfarbenen Anzugs. Wegen der Leichtigkeit, mit der er sich
hatte tragen lassen. Es kam mir vor, als bewege ich mich ungelenk, fremd. Als
stoße ich dauernd irgendwo an. Ich sagte mir, es sei nicht wegen der neuen Sachen
so. Eingewöhnen, rückgewöhnen, darauf kam es jetzt an. Tineke dagegen hüpfte
neben mir. Sie sah glücklich aus. „Die Sachen stehen dir prima. Ich habe genau
das Richtige für dich gefunden.“ Sie hatte sich in meinen rechten Arm gehakt.
Es gab einen seltsamen Kontrast zwischen ihrer Leichtigkeit und meinen
stolprigen Schritten. Ich meinte, sie würde es nicht bemerken. Doch als wir uns
am Treppenschacht vor der U-Bahn-Station trennten, empfahl sie: „Geh mal jetzt
nicht gleich nach Hause, geh mal lieber bisschen bummeln. Schaufenster,
Kneipen, Kaufhäuser. Wenn du die Stadtluft schnupperst, verfliegt auch dein
Kantemus-Trauma. Du läufst nämlich rum wie Falschgeld.“ Ehe ich fragen konnte,
wie denn Falschgeld rumlaufe, umarmte sie mich heftig. „Pass auf, dass die Sachen
sauber bleiben!“, mahnte sie. „Ich zieh nämlich heute Abend noch mal mit dir
los. Mein Geld ist längst nicht alle.“ Und schon stürmte sie die Stufen
hinunter. Bevor sie im Schacht verschwand, drehte sie sich um und winkte mir
zu. Sie strahlte. Ihre Laune
steckte mich zusehends an. Ich ging jetzt etwas sicherer, und ich nahm die
Umgebung deutlicher wahr. Ich fühlte diese Benommenheit nicht mehr so stark. Ich
lebte wieder, hier. Allerdings ging ich nicht bummeln, sondern zurück in die
Wohnung. Erst mal. Passenderweise
klingelte das Telefon. Ich stand gerade im Flur. Während ich nach dem Hörer griff,
dachte ich an meinen Vater und an Tonya. Einer von beiden würde sich gleich
melden. Eine. Interstellar oder schon intergalaktisch. Prompt würden wir uns in
der künstlichen Sprache unterhalten. Kante-Musisch. Nicht doch. Es
war Edward. „Wie geht’s dir, mein Junge?“ Na gut, dachte
ich, du wolltest ohnehin mit ihm sprechen. Du wolltest Geld von ihm. Kohle. Ich
sagte es ihm, bevor er mir all diese Fragen stellen würde, die unumgänglich
schienen. Ich sagte ihm, ich brauchte das Geld so was von dringend, dass es
regelrecht pressiere. In einer halben
Stunde. Es stünden dringende Einkäufe an. Ein neuer Laptop, eigentlich ein
Notebook, neue Klamotten, mal schön mit Tineke ausgehen. Und Verlobungsringe.
„Hast du nicht die Möglichkeit, einen Boten zu schicken? Zweitausend Piepen.“
Folge
48 vom 17. Mai 2020
Er staunte, stotterte beinahe. Fiel in ein gedankliches
Luftloch. Wie ich über dem Ural. Vergleichsweise. „Zweitausend hast du doch in deinem
ganzen bisherigen Leben noch nicht bei mir geschnorrt. Aber immerhin, verloben,
das ist gut.“ „Naja“, krähte ich, „Geld schnorren, das hole ich jetzt
nach. Ich will schreiben, da musst du mich dann sowieso finanziell
unterstützen. Auf unbefristete Zeit. Aber nicht mit Almosen, sondern wie’s
einem guten Schriftsteller zusteht. Üppig.“ Er stöhnte wieder. Wieder wie ich über dem Ural. „Hattest
du nicht die ganzen Monate über schon geschrieben?“
Und er fasste sich. „Willst du mir nicht erst mal erzählen, wie es gelaufen
ist? Hattest du Kontakt zu Ernesto? Was macht er? Ist er wirklich –?“ „Bitte, Edward! Bitte, lass mir Zeit. Dieser Ausflug, der
hinter mir liegt, das ist genau das Thema, über das ich nun schreibe. Ich werde
auf diese Weise hoffentlich besser mit den Erlebnissen fertig. Und mit den
Ergebnissen. Und ich kann es vielleicht irgendwie erklären. Mir. Und Tineke.
Wenn sie mir dann nicht glaubt, OK, dann bleibt’s halt. Es ist eben der
Versuch.“ „Und ich?“, maulte er. „Werde ich es auch lesen dürfen?“ „Na gut“, entschied ich zögernd. „Du darfst es auch
lesen. Du hast ein Recht darauf. Aber bitte, stellt mir keine Fragen. Du nicht
und nicht Tineke. Jetzt nicht. Und nachher.“
Edward
Ersters Bank hatte dort eine große Filiale, wo sie die meisten anderen Banken
auch hatten. Die noblen Banken. Und die noblen Anwälte und Makler. Ein Viertel,
das einem Ghetto ähnelte. Weil ich erst nach dem richtigen Prachtbau, danach
nach dem richtigen Eingang und zuletzt nach der richtigen geheimen Klingel
suchen musste, wurden zwangsläufig zwei Security-Leute auf mich aufmerksam. Sie
näherten sich mir mit beabsichtigter Auffälligkeit und flüsterten bei drohend
vermutenden Blicken geheime Sätze in Mikrofone, die unter ihren Jacken steckten.
Mich ansprechen oder mich nach meinen Papieren fragen durften sie nicht. Da
hätten sie nämlich die amtliche Polizei rufen müssen. Na gut, es summte schon, bevor sie sich herangeschleppt
hatten. Ich durchlief zwei Flure, die durch klobige Glasschiebetüren abgetrennt
waren. Die Türen öffneten sich bei meinem Erscheinen mit einem leicht nervenden
Schleifgeräusch und schlossen sich, nachdem ich sie durchschritten hatte, auf
dieselbe Weise. Über den Durchgängen befanden sich auffällig platzierte Kameras.
Ich lächelte kurz in die Objektive und traf anschließend auf einen Typen mit
Glatze und vergoldeten Eckzähnen. Er bemühte sich nicht minder auffällig als
die Securities um mich. Allerdings auf die gegenteilige Art. Freundlich und
unterwürfig. „Das ist hier ein bisschen wie auf einem Raumkreuzer“, behauptete
er mit Blick auf die Monster von Schiebetürflügeln. „Man merkt quasi nicht, wie
man durchgeschleust wird.“ Ich lachte, und er fühlte sich geschmeichelt. Ich dachte,
was weißt du armes Hänschen schon von Raumkreuzern und geräuschlosen Schleusen?
Und ich glaube, es war in der Sprache meines Vaters, in der ich das dachte. Die
Sprache, von der Tineke und ich inzwischen herausbekommen hatten, dass sie
vermutlich Kante-Musisch hieß. „Ich bin froh, dass Sie auch außerhalb der offiziellen
Schalterzeiten für mich da sind“, bedankte ich mich freundlich-unverbindlich.
„Ich brauche ziemlich dringend –.“ Er fiel mir ins Wort. „Ich weiß schon. Fünftausend. Herr
Dr. Erster hat vorhin angerufen. Na, da sind wir gern zu Diensten. Es gibt kaum
jemanden, auf den wir uns mehr verlassen können. Wenn jemand kein Risiko für
unser Unternehmen ist, dann Herr Dr. Erster. Und wir freuen uns, auch mal einen
Nachfahren dieses hervorragenden Geschäftsmannes kennen zu lernen. Sie werden
ja ganz sicher alle seine Projekte fortsetzen. Und Sie werden sicher auch so
manches neue Projekt ins Leben rufen wollen. Gern sind wir bereit, auch für Sie
in fester Verbindung in Aktion zu treten. Kapital- und Vermögensverwaltung, Invest-Beratungen,
Immobilien, Kredit-Angelegenheiten. Alles eben.“ „Mal sehen“, deutete ich großzügig an und stopfte die
Scheine in die Brusttasche meines roten Hemdes. „Im Moment läuft alles ziemlich
gut. Kredite brauche ich nicht, und mein Vermögen verwaltet unser Senior mit.
Bei Ihnen, wie ich also feststelle.“
Einen
Juwelier suchte ich mir ohne Edward Ersters Empfehlung aus. Es war ein Laden,
der nicht direkt im obernobelsten Straßenzug lag, immerhin noch in einem
noblen. In einer Seitenstraße. Juweliere mögen Diskretion. Wirklich? Ich hatte
es in einer Zeitung gelesen. Wegen der eigenen Sicherheit. Und auch der
Sicherheit der Kunden, und weil es dieser und jener Kunde beim Kauf von Schmuck
lieber verschwiegen hat. „Es geht um Ringe!“, sagte ich leicht schüchtern, weil ich
bislang mit Schmuckkäufen und Juwelieren so gut wie nichts zu tun gehabt hatte.
Trotzdem, mit der dicken Marie in der Brusttasche und dem Ring, den ich vor
etwa einer Stunde aus Tinekes Schatulle gemopst hatte, fühlte ich mich den
selbst auferlegten jüngsten Pflichten und Bedürfnissen gewachsen. Egal, dass
ich zunächst von oben bis unten kritisch gemustert wurde. Womöglich war ich
jemand, der sich den Laden, wenn auch nicht sofort, gelegentlich vornehmen
wollte. Krach-bum, her mit den Klunkern und dem Kleingeld; oder es gibt was auf
die Rübe. Ich konkretisierte den Grund meines Kommens: „Genau
genommen geht es um zwei Ringe. Einen für mich, einen für meine Freundin. Gold
oder Platin. Und der Ring für meine Freundin sollte auf jeden Fall einen
Brillanten haben. Nichts Gewöhnliches demnach. Nichts Billiges.“ Und da mich der Juwelier skeptisch ansah, holte ich das
Bündel Geldscheine aus der Hemdtasche. Barzahlung. Dies zum einen, zum anderen legte ich Tinekes Ring auf
die Ladentheke. „Diese Größe soll der Ring für meine Freundin haben.“ Sagte man Größe? Oder besser Weite? Oder Durchmesser? Es klappte schon. Der Juwelier legte mir eine Platte mit
diversen Ringpaaren vor, und ich entschied mich ohne wesentliche Umstände für zwei
wunderbare Exemplare. Einen davon mit Brilli
und unauffälliger Musterung.
Folge
49 vom 18. Mai 2020
Aber eben: Tinekes Ringweite stimmte nicht. „Der ist deutlich
größer als Ihr Muster.“ Der Juwelier sah mich zugleich hoffnungslos und sehr
traurig an. Und als ich ihm sagte, ich hätte mal davon gehört, dass man Ringe mit
ungemäßer Passform durchaus auch auf die richtige Weite bringen könne, seufzte
er zutiefst, und es gesellte sich als dritte Komponente Mitleid in seinen Blick.
Da wäre ich wahrlich keinem Gerücht aufgesessen, versicherte er mir. Ändern
könne man Ringe schon, prinzipiell gar kein Problem. Nur nicht zu Zeiten wie
diesen, an einem Samstagnachmittag. „Es soll doch aber eine Überraschung sein!“ Ich
überlegte, ob ich dem Juwelier vielleicht mehrere hundert Euro zusätzlich
anbieten sollte. Nein, besser nicht. Die Wahrheit war das bessere Argument.
Meine Gefühle für Tineke, sie waren die Wahrheit. „Ich bin gerade erst von
einer beeindruckenden Reise zurückgekommen. Und nun möchte ich mich verloben.
Es würde meiner Freundin viel bedeuten. Und mir sowieso.“ Ich sah, dass er wankte. Womöglich erwartete er, dass ich
weiter auf ihn einredete, bis ich mich endlich in diversen Widersprüchen oder
Übertreibungen verlor. Dann würde ihm die Ablehnung leichter fallen. Ich tat und sagte nichts, ich wartete, ich sah ihn an.
Da seufzte er erneut, tiefer als vorher. Und er gab sich
geschlagen. „Ausnahmsweise. In drei Stunden können Sie noch mal kommen. Bis
dahin müsste der Ring fertig sein.“ Ich erstrahlte spontan, denn ich sah für den Moment
Tinekes Gesicht. „Jerominus, ich bin sprachlos.“ Ich erfühlte im Voraus ihre
Umarmung. „Verlobt. Da kannst du ja jetzt sogar legal in meiner Wohnung
übernachten.“ Der Juwelier sah mich jedenfalls versonnen an. Er
lächelte ein bisschen. Es mochte für ihn die Bestätigung sein, dass ich nicht
gelogen hatte. Ich eilte weiter. Ich kaufte einen Laptop. Nein, Laptops
hießen mittlerweile Notebooks. Das Notebook war mit diversen Extras
ausgestattet. Die gönnte ich mir einfach. Und es war zum Mitnehmen. Rein in die
Tasche, auspacken zu Hause. Ohne Anpassungserfordernisse wie bei einem Verlobungsring.
Ohne Gefühlsoffenbarungen. So was war in den großen Kaufhäusern nicht üblich. Danach eilte ich heim. Ich packte das Arbeitsgerät aus, warf
die sperrigen Verpackungen in den Flur und installierte, programmierte und
datete up, dass es fast eine Freude war. Schließlich hatte ich den Ordner, den
ich Tonya-001 nannte, für meine Story angelegt und das erste Textdokument geöffnet.
Ich begann zu schreiben. Wirklich?
Ich
tat mich schwer. Immer wieder fing ich von vorn an, immer wieder löschte ich
die zwölf oder zwanzig Zeilen, die vor mir als Einleitungsentwurf auf dem
Bildschirm hin und her wanderten. Ich schimpfte, sprang auf, lief durch den
Flur, setzte mich, begann erneut. Wo hatte die ungewöhnliche Reise angefangen? Lange schon,
bevor ich mich über dem Ural oder in der halb unterirdischen Basisstation
befand. Mit dem Blinden, mit Lurtz. War Lurtz denn wirklich blind? Hatte er nicht, je weiter
er sich von der Erde entfernte, Sinnesmöglichkeiten entwickelt, die seine
Blindheit ideal kompensierten und die wir als Erdmenschen gar nicht kannten? Ach, Lurtz. Ich schloss die Augen, ich sah mich noch einmal am Bahnhof
stehen, um mich herum das katastrophenhafte Gerangel. Menschen, Geschiebe, Lautsprecherdurchsagen,
Gemecker, Empörung, Wut. Und plötzlich die Berührung am rechten Ellenbogen.
„Ein fürchterliches Chaos ist das.“ Der Gang zur schwarzen Limousine. Es fühlte
sich wie ein Traum an. Ich nahm es gar nicht richtig wahr, dass ich plötzlich
über die Situation in und um den Bahnhof schrieb. Farbig, kraftvoll, trotzdem
nuanciert. Es rutschte einfach so dahin. Einfach so heraus. Schon saß ich mit Lurtz
im Fond des großen Wagens, schon unterhielten wir uns. Und ehe ich es überhaupt
realisierte, hatte ich die ersten Seiten des Berichts niedergeschrieben. Die
Gespräche, die Eindrücke. Wie von selbst war es gekommen. Als Eingebung. Von
draußen oder aus mir heraus? Von draußen doch wohl. Wirklich? Ich warf einen
Blick zum Fenster, ich schaute hinauf in den Himmel und sagte: „Danke. Das hat
jetzt echt geholfen.“ Tatsächlich glaubte ich fest daran, dass mir Tonya oder
Ernesto oder auch Lurtz diese Eingebung geschenkt hatte. Egal wie. Von dort
oben, aus der Ferne unseres sicher getarnten Raumkreuzers, der sich alsbald auf
intergalaktischen Kurs begeben würde. Aber im selben Moment klingelte auch die Uhr, die ich mir
im Computer eingestellt hatte. Zeitlimit. Drei Stunden waren rum, ich musste unbedingt
zurück in die City. Die Ringe, die Verlobung. „Tineke, du wirst staunen“,
prophezeite ich und vergluckste ein Lachen. Und: „Tineke, ich bin glücklich.“ Und ich war glücklich. Ich sah glücklich aus, als ich
durch die Straßen sauste, keine Frage. So glücklich, auf dass mich der Juwelier
sehr freundlich anlächelte und mir, nachdem ich bezahlt und die Ringe
eingesteckt hatte, eine lange Fortdauer des Glücks mit meiner Verlobten wünschte.
Ja, er schenkte mir sogar ein Fläschchen, schön verpackt, das so lustig gluckerte.
Er sagte: „Dann soll das frohe Ereignis wohl heute noch stattfinden.“ Und: „Ich
bin jetzt selbst froh, dass ich den Ring für Ihre künftige Verlobte entgegen
sonstigen Gepflogenheiten oder Grundsätzen noch rasch passend gemacht habe.
Glück färbt ab. Es ist der beste Baustein, den man sich im Leben wünschen kann.
Egal, wenn der andere, der finanzielle Baustein derzeit etwas wackelt. Heute
gehe ich jedenfalls beschwingter als sonst nach Hause.“ Ich packte die Gelegenheit beim Schopf und fragte ihn,
wie und wo und wann ich Tineke den Ring am günstigsten überreichte. Was ich
sagen sollte, ob überhaupt etwas. Er wusste es nicht. „Ganz so viele
Verlobungen hat es in meinem Leben nicht gegeben. Eigentlich keine. Meine Frau,
mit der ich immer noch zusammen bin, wollte gleich geheiratet werden.“ Er
kratzte sich leicht verlegen. „Um bei der Wahrheit zu bleiben. Sie musste geheiratet werden. Unsere Tochter
könnte es bestätigen. Und dabei stehen wir kurz vor der Silbernen.“
Folge
50 vom 19. Mai 2020
Als ich
wieder auf der Straße lief, schnapperte mein Handy. Tineke. Das Display verriet
es. „Du, ich habe vergessen, dir was zu sagen, was vielleicht wichtig ist. Ich
habe doch zwischendurch die Limousine in die Villa deines Onkels gebracht. Nicht
dass du dich wunderst, weil jetzt nur noch die Klapper-Kiste von Jonathan bei
uns auf der Straße steht.“ Sie machte eine Pause, und irgendwie bemerkte ich gedankenverloren:
„Ja, ich weiß. Du hast sie auf seinem Grundstück in der Garage abgestellt.“ Und
genau darüber regte sie sich auf. „Wieso sagst du ‚Ja, ich weiß’? Wo du überhaupt
nicht dabei warst, Erasmus Erster, genannt Jerominus, du kannst davon also nichts
wissen, denn du warst in der Rhön. Und trotzdem triffst du solche seltsamen Aussagen.“
Sie machte eine bedeutungsvolle, belehrende Pause, und ich stotterte entschuldigend:
„Na eben. Ich tu mal wieder so, als könne ich aus der Ferne in deine Wohnung,
in dein Leben sehen.“ Sie lachte schon wieder. „Zum Glück kannst du’s nicht.
Alles musst du ja nun auch nicht wissen, was ich so treibe oder erzähle. Oder dass
ich hin und wieder heimlich eine andere Identität annehme.“ Ich bekräftigte die Aussage. „Recht hast du.“ Und ich meinte
das sogar ehrlich. „Also, es war so: Ich bringe die Limousine dorthin, wo dein
Onkel sein Schlösschen hat, und ich rede noch kurz mit der Haushälterin, eine
ausgesprochen zahnbehaarte Tusse übrigens, und diese gibt mir einen Zettel, auf
dem der Name, die Adresse und die Telefonnummer von dieser Helene stehen. Sie
war zweimal dort gewesen, ohne Edward anzutreffen und der gestrengen
Hauswächterin das Versteck deines Onkels entlocken zu können. Daher hat sie den
Zettel dort gelassen. Mit der Bitte um Rückmeldung.“ Da ich nichts sagte,
fragte sie plötzlich: „Du weißt aber, wer das ist? Helene.“ Tatsächlich musste ich erst nachdenken. Hatte sie mit der
Raumfahrt zu tun? Mit dem Küstenort? Die Oma. Nein, die hieß Henriette. Helene? „Sie ist keine von deinen Tante-Musen aus der Kantemus-Klinik
in der Rhön. Oder hattest du das gehofft? Sie ist eine Bekanntschaft deines
Onkels Edward Erster aus der Schweiz. Die Dame mit dem kaputten Auto, die bei
einem Verlag gearbeitet hat. Edward hatte ihr anscheinend seine Adresse gegeben.
Und natürlich dein Manuskript. Zur Begutachtung. Ich dachte, das würde dich
interessieren. Es könnte ja sein, dass sie wegen dir Kontakt mit Edward
aufnehmen wollte. Oder will. Wegen deines ersten Buches. Vielleicht will sie
auch wegen Edward mit dir Kontakt aufnehmen. Dann solltest du das ausnutzen und
ihr dein Manuskript aufdrücken. In Richtung Veröffentlichung.“ Sie schwieg
einige Sekunden, um abzuwarten, wie ich reagierte. Aber ich sagte nur: „Ach ja.
Helene.“ Daher stichelte sie ein bisschen: „Du könntest sie anrufen.“ Ja, ich könnte. „Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das
will. In der jetzigen Situation. Verstehst du?“ „Nein.“ Es klang ungeduldig, unleidlich. Hart klang es. „Du
hattest ewig das Ziel einer Buchveröffentlichung. Dafür hast du auf so ziemlich
alle Annehmlichkeiten verzichtet, auf die man in der heutigen Zeit verzichten
kann. Außer auf mich. Und nun, wo sich ein konkreter Weg auftun könnte, kneifst
du plötzlich. Da ist für mich ein Knick in der Logik.“ Ich schüttelte den Kopf, was sie natürlich nicht sehen konnte.
„Ich kneife nicht. Ich bin mir nur nicht mehr sicher.“ „Naja“, erwiderte sie. Das klang nachdenklich, aber auch
verstehend. „Ich will dich natürlich nicht drängen. Es ist deine Entscheidung
und deine Verantwortung. Ein Buch zu veröffentlichen, ist schließlich mehr als
einmal einkaufen zu gehen oder ein gebrauchtes Fahrrad zu ersteigern. Mich würde
jetzt allerdings interessieren, ob du das Schreiben dann ganz aufgibst.“ „Nein. Weißt doch, dass ich über meine Reise schreibe. Dazu
drängt’s mich immer mehr. Richtig von innen heraus.“ „Soll das etwa ein Buch werden? Die Reisebeschreibung?“ „Nee, glaub ich nicht. Aber es hilft mir. Und dir sowieso. Ich
fühle es ganz stark.“ Sie kicherte leise. Es klang gut. „Wenn es mir sowieso hilft,
dann ist das OK. Dann mach’s. Hilfe kann ich immer brauchen. Vor allem, wenn
sie von den Leuten kommt, die ich diesbezüglich nicht auf dem Schirm habe.“ Im
Hintergrund redete jemand. Sie brach das Gespräch ab: „Bis später, mein Lieber.
Ich muss jetzt die Skalpelle schärfen und jede Menge Tupfer sterilisieren. Es
stehen noch zwei fette Not-OPs an.“ Sie kicherte abermals. „Ach ja: Und achte
schön drauf, dass deine Sachen nicht schmutzig werden. Weißt schon, es bleibt
dabei: Ich zieh heute noch mit dir um die Häuser.“
Fünf nach
neun meldete sie sich wieder. „He, ich bin total geschafft.“ Ich schwieg. Ich musste mich erst von meinem Text lösen. Ich hatte
in den letzten Stunden intensiv daran gearbeitet und war gut vorangekommen. Ich
steckte total tief drin. Ich dachte jedoch, es wird richtig sein, jetzt
aufzuhören oder eine Pause zu machen. Vor allem: sich zu verloben. „He, was ist? Warum sagst du nichts?“ „Ich war noch in meine Reisebeschreibung vertieft.“ „Du träumst von der Rhön, und ich maloche hier wie nur was.
Also, hör für heute mit deiner Reisebeschreibung auf und kümmere dich mal
lieber um mich. Wir treffen uns in einer Dreiviertelstunde im Hickory Top. Der
Tisch ist auf den Namen Erster bestellt. Das war meine Initiative. Das Menü
stellst du dann zusammen.“ Ich dachte, sie hätte das Gespräch damit beendet,
aber sie sagte noch: „Und lass dir mal schön ordentlich was einfallen, um mich
in Stimmung zu bringen.“ Ich versprach es, ich hatte einen guten Grund. Ich steckte
das Kästchen mit den Ringen ein, sortierte dreihundert Piepen in mein
Portemonnaie. Und ab ging’s.
Folge
51 vom 20. Mai 2020
Wir trafen
direkt vor dem Eingang des Hickory Top aufeinander. Der Zufall hatte uns zur
selben Zeit ankommen lassen. Sie hatte die neue Sonnenbrille auf das Haar
gesteckt; trotz der Dunkelheit. Sie lachte und umarmte mich. Ihre Hände rochen
ein wenig nach Desinfektionsmittel, aber ihre Wange war so glatt und
anschmiegsam, auf dass ich sie am liebsten lange festgehalten hätte. Tineke.
„Denk dran“, sagte sie, „der Herr betritt das Restaurant vor der Dame, damit
sie vor aufdringlichen Blicken geschützt ist.“ Ich bedachte
es. Ich ging voraus, ließ mir den Tisch zuweisen und saß ihr gegenüber. In den
Gläsern der Sonnenbrille spiegelte sich das Licht der gedämpft leuchtende Wandlüster.
Ich assoziierte flüchtig das Funkeln von ganz, ganz fernen Himmelskörpern. Ich
lächelte, sie bemerkte es. Sie nahm die Sonnenbrille, die sie eben noch auf ihr
Haar gesteckt hatte, herunter. Sie drehte sie hin und her und steckte sie
sorgfältig in ein Futteral. Sie sagte: „Das wäre denn auch der einzige Grund,
dich irgendwann noch mal in die Rhön zu schicken.“ „Was?“, fragte
ich dümmlich. „Diese wunderbare
Brille, mein lieber Jerominus, was denn sonst? Deine Kante-Muss-Tussen doch
wohl nicht?“ Ich ging nicht
auf die Bemerkung ein, wiewohl ich von der Sonnenbrille ebenso fasziniert war. Von
deren Fähigkeiten. Ein Rätsel und ein Wunder, was für eines. „Wäre es nicht
möglich, mir jeden Tag so was Tolles zu schenken? Heute zum Beispiel? Na gut,
nicht jeden Tag. Einmal in der Woche reicht. Dieses eine Mal die Woche müsste
demnach gerade heute sein.“ Sie sah verschmitzt aus. Ich fasste mit
der Hand an meine Hemdtasche. Dort steckte jetzt das Kästchen mit den Ringen.
Ich zögerte jedoch. Es war noch zu früh. Es war nicht feierlich genug. Noch
nicht. Ich redete mich heraus. „Von meiner nächsten Rhön-Tour bringe ich dir
wieder was mit. Für heute habe ich eine andere Überraschung. Nichts in der Art
einer Sonnenbrille. Oder doch. Es hat auch Rundungen.“ „Oh!“ Ihr Blick
folgte meiner Hand. Die Augen leuchteten. Der Kellner
kam, wir bestellten Wein, wir tranken, wir bestellten Essen, wobei sie sagte: „Für
mich nur vegetarisch, nachdem im Krankenhaus dauernd Blut geflossen ist.“
Wir lachten
immerzu. Ihre Erschöpfung legte sich zusehends. Sie sagte: „Seit ich mit dir
zusammen bin, geht’s mir wieder echt gut.“ „Ja“, erwiderte
ich, „mir auch.“ Wir lachten
lauter. Einige Leute drehten sich um. An anderen Tischen wurde mitgelacht. Wir
prosteten uns und anderen zu. Ich beugte mich zu ihr über den Tisch, wir
küssten uns. Es war schön, romantisch war es, jung war es. Herrlich. „Und die Überraschung,
die mit den Rundungen, wann verrätst du sie?“, fragte sie unvermittelt. Ich zögerte
wieder. Ich kündigte an: „Ich habe mir vorgenommen, sie um Mitternacht
herauszulassen. Ist das OK?“ Sie sah auf die
Uhr. Es war halb elf. „Kann ich nicht die Zeiger vorstellen? Anderthalb
Stunden. Ich stelle sie auch zur wirklichen Mitternacht zurück.“ „Das ist bestenfalls
zulässig, wenn es die Uhren-Zentrale in Hantschuloko noch vor elf Uhr erfährt.
Dann bringen sie es in den chinesischen Nachrichten, so dass mindestens fünfzig
Prozent der Menschheit die Chance haben, ihre Uhr ebenfalls vorzustellen und ebenfalls
eine Überraschung zu erleben.“ „Meinst du das
Hantschuloko in China oder das in Schwaben?“ „Ich meine das
Hantschuloko in China. Natürlich. Das schwäbische Hantschuloko hat einen
Bindestrich in der Mitte. Es spricht sich auch leicht anders aus. Sie sprechen
in Schwaben das T als D und das U stark verlängert: Hannndschuuh-Loko. Ist
aber völlig bedeutungslos, denn dort ist um diese Zeit schon strenge Nachtruhe.
Die Leute sind abends furchtbar müde. Sie haben den ganzen Tag über gerackert.“ „Aber in China schlafen
sie nicht, weil sie schon wieder wach sind. Man kann solche Überraschungen also
jetzt noch bekommen? Solche, wie ich sie bereitet kriege.“ „In China
selbst schon mal gar nicht. Für Chinesen sind solche Überraschungen nicht
erschwinglich. Und der Brauch, der sich damit verbindet, ist dort
bedeutungslos. Es ist eher europäisch, sehr zwischenmenschlich.“ „Für junge
Leute, nicht wahr? Für Paare. Wegen der Rundungen.“ Ich nickte. Ich
wusste, dass sie der Lösung nahe war. Wohl von Anfang an. Sie sah mich
konzentriert an. Schon sagte sie es: „Ist der Brauch nicht sowieso die Vorstufe
zu einem anderen wichtigen Schritt? Insbesondere für Paare.“ „Jeder Brauch
ist die Vorstufe für einen Schritt. Egal, ob für Paare oder Fußballmannschaften
oder den gemischten Doppelvierer mit Steuerfrau im Rudern.“ „Glaub ich
nicht, dass sich Fußballer das schenken, woran ich denke. Obwohl ja Bälle auch
rund sind.“ Sie kicherte, es zog eine merkliche Aufregung in ihr Wesen. „Und
diese Ruderinnen und Ruderer, dass die sich damit beglücken, also, nein. Kann
ich mir nicht vorstellen. Da bliebe dann sowieso die Steuerfrau ausgegrenzt.
Als Fünfte.“ Ich nickte
wieder, ich gab mich mürrisch. Es würde gleich keine Überraschung mehr sein. Sie sah mich
an, sie besann sich, sie redete klug, tröstend. „Ich werde nicht weiter fragen.
Nicht vor Mitternacht. Und das mit Hantschuloko lasse ich ebenfalls bleiben. Ich
will die Uhr gar nicht vorstellen. Die ganze Welt käme durcheinander. Vor allem
China. Aber ich werde mich freuen, wenn es so weit ist. Ich freue mich jetzt
schon. Wahnsinnig.“ Ihre Augen funkelten voller Leben. Sie schwärmte: „Und ich
bin ganz stolz auf dich. Du kennst so viele Orte auf dieser Welt. In der Rhön,
in China. Und überall kennen sie dich. In den kühlen Kliniken, in den fernen Uhrenzentralen.
Gibt’s eigentlich einen Zusammenhang zwischen beiden?“ „Meines Wissens
gibt es in China auch eine Rhön. “ „Ah!“, sie jauchzte
überrascht auf, und so ziemlich alle Leute im Hickory Top drehten sich zu uns
um. „Das genau ist die Lösung. In China gibt es einen Landstrich, der heißt Rhi-He-Oin,
was dort als Rhön ausgesprochen wird. Und genau in diesem Landstrich liegt Hantschuloko.
Die Uhrenzentrale.“ Sie sah mich
beglückt an. Wir schwiegen, wir stießen an. Wir tranken. „Hast du eigentlich
schon einen Doktor-Titel?“, fragte ich in die Pause hinein.
Prompt fragte
sie zurück: „Würdest du mich lieber mit
oder lieber ohne heiraten. Falls du
mich eines Tages tatsächlich heiraten willst.“ „Natürlich mit. Ich könnte den Titel dann ja auch
führen. Zumindest würde er auf unserem gemeinsamen Türschild stehen.“ Ich gab
mich ernst. „Aber es ist müßig, darüber zu diskutieren. Heiraten. Wir sind ja
nicht mal verlobt.“ Sie nickte und
stellte sich traurig. „Wer weiß, ob wir das jemals sein werden.“ Ich konnte das
Lachen nicht unterdrücken. Ich wusste es sehr genau: „Jedenfalls nicht mehr
heute. Den Anruf in Hantschuloko hast du jetzt jedenfalls verpasst.“
Folge
52 vom 21. Mai 2020
An Mitternacht verlobten wir uns. Ich
legte das Kästchen mit den Ringen pünktlich auf den Tisch. Sie hatte nun nicht
mehr danach gefragt. Absichtlich nicht. Wir gossen Sekt
ein und stießen an, nachdem wir uns die Ringe gegenseitig aufgesteckt hatten. Es
war schön und feierlich. Sie sah wunderbar glücklich aus. Obwohl sie es vorausgesehen,
gewusst hatte. Tatsächlich sagte sie: „Fortan kannst du in meiner Wohnung
übernachten, ohne dass öffentliche Stellen etwas dagegen haben können. Mit dem
Türschild werden wir allerdings noch warten. Dafür bräuchten wir eine
Ausnahmegenehmigung: Erasmus und Tineke, Erster und Tollwin. So wie ich gehört
habe, gibt’s die Ausnahmegenehmigungen nur in der Uhren-Zentrale. In
Hantschuloko. Sie haben dort auch eine Türschild-Zentrale.“ „Ich könnte
hinfahren und sie vor Ort ausfertigen und beglaubigen lassen. Die Mitarbeiter sind
dort bestechlich.“ „Schon gut. Wir
wollen uns, nachdem wir nun verlobt sind, nicht auf neue Weise strafbar machen.
Und uns auch nicht gleich wieder trennen.“ Wir saßen bereits im letzten Autobus.
Oder war es der erste? Sie zog mich am Ohr. „Ich weiß inzwischen, dass es diese
Kantemus-Klinik tatsächlich gibt. Sie liegt auf einem Klosterberg in der Rhön. Unserer
Rhön, nicht der chinesischen. Dort werden Wunderheilungen vollbracht. Ein
Kellner aus dem Hickory Top hat es mir verraten. Er ist dort gewesen und hat
sich von einer schweren Krankheit heilen lassen. Er war gelähmt, und man musste
ihn mit einem Handwagen hinaufziehen. Klinik-Mitarbeiter in Mönchskutten hätten
das getan. Sie hätten solche Sonnenbrillen getragen, wie ich sie habe. Und
weißt du, was er noch gesagt hat? Er hat gesagt, die Mönche waren gar keine Mönche,
sondern Nonnen.“ Ich lächelte
still. „Rrr.“ Sie
kniff mich in den Arm. Sie lächelte ebenfalls. Sie sagte: „Zum Glück bist du ja
nicht mit einer Mönchskutte heimgekehrt, sondern mit diesem Prachtstück. Einem
mintfarbenen Zweiteiler.“ Sie lehnte den Kopf an meine Schulter und schloss die
Augen. Dann landete
der Bus an unserer Haltestelle, wir kehrten heim. Wir hielten unsere Finger mit
den Verlobungsringen hoch, als wir durch die Haustür gingen, und Tineke
schaltete im Flur das Licht ein. Sie rief vorsichtig: „Ab heute geht es
ziemlich legal zu zwischen mir und Doktor Jerominus. Wer es nicht glaubt, der
möge die Verlobungsring-Zentrale in Hantschuloko anrufen. Aber nicht mit dem
Hantschuloko in Schwaben verwechseln. Das spricht sich Hanndschuh-Loko aus. Und
dort herrscht auch sehr oft Nachtruhe, weil die Leute so fürchterlich rackern.“
In der obersten Etage wurde eine Tür geöffnet. Ein verschlafenes Gesicht
tauchte über dem Treppenauge auf. „Oje, nicht doch“, flüsterte Tineke. Sie öffnete
rasch die Wohnungstür und zog mich hinter sich her. Hinein in den Flur.
Wir hatten nur ein paar Stunden
geschlafen, als dieses fürchterliche Geräusch durch die Wohnung schepperte.
Oder nannte man es Klingeln? Das Telefon. Warum hatten
wir es nicht in den Kühlschrank gestopft? Ich. Oder einen sanfteren Ton
eingestellt. Meisengezwitscher. Tineke war mit
einem Satz aus dem Bett. Ich fühlte ein Dröhnen in meinem Kopf, und zugleich
fühlte ich die Leere, die Tineke neben mir hinterließ. Allein im Bett. Erasmus,
genannt Doktor Jerominus, der falsche Arzt im mintfarbenen Zweiteiler. Sie redete.
Ihre Stimme war gedämpft und unaufgeregt. Ich verstand nur den letzten Satz,
den sie sagte: „Ist doch selbstverständlich, ich komme. In knapp einer Stunde
bin ich da.“ Ich hörte die
elektrische Zahnbürste eindringlich brummen und das Duschwasser rauschen.
Danach war Tineke an meinem Bett. Sie flüsterte aufgeregt: „Ich muss umgehend in
die Klinik. In der Chirurgischen sind zwei Ärzte ausgefallen. Der Chefarzt hat
ausdrücklich drauf bestanden, dass ich! geholt werde. Nun geht’s für mich
prompt in die Vollen, was heißt, ich werde mehrere Stunden am OP-Tisch stehen. Hauptverantwortlich.
Juchhu. Eine super Chance.“ Sie hielt mir die Hand mit dem beringten Finger vor
die Augen. „Guck mal, mein Lieber! Frisch verlobt, ich bin ganz glücklich.“ Ich
deutete ein Nicken an und schloss die Augen wieder. Ich fühlte eine
maßlose Erschöpfung. Kopf- und sonstige Schmerzen. Von der letzten Nacht, vom
Alkohol, von allem. Vor allem von meiner Tour in den interstellaren Raum. Ich war doch
dort gewesen? Oder war ich tatsächlich in Hantschuloko? Vielleicht in jenem mit
den zwei N? Oder in dieser Kantemus-Klinik bei den Mönchsnonnen. Im Rhön-Kloster.
Hatten sie mich mit einer Rakete den Berg hoch geschafft oder war ich im
Handwagen gezogen worden? „Wenn ich weg
bin, hast du Zeit, an deinem Text zu arbeiten“, sagte Tineke. „Das wolltest du
doch sowieso.“ Sie streichelte meinen Kopf. „Aber nicht, dass du mir wieder
stiften gehst. In die Rhön oder ins Kloster nach China. Oder zu guter Letzt
noch ins Weltall. Eine zweite Sonnenbrille brauche ich nämlich nicht.“ Ich versuchte
die Augen wieder zu öffnen. Weltall, Sonnenbrille? Hatte ich in der letzten Nacht
etwas von der Reise verraten? Ernesto, Tonya, Lurtz. Nein, ich hatte es nicht.
Ich kriegte die Lider dennoch nicht hoch. Ich konnte nicht fragen, wie sie das
meinte: Weltall. Und Tineke
hatte die Wohnung ja auch schon verlassen. Ich hörte kurze Zeit später durch
das offene Fenster, wie von der Straße her die Melodie gepfiffen wurde. Unser Lied.
Red, white and blue. Tineke.
Der Tag lag wie ein dumpfgrauer
Schleier über mir. Nein, umgekehrt. Ich lag den Tag über wie unter einem dumpfgrauen
Schleier. Er drohte mich zu erdrücken. Der Schleier, der Tag. Ich mich selbst. Ich
konnte nicht mehr einschlafen, brachte es aber auch nicht fertig aufzustehen.
Nur mal kurz zur Toilette und durch das Fenster geschaut. Wolken, leichte
Schauer, Wind, der irgendwelche Papierfetzen und frühgelben Blätter vor sich
hertrieb. Trübheit. Mir war, als würde ich auf etwas warten. Auf was? Tineke meldete
sich erst am sehr späten Nachmittag. „Bin total platt.“
Folge
53 vom 22. Mai 2020
Ich murmelte ein paar Worte, die ich selbst nicht verstand. Sie entschuldigte sich. „Ich störe dich, oder? Du hast grad
’nen guten Lauf beim Schreiben und darfst nicht abgelenkt werden, oder?“ Sie
stöhnte. „Mann, diese OPs heute, die haben’s voll in sich. Zwei echt
komplizierte Trümmerbrüche. Hier verbinden sich handwerkliche Fertigkeiten mit
künstlerischem Geschick. Du, das haben wir sauber hingekriegt. Ich. Der Patient
wird demnächst besser laufen können als vor seinem Unfall.“ Ich setzte mich auf. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen.
Tineke rackerte aus Leibeskräften, den zweiten Tag an diesem Wochenende, und
ich lungerte hier herum. In ihrer Wohnung auch noch. Wie ein Assi. Nein, Assi
war ein affiges Wort, man benutzte es besser nicht. Es gab keine Assis. „Tust mir leid“, sagte ich. „Ich muss dir nicht leid tun“, widersprach sie vehement. „Ich
hab mir diesen Job schließlich selbst ausgesucht. Ich will ja was leisten. Unbedingt.
Egal, wenn ich an meine Leistungsgrenzen stoßen sollte. Es ist schließlich mein
Ziel, eine gute Ärztin zu sein, und meinen Facharzt zu schaffen. Und ich bin
echt froh, dass ich überhaupt hier arbeiten darf. So interstationär. Und dann
noch zwei von den großartigen Ärzten aus dieser Station ausgefallen, womit kein
Mensch gerechnet hat und wodurch prompt ich zum Zuge komme. Als vollwertige
Kraft. Du, ich muss ja wirklich dankbar sein. Dabei weiß ich noch nicht mal,
wem.“ In mich kam jetzt wieder Leben. Ich hätte ihr die Antwort
geben können: mir; und Tonya und Lurtz und meinem Vater und … Natürlich sagte
ich es nicht. Ich fragte stattdessen: „Was ist denn mit den beiden festen
Ärzten, sind sie tot?“ Sie kicherte trotz aller Erschöpfung. „Schwarzmaler. Es
heißt, der eine hatte im Urlaub an der Atlantikküste ’nen Badeunfall, muss in
irgendwas Giftiges oder Giftendes getreten sein und ist dann von den Wellen
tüchtig gebeutelt worden. Mehrere Knochenbrüche, mehrere Gips- und Wickelverbände.
Vor allem auch noch eine nicht indizierbare Schädelfraktur. Bettruhe total für
diesen Kollegen. Der kommt jedenfalls so schnell nicht zurück. Der andere hat’s
besser getroffen. Er hat überraschend ein Angebot als Schiffsarzt gekriegt. Auf
’nem richtigen Traumschiff. Mit ’ner schneeweißen Uniform und blaugelben
Schulterstücken, ganz schnieke. Er ist von einem Tag auf den andern hier abgehauen.
Es heißt, er sei schon auf See. Schon bei den Kanaren.“ Ich lächelte. Nun doch. Der Schleier über diesem Tag, über
mir, lichtete sich. „Was ist?“, fragte sie. „Ja, ich weiß, dass es unglaublich
klingt. Fast wie ein Märchen. Aber es ist wahr.“ „Ich glaub dir, dass es wahr ist“, versicherte ich. Ich stand
auf, lief mit dem Telefon ein bisschen umher. „Und man soll sowieso nicht
immerzu fragen, warum dieses und jenes passiert. Wenn einem das Schicksal gute
Karten in die Hand drückt, dann soll man sie möglichst nicht zurückgeben.“ „Danke, Erasmus“, hauchte sie. Es klang sanft und froh. Und
zuversichtlich.
Tineke rackerte
weiter mit einem riesigen Arbeitspensum. Tag für Tag. Wenn sie abends kam, war
es fast zehn, und morgens zog sie in der erbärmlichsten Frühe wieder los. Sie
wirkte trotzdem locker und aufgeweckt und zeigte keinerlei
Ermüdungserscheinungen. „Es macht tierisch Spaß“, betonte sie in den wenigen
Minuten, die wir abends gemeinsam hatten. Und: „Ich bin gut drauf, ich
entwickle mich immer besser. Vor allem bekomme ich immer mehr Selbständigkeit
und mehr Freiraum. Du glaubst nicht, wie dankbar ich dem Professor bin. Meinem wunderbaren
Kurz-Franzl.“ Ich hingegen erlebte zähe Tage. Tagschichten, die sich weiterhin
wie dumpfe Schichten, nicht mehr nur wie Schleier, auf mir stapelten. Die
Lockerheit, mit der sich Tineke die neue Welt erschloss, fehlte mir oft genug.
Ich saß und schrieb quälend langsam. Starrte immer wieder durch die Fensterscheiben
auf die Straße, zum Himmel, starrte dann den Bildschirm an. Und schrieb wenig.
Wenig Gutes. War es so etwas wie ein Kosmos-Kater? Die Nachwirkung des
Raumfluges. Auf jeden Fall: Mir fehlte jemand. Mir fehlte etwas. Tineke?
Tonya? Das All, die intergalaktische Perspektive. Oder einfach das Leben, das
für mich nur diesen Namen trug: Tineke. Also eine Art Phantom-Depression.
An einem der
nächsten Tage, raffte ich mich morgens zeitig genug auf, um mit meiner
Verlobten zu frühstücken, in Wirklichkeit jedoch, um mit ihr reden zu können.
Doch den Hauptteil der Unterhaltung bestritt sie. Dieser Hauptteil hieß Arbeit.
„Gestern mussten wir so einen riesigen schwarzen Fleck entfernen. Ich. Ein malignes Melanom. Hautkrebs.“ Sie
deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Fläche mit dem Durchmesser von mindestens
drei Zentimetern an. „Hier vorn am Backenknochen, schon gefährlich dicht am
Auge. Und nur bei örtlicher Betäubung.“ Sie sah mich eindringlich an, und
obwohl mir flau wurde, nickte ich pseudo-interessiert und bewundernd, wobei die
Bewunderung echt war. „Mein Chefarzt hat mir die Umrisse für den Schnitt auf der
Haut aufgezeichnet, und dann musste ich loslegen. Es war nicht mal für einen
erfahrenen Chirurgen eine leichte OP. Weil keiner wusste, wie weit sich die
Tumorzellen ausgebreitet hatten.“ Sie sah so besorgt aus, als sei ein sehr
naher Verwandter betroffen. „Wir müssen jetzt erst abwarten, zu welchen
Ergebnissen das Labor bei den Gewebeproben kommt. Dann erst können wir die
Wunde schließen. Die Patientin hat ziemlich gestöhnt. Und ich mit. Der Befund
ist frühestens in drei Tagen da. Dieses Warten, ich sag dir, das nervt.“ Ich stöhnte ebenfalls, nach innen. Ich legte meinen Toast auf
den Teller zurück.
Folge
54 vom 23. Mai 2020
„Du bist neuerdings so still“, sagte sie. „Kommst du mit deiner
Story nicht voran?“ Sie biss in ihr Brot, kaute flink, trank Kaffee. „Du,
Erasmus, also wenn es dir zu viel Mühe macht, diese Story zu schreiben, dann
lass es doch. Vor allem, wenn du meinst, du musst das wegen mir schreiben. Ich
stecke jetzt so tief in meiner Arbeit, dass deine Vier-Wochen-Reise für mich
kein Thema mehr ist. Da bin ich von ab.“ Sie war davon ab. Ich schaute traurig. Sie nahm es nicht wahr. Sie stand
schon auf, biss eben noch mal in ihren Toast. „Ich würde auch meinen, du
solltest dich besser mit deinem sizilianischen Buch befassen. Das war fertig, das
fanden fast alle gut, das könntest du anbieten. Dann hättest du einen
sichtbaren Abschnitt hinter dir. Hättest etwas Fertiges vorzuweisen. Ich leg
dir mal den Zettel mit Helenes Adresse raus.“ Sie wartete nicht auf meine Antwort,
meine Reaktion. Sie drehte mir schon den Rücken zu. „Ich putze eben noch Zähne,
dann bin ich auch schon verschwunden. Es geht heute in aller Frühe mit einer
Koloskopie los. Eine Darmspiegelung. Mit hohem Befund. Die Sonde wird bis zum
Dünndarm hinauf geführt. Das ziehe ich im Alleingang durch. Schon, weil der
Kollege Chefarzt gelegentlich gern ein bisschen länger schläft. Du, ich freu
mich richtig drauf. Aber eben, ich muss pünktlich sein, die Patientin durfte
seit gestern nichts essen, nur eine trübe Flüssigkeit trinken. Drei Liter. Brr.“
Sie drehte sich wieder zu mir um, sie lächelte. „Bist du wenigstens stolz auf
mich?“ Ich nickte, ich lächelte ebenfalls. Ich sah freundlich
aus. Ich war besorgt. Irgendwie. Stolz war ich auch, natürlich.
Als
sie fort war, kroch ich wieder ins Bett. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Obwohl
ich stolz auf Tineke war, war ich auch enttäuscht. Sie schwamm in einem Meer
der beruflichen Erfüllung, und mich hatte sie an Land zurückgelassen. Mit einem
Manuskript, das ich wegen ihr angefangen hatte. Es war ihr gleichgültig
geworden. Ich auch? Ich döste und grübelte. Und nachdem ich aufgestanden war
und am Notebook saß, um weiter zu schreiben, kriegte ich keine Zeile zustande.
Das heißt, ich wusste im Grunde sehr genau, wie ich meinen Text hätte
fortsetzen sollen. Selbst die Worte und Sätze lauerten in meinem Hirn. Ich
hätte sie abrufen und niederschreiben können. Lohnte sich das denn noch? Wenn es Tineke nicht interessierte. Darmspiegelungen und
schwarze Flecken hatten Vorrang. Melanome, Koloskopien. Wie deprimierend.
Ich stand auf, zog mir eine Jacke an und schlenderte
durch die Straßen. Es nieselte, es war kühl. Das passte zu meiner Stimmung. Ich
schaute ewig auf den Boden und ging ohne Ziel durch die Häuserschluchten. Jetzt
hasste ich die Großstadt wieder. Nein, es war kein Hass, nur Unwohlsein, Missfallen.
Fremdheit. Diese Anonymität, zugleich die vielen Menschen. Nach einer halben Stunde landete ich vor dem Bahnhof. Es
hatte so kommen müssen. Ich stand eine Weile vor dem Eingang. Ich schaute auf
die riesigen Reklameflächen oberhalb des Eingangs, die verlockende Fernreisen
und wunderbarste Kosmetikartikel anpriesen. Unter einer bunt abgebildeten
Hautcremedose wurde versprochen: Schönheit
wie für tausend Jahre. Was wisst ihr schon, was tausend Jahre sind, wo man
tausend Jahre und viel mehr lebt, ohne eure lächerliche Creme, dachte ich. Ich
lächelte mitleidig und wünschte mir, die Situation jenes denkwürdigen Tages
möge sich wiederholen. Alle Züge stehen still. Würde sie sich wiederholen? Ich lauschte, ob denn die Geräusche abfahrender Bahnen zu
hören waren und ob nicht womöglich jene bedeutungsvolle Ansage erneut erklang: „Achtung!,
kompletter Zugausfall, Schienenersatzverkehr wird vorbereitet … Bitte haben Sie
gegebenenfalls etwas Geduld!“ Nein, nichts. Die Züge fuhren, sie wurden wie üblich angesagt. Ich ging gelangweilt von der vorderen Halle durch die
Haupt- und danach durch mehrere Seitenpassagen dieses riesigen Bahnhofs. Ich
lauerte. Herrschte da nicht irgendwie ein bisschen eine eigentlich starke
Unruhe? Waren da nicht gewaltig sich hinwälzende Menschenströme in der Entstehung?
Und stieß mich nicht erwartet unerwartet ein blinder Mann an und sagte etwas zu
mir? „Wir hängen hier total fest.“ Nein. Das Leben verlief in seinen gefügten Bahnen. Kein
Chaos, keine Katastrophenstimmung. Ein ganz normales Leben an einem ganz
normalen Tag. In dieser Hauptstadt. Auch wenn ich einen Passanten im
Vorbeigehen schimpfen hörte: „Das wär’s noch, wieder so ’nen beschissenen Tag
wie vor gut vier Wochen: Kein Zug fährt, kein Taxi zu kriegen; und dann das
Vorstellungsgespräch, auf das du seit drei Monaten gelauert hast. Du kannst
nicht hinfahren, kriegst nicht mal eine Verbindung übers Handy. Peng, aus und geplatzt.
Und du kannst nichts dafür.“ Bei anderen läuft’s demnach auch nicht ständig rund,
dachte ich. Kleiner Trost. Ich verließ den Bahnhof. Ich trank in einer Seitenstraße
in einer Konditorei am Stehtisch einen heißen Kaffee und kaufte später einem Gauch
die Obdachlosenzeitung ab. Eine Mitleidaktion. Oder Gewohnheit. Ich dachte an
die vielen Monate, die ich in der Hinterhofhöhle zugebracht hatte. Der Eremit,
der Asket. Der Sizilianer. „Möchtest du da wieder hin?“, hörte ich mich fragen.
Ich schüttelte den Kopf und antwortete mir selbst: „Nöh.“ Eine Frau, die mit
ihrem Hund vor einem Baum stand, blickte mich interessiert an. „Nöh, du bist
jetzt mit der schönsten Frau von Berlin zusammen“, sagte ich absichtlich laut
und machte mich davon. „Nicht nur von Berlin, von Europa.“ Ich schlenderte zurück in die Wohnung. Ich schaltete das
Notebook ein. Ich überlegte, ob ich von dem Stick, den ich in einem Schränkchen
verwahrte, die Datei mit der sizilianischen Story auf die Festplatte ziehen
sollte. Noch mal lesen, kleine Korrekturen, Format einrichten. Und ausdrucken. Tinekes
Empfehlung. Fast fertig. Oder sogar ganz?
Folge
55 vom 24. Mai 2020
Es war eine Verlockung. Ich hätte mich mit Helene in Verbindung
setzen und es abschließen können. Der vierstellige Betrag im niederen Bereich. Dr.
Edward Erster, reicher Onkel. Mein erstes Buch. Nein. Ich hatte mir die Niederschrift meiner Erlebnisse
in dem Raumkreuzer in den Kopf gesetzt. Es hatte für Tineke sein sollen. Für Edward.
Genauso für mich. Ich hatte eine Idee. Diese Story, sollte sie jemals
veröffentlicht werden, würde mit einer Widmung beginnen. Für T. und für E. sollte vor dem Text stehen. Viel sagend und viel
deutbar. Allerdings: im Moment eher unwichtig. Ich öffnete die Textdatei, die ich auf dem Notebook angelegt
hatte. Sie hieß Tonya genau wie der Datei-Ordner und trug ebenso die Endnummer
001. 001 bedeutete aktuellste Fassung. Ich suchte die Stelle, an der ich
aufgehört hatte zu schreiben. Es hatte mit der Aufnahme in der Basisstation zu
tun gehabt. Die Beschreibung der Wandsegmente, des Kleiderwechsels. Die
Gespräche, mein Staunen. Ich ergänzte, korrigierte und schrieb weiter. Ich
schrieb unkonzentriert, holprig. Ich dachte nebenher an Obdachlosenblätter und
an eine Koloskopie am frühen Morgen. Hoher Befund. Und an ein malignes Melanom, das weiträumig entfernt worden
war. Bitte nicht bei mir, dachte ich. Drei Tage dauerte es, bis die Ergebnisse aus dem Labor eingetroffen
sein würden. Und ich dachte an Bahnhöfe. Ich blätterte die Datei
zurück. Ich las, was ich über das Blockade-Chaos geschrieben hatte. Ich
verglich es mit den Eindrücken des heutigen Morgens und fühlte mich plötzlich
in die Situation jenes Morgens versetzt. Als der Stillstand und das Chaos
herrschten und mich ein blinder Mann namens Lurtz ansprach. Ich sah auf einmal
eine mich geradezu erdrückende Schreiblaune heraufziehen. Ergänzungen,
Einschübe, ganze Textpassagen. Es lief gut, auf einmal doch.
Tineke
rief am Mittag an. Ihre Stimmung klang euphorisch. „Du glaubst nicht, was heute
los ist. Was wir zu tun haben. Ich. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie gut
mir alles gelingt.“ Doch, doch, ich konnte es mir vorstellen. „Ich hab kaum Zeit, mal eine Pause zu machen.“ Sie atmete
tief durch. „Aber deswegen rufe ich nicht an. Mir ist eingefallen, dass du ja gar
nichts zu essen hast. Nimm dir also zwanzig oder fünfzig Euro aus meiner
Geheimlade und hol dir was Schönes. Oder setz dich irgendwo rein. Bestell dir
was Schnuckeliges. Ich komme auf so viele bezahlte Überstunden, dass das
wirklich drin sitzt.“ Sie machte eine Pause. Dann sagte sie leise: „Ich muss
dir noch was sagen, Erasmus. Du, heute Morgen, das war falsch, was ich da von
mir gegeben habe. Die Story über deine Reise. Nach Kantemus. Oder nach
Hantschuloko. Ich bin nach wie vor daran interessiert. Sehr sogar. Ich war nur
wegen der Arbeit völlig anders programmiert. Ich glaube, ich muss mich für
diese Äußerung entschuldigen. Wo ich dich überhaupt erst animiert habe, darüber
zu schreiben.“ Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, ich schwieg. Daher
fragte sie besorgt: „Bist du sauer? Du, es tut mir leid, in echt.“ Sie schwieg
ebenfalls, und es wirkte verunsichert. Dann bat sie: „Komm, sag doch was!“ Ich antwortete. Ich verneinte. Nein, sauer war ich
bestimmt nicht. Jetzt nicht mehr. Ich war froh und dankbar. Ich brauchte sie,
ihren Zuspruch, ihre Unterstützung. Ich wartete einige Sekunden, dann schloss
ich das Gespräch, indem ich zu ihr sagte: „Ich bin froh, dass es dich gibt,
Tineke. Ich brauche dich. Sehr.“ „Ich dich auch“, sagte sie leise und machte die Leitung
zu.
Abends
fuhr ich mit der Bahn zu ihrer Klinik und holte sie ab. Wir liefen gemeinsam
zur U-Bahn-Station. Sie sah müde aus. Nun doch. Sie gähnte. Sie sagte: „Morgen
fange ich später an. Um halb elf. Wir schlafen aus. Freust du dich?“ Nein, nicht so richtig. Mich bewegte eine andere Frage:
„Und das Wochenende, das mal wieder naht? Was ist mit der Tour zu deiner Oma,
zu Edward und Jonathan? Alle warten.“ Sie wischte sich verlegen über das Gesicht. „Ich weiß, es
war versprochen. Aber es geht nicht. Ich habe fest zugesagt, Dienst zu machen.
Bis zum Sonntagabend.“ Sie seufzte. „Ja, es ist gemein. Und egoistisch. Vielleicht
warten sie, vielleicht bilden wir uns das auch nur ein und sie machen was
Eigenes. Natürlich, Jonathan hat mit meiner Großmutter jede Menge zu tun. Aber
ob sich dein Onkel langweilt, das weiß man nicht. Er wäre sonst schon lange
hier, in Berlin. Ich traue ihm zu, dass er irgendwas angefangen hat.“ Ich staunte. „Hat er denn was angedeutet?“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist eine Vermutung.“ Sie zögerte.
„Allerdings müsste dieses und jenes im Haus und im Garten gemacht werden.“ Ich winkte ab. „Das Haus bleibt auch stehen, wenn du
nicht da bist.“ Ich dachte an Tonya und Ernesto. Ich lächelte und sagte sogar:
„Es steht alles unter einem guten Stern. Einem sehr guten, wenn du mich fragst.
Und du ganz besonders.“ Sie umarmte mich lange. „Vielleicht bist du dieser gute
Stern.“ Nein, ich war es nicht. Davon war ich überzeugt. „Wir fahren, sobald du frei kriegst. Und wir machen es
auf andere Weise wieder gut“, versprach ich. Ich dachte an die Widmung, die ich
der Geschichte voranstellen wollte. Für
T. und für E. Warum nicht auch noch und
für J.; naja und für H. Das H.
stand für Henriette. Und nicht auch noch ein L.? Schließlich spielte Lurtz eine
nicht minder wichtige Rolle.
Folge
56 vom 25 Mai 2020
Im Zug rückte Tineke dicht an mich heran und fasste nach
meiner Hand. Ihr Kopf lehnte an meiner Schulter. Die Atemzüge gingen
gleichmäßig, ihr Körper folgte den schlingernden Bewegungen der Bahn. Sie war
sofort eingeschlafen, und ich zögerte, sie nach zwanzig Minuten Fahrt an
unserer Station zu wecken. Nein, sie erwachte schon. Sie gähnte wieder. Sie
sagte mit trockener Stimme. „Neuerdings schlafe ich in der Bahn. Manchmal
richtig fest. Aber ich habe noch nie das Aussteigen verpasst. Ich habe den
Streckenverlauf quasi im Gehirn abgespeichert. Station für Station. Mein
innerer Wecker meldet sich, wenn ich aussteigen muss.“ Als wir die Wohnung erreicht hatten, siegte ihre
Müdigkeit endgültig. „Ich leg mich kurz hin, dann dusch ich und danach essen
wir ganz gemütlich und unterhalten uns.“ Sie lag auf dem Bett. Und sie schlief
prompt ein. Ich zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. Nicht mal das Telefon
konnte sie mit der Klingelmelodie wecken. Edward Erster. Seine Handy-Nummer
erschien auf dem Display. Dr. EE. Ich nahm das Gespräch nicht an. Ich mochte
nicht mit meinem Onkel sprechen. Nicht jetzt. Ich mutmaßte Vorwürfe, Klagen,
Ärgerlichkeit. Jedoch konnte ich nicht vermeiden, dass ich seine Ansage für den
Anrufaufzeichner mithörte. „Erasmus, mein Junge. Wie weit bist du mit deiner
Geschichte? Du weißt schon, der Bericht über das Treffen mit … ihm.“ Sonst war nichts.
Nicht die eigentlich unvermeidbare Frage, ob und wann wir mal wieder kommen
würden, oder der Vorwurf, wir würden ihn, den Weltmann, mit Jonathan und
Henriette in der regnerischen Provinz versauern lassen. Ein gutes Zeichen? Ich rief gleich am nächsten Morgen zurück. Tineke schlief
noch, sie sollte vom Gespräch nichts mitbekommen. Und ich hoffte, er würde
vielleicht im Bad sein oder beim Frühstück, auf jeden Fall nicht in der Nähe
des Telefons. Ich würde ihm etwas auf seinen Anrufaufzeichner sprechen, und
gut. Nein. Edward hatte sich schon voll in diesen Tag hineingekniet.
Seine Stimme sprühte von Unternehmungsgeist. „Hast richtig Glück, dass du mich
erwischst. Bin nämlich verabredet. Mit …, erzähle ich dir später. Wie geht’s,
wann kommt ihr?“ So kannte ich ihn von seiner früheren Arbeit her. Der Boss,
der ganz große. Ich druckste. „Es geht gut. Aber … wir … Naja, Tineke hat
in der Klinik zu tun. Teils mehr als zwölf Stunden. Sie hatte einen super
Start. Sie nimmt nach diesen wenigen Wochen quasi die Stelle einer vollwertigen
Ärztin ein. Das ist ein Glücksfall, absolut, und es zeigt, was sie kann. Aber
der Job kostet Kraft. Sie muss sogar an den Wochenenden in die Klinik. Daher
hat sie kaum Zeit, und sie kriegt halt nur frei, um kurz zum Schlafen in die
Wohnung zu kommen … Übrigens“, ich zögerte, doch dann sagte ich es, „wir sind
verlobt.“ Er pfiff kurz durch die Zähne. „Glückwunsch“, sagte er
und schwenkte sofort um. „Also ihr kommt nicht an diesem Wochenende.“ Er wirkte
kein bisschen beleidigt oder enttäuscht. „Wenn Tineke auf der Arbeit voll
einschlägt, dann muss sie das jetzt durchziehen. Dann solltet ihr vorerst dort
bleiben. Du auch, damit du dich um sie kümmern kannst. Als ihr Verlobter hast
du entsprechende Verpflichtungen. Nicht, dass sie uns zusammenbricht. Und du
hast ja dadurch Zeit, an deiner Story zu schreiben.“ Er schnaufte irgendwie und
redete mühsam verhalten mit jemandem in seiner Umgebung. Unzweifelhaft waren es
Anweisungen, die er gab. Schließlich sagte er: „Ich muss Schluss machen, Junge.
Bis später.“ Ich atmete gewaltig auf. Ich musste kein schlechtes Gewissen
haben. Gleich würde ich es Tineke erzählen. Nicht gleich, sie schlief noch so
schön. Ich flitzte los, um Brötchen zu holen. Ich setzte die Kaffeemaschine in
Betrieb. Ich deckte den Tisch. Ich klapperte absichtlich mit dem Geschirr und
dem Besteck. Davon wurde sie wach. Und ich war nicht sonderlich überrascht, als
sie auf einmal im Flur stand. Verschlafen, verwirrt, verlegen. „Es riecht so verführerisch,
und ich schlafe ewig lange“, sagte sie. „Der frische Kaffee, die Brötchen.“ Sie
dehnte sich, sie sah gut aus. Sie umarmte mich leicht. Sie sagte mit einem
Blick auf die Uhr: „So schön wie es ist, ganz so viel Zeit habe ich gar nicht.
Die Arbeit ruft bald. Und ins Bad muss ich auch noch.“ Sie duschte bei nur
angelehnter Tür, sie rubbelte und föhnte sich, sie machte sich an verschiedenen
Cremedosen zu schaffen. Und endlich saß sie am Tisch. Wir frühstückten. Ich erkundigte mich nach den Arbeitsaufgaben des Tages.
Standen abermals Koloskopien oder diesmal eine Gastroskopie auf dem Plan? Melanome
extrahieren? Amputationen? Sie biss tapfer in eine Brötchenoberhälfte und beschloss
kauend: „Ich schätze mal, in mancher Hinsicht ist das nicht appetitlich, immer
diesen chirurgischen Kram anhören zu müssen. Also lassen wir das mal. Außerdem
bist heute du dran. Erzähl mal, wie weit du mit der Story über deine sagenhafte
Reise bist. Was ist denn schon alles passiert? Ich komme mir echt egoistisch
vor, wenn du immerzu bei mir zuhören musst und du darfst selbst nichts sagen.“ Ich? Ohne dass ich es gewollt hatte, fiel mein Visier
nach unten. „Hallo Jerominus, nicht eingeschnappt sein. Ich möchte einfach
mal wissen, was du schon geschrieben hast. Nur mal so als Abriss.“ Ich weigerte mich, eine Auskunft zu geben. Weil ich an
der ersten Fassung schrieb und daher garantiert noch diverse Korrekturen
vornehmen musste. „Besser, du liest es, wenn es fertig ist. Sonst wäre dir die
Spannung genommen.“ Sie lächelte schlau. Und freundlich. Und mutig. „Es mag
zwar nicht so aussehen, und ich habe gestern ja auch ganz was anderes
behauptet, aber ich bin super gespannt, was du mir demnächst zu lesen geben
wirst. Weil ich davon ausgehe, dass es sich trotz aller fast kuriosen
Begleitumstände um die Schilderung von irgendwie wahren Begebenheiten handelt.“
Folge
57 vom 26. Mai 2020
Ich
fuhr mit der U-Bahn mit zu ihrer Klinik. Ich begleitete sie noch ein Stück
durch die Flure und Treppengänge. Bis sie stehen blieb und mich festhielt. „Bis
hierher und nicht weiter. Hier beginnt das Reich der schneidenden Kunst.“ Sie
küsste mich. Jemand sagte im Vorbeigehen „Guten Morgen, so lässt sich’s leben.“
Tineke kicherte und flüsterte: „Unser oberster Boss. Professor Kurz.“ Ich
griente ihm hinterher. Kurz-Franzl, das waren maximal ein Meter und sechzig Zentimeter
Körpergröße, wovon ungefähr ein Viertel die Region Kopf und Hals ausmachte. Tineke küsste mich noch einmal und kündigte an: „Es wird
heute wieder spät.“ Danach musste sie in die Krankenstation, hinter deren
Glastür der oberste Chefarzt verschwunden war. Und ich? Ich stand da und kratzte meinen Scheitel. Fahr nach Hause und schreib die Story weiter, befahl ich
mir. Immerhin warten mindestens zwei Menschen mit großer Spannung auf deine
Ergüsse. Tineke und Edward. Oder drei? Jonathan. Oder vier? Henriette. Vier
Leute, das ist schon ein Bestseller kleineren Formats, dachte ich. Ich kicherte
so harmlos listig wie manchmal Tineke kicherte. Was für eine Verheißung, vier
Leser voraus zu wissen. Die umgehende Heimkehr und die konsequente Schreibfortsetzung
ließen sich somit nicht vermeiden. Ich schritt. Durch die Gänge, über die Treppen zurück, vorbei
an Türen, Fenstern, leeren, mit Plastikfolien bezogenen Betten, an Gestellen
mit vollen oder leeren Tropf-Flaschen, an Paketen mit Verbandszeug oder
Medikamenten. Vorbei an weißen, grünen oder blauen Kittel- und Anzuggestalten,
an freundlichen, gleichgültigen oder besorgten Gesichtern. Das Krankenhaus, die
Klinik. Sterile Gerüche, gedämpfte Geräusche. Sporadisches Klappern, hallende
Satzfetzen. Eine Atmosphäre der Unwirtlichkeit, wirklich kein Hort zum freiwilligen
Verweilen. Ich verließ das Klinikgebäude. U-Bahnhof sowieso. Der Bahnsteig. Der typisch metallische
Geruch, der seit Ewigkeiten aus den Gleisbetten heraufwehte. Kioske, Passanten
mit gelangweilt dreinblickenden Fratzen, erfolglose Bettler, dilettantische Musiker.
Instrumenten-Futterale mit dünn gesäter Münzenlandschaft. Leg was dazu! Ein
zunehmender Luftzug, ein heulend aufbrausendes Geräusch. Die Bahn kommt, weg
von der Plattformkante, nicht drängeln, nicht schubsen. Türmechanismus,
einsteigen. Abfahrt, nichts geht mehr. Rattatt, rattatt, rattattatt. Dunkelheit,
nur das Innenlicht des Wagens. Die Sitzreihen, die Stehflächen. Die Stangen zum
Festhalten. Entgegenkommende Lichterzüge, die wie Blitze vorbeijagen. Der ganze
Zug bebt. Die nächste Station naht. Wir nähern uns. Automatische Ansage,
Hinweise, alles aus dem Lautsprecher. Stehen. Zurückbleiben. Weiter.
Wiederholung. Anfahren, rasen, bremsen. Anfahren. Wieder Gesichter, Fratzen, Menschen.
Raus, rein. Stehen, sitzen. Glotzen, lesen. Kopfhörer. Handys. Hören,
quatschen, lachen, schimpfen, Trübsal verbreiten. Rein, raus. Die einzige
Begegnung mit eben diesem Fahrgastgesicht in diesem ganzen Leben. In meinem,
seinem. Oder? Ernesto, Tonya, Lurtz. Der Raumkreuzer. Interstellares und intergalaktisches
Sehen. Beobachten, Wissen. Alles. Ewigkeiten. Ich saß allein, ich sehnte mich nach Tinekes Kopf, auf
dass er vertrauend und vertraulich an meiner Schulter lehnte. Ich sehnte mich
nach Tineke. Prompt schnapperte mein Handy. Tinekes Name auf dem Display. Ich
drückte die Sprechtaste. „Nur kurz, mein Lieber. Wir haben völlig vergessen,
über das Wochenende zu sprechen. Henriette, Jonathan, Edward.“ Ich beschwichtigte sie: „Das ist geregelt. Sie wissen Bescheid.
Und sie sind nicht beleidigt oder enttäuscht, weil ich unseren Besuch abgesagt
habe.“ Sie atmete auf, ich konnte es trotz der Bahngeräusche hören. „Klingt ja,
als würden sie uns nicht mal vermissen. Na, besser als umgekehrt.“ Sie wollte
das Gespräch beenden. Ich hielt sie auf. „Morgen müssen wir zumindest einen
Piccolo zusammen trinken. Wir haben ein tolles Jubiläum.“ Sie schwieg, ich
spürte ihre Verunsicherung, ihre Gedanken durchrasterten die letzten Wochen, Tage,
Stunden. Ich sagte, um das Gespräch nicht unnötig zu verlängern: „Wir sind eine
Woche verlobt. Morgen Abend.“ Sie kreischte fast, und sie rief: „Juchhu. Tineke
und Erasmus Erster. Eine Woche, ein großes Stück Leben. Ich fasse es nicht!“
Ich
fuhr doch nicht direkt in die Wohnung zurück. Etwas in mir stieß mich an, als die
U-Bahn in die Umsteigestation zum Fernbahnhof einlief. Was? Inter-City-Züge,
dachte ich. Ich verließ den Wagen der U-Bahn und fuhr von einem anderen
Bahnsteig aus zum Fernbahnhof. Dort mischte ich mich unter die Menschentraube,
die über die Rolltreppen durch die Gänge hinauf zu den Fernzügen transportiert wurde.
Ich war ziellos, planlos. Irgendwie jedoch unruhig. Dann stand ich in der riesigen
Haupthalle, wieder wie damals, wieder wie an jenem Tag, da nichts mehr gegangen
war. Chaos, Katastrophe. Ich schaute umher, ich wartete. Nein, heute war es kein
neuerliches Warten auf eine Wiederholung der außergewöhnlichen Katastrophe
jenes außergewöhnlichen Tages. Kein konkretes Warten, wie ich es eigentlich vor
zwei Tagen empfunden hatte, als ich eben hier durch die Passagen des riesigen
Bahnhof-Komplexes gestrichen war und auf die Ansagen gespitzt hatte. Als ich
mir aufgescheuchte, ziellos sich entlang wälzende, sich begegnende
Menschenströme gewünscht hatte. Einen Stillstand, der die Bewegung gegen den
üblichen Trott auslöste. Trotzdem sollte gleich etwas passieren, das ich nicht hatte
voraussehen können. Oder sollte, wollte ich es voraussehen? War es nicht so, und
passierte es nicht auch? Das, woran man am wenigsten denkt. Als ich auf der nächsten Rolltreppe stand, um mich auf
eine höhere Bahnsteigebene befördern zu lassen, meinte ich auf einer parallel
nach unten rollenden Treppe jenen Lurtz zu sehen. Meinen, unseren Lurtz. Vielleicht
fünf, sechs Meter von mir entfernt. Den Blinden, den Mann mit dem Stock, der
dunklen Brille, dem Button mit den drei Punkten. Sein Gesicht, seine Haltung,
die Bewegung des Mundes. Wer, wenn nicht er, konnte es sonst sein? So
unverwechselbar. Ich reckte den Hals, rieb mir die Augen, lehnte mich weit über
das mitrollende Geländer und wollte winken. Zugleich machte ich eine noch erstaunlichere Beobachtung:
Neben Lurtz stand jemand, den ich ebenfalls kannte: Jonathan. Nein, er stand
nicht nur neben Lurtz, er hielt seinen Arm, er stützte ihn, er führte ihn, er
redete in seiner freundlichen Art mit ihm. Ich war mir meiner Beobachtung ganz sicher. Wiewohl ich
das Bild nach drei Sekunden schon wieder verloren hatte, denn andere Menschen
drängten sich davor, die Rolltreppen taten das ihrige. Die eine fuhr aufwärts,
die andere hinab. Wer sich hier kurz begegnete, wurde auch prompt wieder
auseinandergeführt. Auf immer, auf nimmer Wiedersehen. Die zwei vertrauten
Gesichter, die bekannten Gestalten, ich musste sie demzufolge verlieren. Ich
wollte es nicht, ich wollte sie anhalten, festhalten. Wollte sie rufen: „Lurtz,
Jonathan, wartet, hier ist Erasmus!“ Doch ich wagte es nicht. In die Masse der
Menschen hinein. In diese Szene, die ich, nachdem sie sich geschlossen hatte,
schon fast für eine Erscheinung hielt. Für eine Gaukelei der unergründeten Regionen
meines Hirns. Oben angekommen wechselte ich natürlich sofort die Richtung.
Zurück, nach unten. Hinterher.
Folge
58 vom 27. Mai 2020
Es schrie in mir förmlich nach Verfolgung. Ich drängte
mich durch die Menschen, die vor mir auf den gerippten Stufen dösten und nur
widerwillig und bei verständnislosen Blicken Lücken freigaben, damit ich
hindurch kam. Endlich befand ich mich unten in der Zwischenpassage. Ich spähte,
lief nach rechts und nach links, kehrte wieder an meinen Ausgangspunkt zurück. Vergeblich,
ich hatte keinen Erfolg. Lurtz und Jonathan, sie waren nicht zu sehen. Und doch
konnten sie nicht weit gekommen sein. Wenn sie es waren. Wenn. Wenn sie nicht
eine Erscheinung gewesen waren. Oder Doppelgänger. Zwei Doppelgänger aus dem
Kreis meiner Freunde? Zwei so auffällige Gestalten, so einmalige Charaktere. Konnte
es das geben? Eher sollte ich
doch einem Mischprodukt aus meinen Wunsch-Projektionen und den realen
Erinnerungen auf den Leim gegangen sein. Ich entschied
mich, nach links zu laufen, dort gelangte man zum Ausgang, dort lagen auf dem
Vorplatz die Imbiss-Restaurants, dort war der Taxi-Stand, dort standen mitunter
dunkle Limousinen. Und heute? Ich
schaute unwillkürlich auf die Haltebucht in der gegenüberliegenden Straße, von
der ich mit Lurtz gestartet war. Die dunkle Limousine mit den getönten
Scheiben. Die Bucht war leer. Jetzt. Trotzdem, am Ende der Straße sah ich ein
schwarzes Auto fahren. Dunkle Scheiben, breiter Fond. Der Wagen hatte bereits zu
großen Abstand gewonnen, als dass ich mehr als nur seine Umrisse erkennen
konnte. Kein Nummernschild, keinen Fahrer, keine Mitfahrer.
Nachher, in Tinekes Wohnung, tat ich
mich beim Schreiben nicht sonderlich schwer. Ich arbeitete konzentriert und
auch schnell. Zwei, drei Stunden; ohne dass ich längere Pausen einlegte. Ich
dachte nicht mehr über die Begegnung am Bahnhof nach. Lurtz und Jonathan.
Erasmus. War es eine
wirkliche Begegnung oder nur ein Spektakel in meinem Hirn? Ich beschrieb nun
die Vorbereitungen für den Start ins All. Ich schrieb und beschrieb gut. Ich
wusste noch alle Details, fast konnte ich noch mehr schildern, als ich vor ein
paar Tagen während des Flugs wahrgenommen hatte. Seltsam, oder doch nicht. Am frühen Abend
verließ ich die Wohnung. Ich kaufte ein paar Lebensmittel, bereitete das
Abendessen für zwei Personen vor und fuhr erneut mit der U-Bahn in die Klinik.
Ich holte Tineke von der Arbeit ab. Ich hatte sie
angerufen, sie war einverstanden. Sie freute sich. Sehr sogar.
Abermals
streifte ich nun durch die Gänge und Flure des gewaltig großen Gebäudes, nahm ähnliche
Bilder und Eindrücke wie am Morgen auf, wenngleich sie mich nun nicht mehr so
nachhaltig beschäftigten. Gewöhnte man
sich vielleicht daran? Ja, doch, man gewöhnte sich an vieles, und es ging
schnell. Ich passte
Tineke an der Tür der Krankenstation ab. Sie lief, fiel quasi in meine Arme.
Sie umarmte und küsste mich. Prompt kam auch der Chefarzt. Kurz-Franzl. „Donnerwetter“,
sagte er, „sieht so aus, als hätten Sie den heutigen Tag vor unserer Tür
verbracht.“ Ich wusste nicht, ob die Bemerkung ein Scherz sein sollte. Immerhin
war er ernst geblieben. Und zum Erwidern kam es nicht; der Mann, der Professor sauste
mit schnellen, hallenden Schritten davon. Ein Meter und sechzig Zentimeter –
inklusive des riesigen Kopfes. „Manchmal ist
dieser Mensch die wandelnde Herausforderung“, stöhnte Tineke. Sie hakte sich
bei mir ein, wir liefen. Nein, sie bremste ab, blieb stehen, ich ebenfalls.
„Ich möchte nicht, dass wir ihn einholen und bis zum Ausgang der Klinik neben
ihm herlaufen und uns mit ihm unterhalten müssen.“ Ich zweifelte.
„Wenn du meinst, er würde sich mit uns unterhalten, dann spricht das eher für
als gegen dich. Dann hat er eine gute Meinung von dir. Dienstlich.“ „Das schon“,
lenkte sie ein. „Fast schon eine zu gute. Stell dir vor, heute musste ich
tatsächlich eine eigene OP durchziehen. Also innere Organe. Richtig fetter
Bauchschnitt.“ Sie pustete mich an. „Das hat er einfach so verfügt. Und er
sagt, falls was nicht hundert Pro hinhaut, steht er ja daneben und greift
sofort ein. Du, und dann ist er gar nicht da.“ Sie sah blass aus, die
Unterlippe zitterte merklich. „Du, ich sag dir, mir war so was von flau und
kotzig, ich musste nach den drei Stunden, die das gedauert hat, schnurstracks
aufs Klo.“ „Aber du hast
die Aufgabe ohne Makel bestanden!?“ Sie nickte.
„Aber nur weil mir der liebe Gott die Hand geführt hat. Oder irgendein
Schutzengel. Oder jemand, den ich nicht kenne und du auch nicht, der es aber
total gut mit mir meint.“ Ich zwinkerte.
Ich dachte, da ist sicherlich etwas dran, du kennst sie nicht. Aber ich. Ich behielt das
für mich. Ich lächelte und dachte an Lurtz, an Tonya. Ich sagte: „Vermutlich
von jedem was, insbesondere, weil ich an dich gedacht habe. Ziemlich intensiv.“ „Ich bin echt froh,
dass du so viel weißt und mir alles so genau erklären kannst. Danke, Jerominus.
Dokter.“ Sie fasste meinen Arm, wir liefen weiter, sie sagte: „Morgen zu dieser
Zeit sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Wir haben unser erstes
Verlobungsjubiläum und können uns schon zu den Spießer-Paaren rechnen. Wie
nennt man das, eine Woche Verlobtheit? Golden, eisern oder diamanten? Oder
vielleicht galaktisch.“ Ich zögerte
erst. Galaktisch? Ich erwiderte dann: „In der Rhön ist das so. Dort nennen sie
eine Woche Verlobtheit galaktische Verlobung. Ganz bestimmt. Wegen des Tempos.“ Sie gähnte.
„Ich bin müde. Eigentlich möchte ich nur schlafen. Und mit der Rhön lass mich
heute mal ausnahmsweise in Ruhe. Auch wenn es sonst immer sehr lustig ist. Ich
krieg das einfach nicht mehr zusammen.“
Folge
59 vom 28. Mai 2020
Die
Feier fiel aus. Eine Woche Verlobtheit war auch so. Tineke musste an diesem
Samstag noch früher als sonst aufstehen. „Der Chefarzt hat mich um sechs
bestellt. Was das soll.“ Es gab aber keine andere Wahl. Sie fügte sich, sie krabbelte
in aller Frühe aus dem Bett. Und ich sah ihr eine deutliche Erleichterung an,
da auch ich aufstand und ihr das Frühstück machte. Ja, und zur Klinik fuhr ich
ebenfalls mit. Heute wieder. „Das hilft mir total“, gab sie zu. „Ich sehe, du
denkst an mich, du bist immer für mich da. Falls ich umzukippen drohe, rufe ich
mir das ins Gedächtnis. Dich.“ Ich versuchte einen Scherz: „Umkippen wäre nicht so tragisch.
Den falschen Patienten nicht richtig zu schneiden oder die Verbandsschere in
den Bauch einnähen, das ist viel problematischer. Die Klassiker in den OPs, das
weiß sogar ich.“ Wir saßen bereits in der U-Bahn, sie hatte die Augen geschlossen,
der Kopf lehnte an meiner Schulter. „Liebst du mich?“, fragte sie leise. Ich schwieg,
ich musste nicht antworten. Sie gab die Antwort selbst: „Stimmt, ich sollte dir
diese Frage nicht stellen. Als mein Verlobter bist du sowieso verpflichtet,
mich zu lieben. Das ist Vorschrift. Familiengesetzbuch, Verlobtheitsgesetzbuch,
Paragraf neuntausendsiebenhundertdreiundzwanzig, Absatz C, Klausel drei a. Auch
wenn wir ab heute Abend ein altgedientes Paar sind, mit galaktischem
Verlobungsjubiläum, und Spießer.“ Sie hatte die Augen geschlossen. Sie sagte
aber noch: „Du, ich werde mit dir heute wahrscheinlich nicht auf unser Jubiläum
anstoßen können. Wegen Müdigkeit; und weil ich morgen auch so zeitig zur Arbeit
muss wie heute und es mindestens so lange dauert, bis ich fertig bin. Ich danke
dir, dass du dafür Verständnis hast. Und für alles andere. Du bist nicht nur
ein großartiger Schriftsteller, sondern auch ein wunderbarer Mensch.“ Sie war
schon im Halbschlaf und sie redete noch. Ihre Stimme wurde leise und leiernd.
Bis sie nichts mehr sagte und vollends schlief. Ich hörte es nicht an den
Atemzügen, ich fühlte, ich wusste es einfach. Als wir die Klinik betraten, sah sie allerdings erholt
aus. Das kommt von innen, dachte ich, von der Einstellung zur Arbeit. Das ist
Willen, Kraft. Sie hat das Ziel, eine erstklassige Ärztin zu werden. Sie wird
es schaffen. Sie wird erfolgreicher sein als ich mit meiner Schriftstellerei. Ich brachte sie zur Glastür. Sie umarmte mich lange. „Ich
werde dich auch noch lieben, wenn wir schon zwei Wochen verlobt sind. Das ist
dann die doppelgalaktische Verlobtheit.“ „Ja“, erwiderte ich. Ich fand es allmählich kompliziert.
Zu dieser äußerst frühen Stunde. In der Unruhe dieser Flure, wo es zog und wir
von einem künstlichen Licht umgeben waren, das eine sterile Kälte ausströmte. Ich
lenkte ab, lenkte um. „Aber wenn wir dereinst heiraten, wie wird dann
gerechnet?“ Sie hielt mich immer noch fest. Nur noch an den Händen
jetzt. Sie stand vor mir. „Jetzt müssen wir zunächst die Verlobtheit
durchstehen. Ich wüsste ja nicht mal, wohin wir unsere Hochzeitsreise machen
sollten.“ Ich hätte ihr die Rhön vorgeschlagen. Ein Scherz, allerdings
kein origineller mehr. Ich wollte es nicht. Wegen der Stimmung und der
frühmorgendlichen Uhrzeit. Zudem hallten Schritte hinter uns. Sie näherten sich
flugs. Ich erkannte sie. Sie waren kurz. Es war Professor Kurz-Franzl. Der
Chefarzt, wer sonst. Er grüßte höflich, und er lächelte verstohlen, sicherlich
auch etwas ältlich, ehe er in der Station verschwand. Die Arbeit, der
Mediziner. Tineke sagte: „Noch mal eine von seinen Flur- und sonstigen
Bemerkungen hätte ich jetzt nicht ausgehalten.“ Sie stieß sich von mir ab. „Sei
du mal auch schön fleißig.“ „Auf jeden Fall“, versprach ich und trollte mich zurück
in die Wohnung. Dass ich das Versprechen nicht ganz prompt einhalten würde,
war indessen abzusehen. Ich hatte das Notebook eingeschaltet, die Tasse mit dem
hoch konzentrierten Kaffee neben mir und das Fenster weit aufgestellt. Ich
gähnte wie ein Leu, und ich fror an den Füßen und allmählich auch am Körper. Ich
fand den Geruch und den Geschmack des Kaffees unangenehm. Ich versuchte, den
bereits geschriebenen Text zu lesen und sogar zu korrigieren. Es misslang
völlig. Alles, das da stand, war mir fremd, uninteressant und öde. Schon gar
nicht brachte ich es fertig, weiter zu schreiben. Meine Ankunft im Raumkreuzer,
Gespräche, Eindrücke. Unglaubliches. Ich klappte den Computer zu. Ich stand am
offenen Fenster. Ich glotzte mit kleinen Augen auf die Straße. Es sind höchstens, sieben Schritte bis zum Bett, dachte
ich. Und ich dachte: Niemand hat etwas davon, wenn du dich quälst und ziellos in
der Wohnung rumläufst, benommen vor dem Fenster stehst oder dämlichen Gesichts
vor dem Computer-Bildschirm hockst. Am wenigsten Tineke. Ich legte mich dennoch nicht hin. Mein schlechtes Gewissen.
Ich zog eine Jacke an und verließ die Wohnung, das Haus. Ich trottete durch die
Straßen. Ich achtete darauf, dass ich ja nicht den Weg in Richtung Fernreisebahnhof
einschlug. Ich wünschte mir heute einen Hund. Und ich hatte auf einmal den
Gedanken, zum Tierheim zu fahren und solch ein armes Luder, das ausgestoßen und
ungeliebt, in einer Gitterzelle darbte, zu erlösen. Ein Hund für mich, ein
wunderbarer, treuer Gefährte, den ich Kurzel und manchmal sogar Professor
nennen würde und der einen riesigen Kopf haben musste. Eine Aufgabe, ein Alibi.
„Der Hund braucht Bewegung, er muss Gassi.“ Dieses und Ähnliches würde ich zu
allen Leuten sagen, die mir mit fragenden Gesichtern oder Worten bei ansonsten
ziellosen Wanderungen auf den Fußwegen der Hauptstadt begegneten. Und
natürlich: „Ist er nicht reizend? Reinrassig oder Mischling? Rüde oder Hündin?“ Heute. Jetzt. Und in fünf oder sechs Stunden, an den nächsten
Tagen, in den nächsten zehn, zwölf oder noch mehr Jahren? Ich würde mich um
diesen Hund kümmern müssen und von ihm abhängig sein. Weil er von mir abhängig,
auf mich angewiesen war. Und Tineke würde, wie ausgepumpt sie auch sein mochte,
lästern: „Nimm deinen Kumpel aber nicht mit in das Hantschuloko, das man mit
einem n schreibt; dort setzen sie ihn prompt auf die Menü-Karte.“ Demnach fuhr ich nicht ins Tierheim. Nebenbei bemerkt
hatte ich meine Gefährten an der Küste. Henriette, Edward und Jonathan. Meine
Gefährten, meine Leser, die dringend auf die Fertigstellung des Textes
warteten. Der Bestseller für vier.
Ich lächelte.
Folge
60 vom 29. Mai 2020
Es war das erste selbst produzierte Lächeln an diesem
Morgen. Es kam von innen, es war Ausdruck eines zaghaften Frohseins. Und war es
nicht auch das erste Lächeln dieser Art, das ich seit mindestens drei Tagen zuwege
gebracht hatte? Dieses Lächeln spiegelte sich. Eine Frau mit einem
Mädchen ging an mir vorüber. Das Mädchen sagte zu der Frau: „Guck mal, Oma, der
Mann war ja lustig.“ Darauf erwiderte die Frau: „Bloß weil einer mal ’n
bisschen lacht oder grinst, muss er nicht gleich lustig sein. Manchmal sind
solche nur schadenfroh und lachen über das Unglück von anderen.“ Natürlich, das
Mädchen wusste nicht genau, was es mit dem Schadenfrohsein auf sich hatte. Es
fragte sofort danach. Und die Frau gab gleich eine Antwort. Doch die beiden,
ich auch, waren schon zu weit weg, um das verstehen zu können. Immerhin, es war ein Ansporn. Froh sein, lustig sein. Ob
man nun richtig oder missverstanden wurde. Ich fuhr heim, ich klappte das
Notebook auf und tippte. Ich tippte, ich will es nicht anders formulieren.
Bestenfalls ließe sich sagen: Ich schrieb vor mich hin. Es kam wenig
Brauchbares heraus. Also hätte ich ergänzen können: Und nichts zu schreiben, so
war mein Sinn. Folglich löschte ich nach etwa einer Stunde alles wieder,
klappte den Computer, der von Insidern auch Maschine
oder Rechner genannt wurde, zu.
Ich sah mich in der Wohnung um. Das Bett lockte mit Macht. Schon wieder und
immer noch. Und doch bewies ich abermals Stärke. Ich beschloss, mich
anderweitig zu beschäftigen. Mit nützlichen Dingen. Zwei Leuchtkörper mussten
ausgewechselt werden, das Badezimmer konnte ein Putzaktion vertragen, der
Teppich im Flur schrie nach einem Staubsauger, und den noch in der Wohnung
befindlichen Exemplaren aus der Erster’schen Schallplattensammlung tat fraglos
ein Entstaubungsverfahren gut. Zwischendurch die Fußballkonferenzschaltung im
Radio mitgenommen, ein paar Einkäufe erledigt, Abendessen vorbereitet. Und endlich ein Anruf von meiner Verlobten. „Noch sechs
Stunden.“ Sie hörte sich gut an, gar nicht mehr müde und erschöpft. „Bis ich dich abholen soll oder bis zum Einwöchigen?“ Sie schalt mich. „Es ist sechs. Meinst du, ich will erst
um Mitternacht hier weg?“ Es war ein Scherz. Wir verabredeten uns für halb neun.
„Schön, wenn du mich wieder abholst.“ Ich hörte hinter ihren Worten die
Erschöpfung heraus. „Morgen muss ich genauso früh hier sein wie heute.“ Ich dachte, wie lange wird sie das durchhalten? Nicht mehr lange. Und ich selbst? Ich fühlte mich jetzt besser. Ein
Abendmensch. Zumindest tendierend. Abendliches Arbeiten bevorzugt. Ich setzte mich an das Notebook und brachte endlich
brauchbare Sätze auf den Monitor. Meine Zeit im Raumkreuzer, sie begann noch
einmal. Ich lebte sie nun aus. Im Rückblick. Ich schilderte jede Menge Details,
wahrscheinlich sogar alle, denn ich sah mich noch einmal dort. Ich fühlte mich
dort. Mit Tonya, mit Lurtz, wartend auf das Gespräch mit meinem Vater. Es war kein Erinnern oder Rückblicken schlechthin, das
ich betrieb, keine bildhafte Darstellung des Erlebten. Kein chronologisches
Aufschreiben. Es war das Wiedererleben und Aufarbeiten. Es ging tief in mich
hinein, zugleich kam es aus tiefstem Grunde aus mir heraus. Es berührte mich
sehr. Mehr als während des wirklichen Aufenthaltes in dem Raumkreuzer, als ich
vieles gar nicht voll begriffen hatte. Wohl weil ich nun die Distanz hatte.
Zeitlich, sicher auch gedanklich. Ich musste einige Male aufstehen und in der Wohnung
herumlaufen, aus dem Fenster schauen oder in den Spiegel, um mich davon zu
überzeugen, dass die Welt, so wie sie war, noch existierte, und um zu
begreifen, dass ich Tränen in den Augen hatte. Und ich war mit meiner Schilderung noch längst nicht zu
der denkwürdigen Begegnung mit meinem Vater gelangt. Ich hätte es an diesem Abend nicht mehr geschafft, über
die Begegnung mit Professor Ernesto Erster zu schreiben. Mir fehlte die Kraft,
auch die Zeit. Ich machte den Deckel des Notebooks zu. Ich saß danach Minuten
entlang und starrte einfach auf die Wand. Bis mir das Gesicht meines Vaters
erschien. Der Professor, Papa. Er redete zu mir, doch ich konnte ihn nicht
verstehen, nicht hören. Ich schloss die Lider, sie öffneten sich von selbst
wieder. Ich hielt mir die Hände vor das Gesicht, es wurde dunkel, nach einigen Sekunden
verschwand die Erscheinung. Das Bild meines Vaters. Oder war es keine
Erscheinung gewesen? War es eine Fortsetzung unseres Gesprächs? Der Versuch,
der gescheitert war. An mir. Die Möglichkeiten mochte er haben. Viele Möglichkeiten
hatte er. Ich sprang auf und lief aus der Wohnung. Ich fuhr in die
Klinik. Ich saß auf einer Bank, die nahe der Glastür vor Tinekes Station
aufgestellt worden war. Für Wartende. Es zog, klappernde Geräusche und
unverständliche Halbsätze fegten durch die Gänge des Gebäudes. Kühl kam es mir
vor, unwirtlich, vor allem trostlos. Ich hatte die Erscheinung abgeschüttelt. Es war noch mehr als eine halbe Stunde, bis Tineke kommen
würde. Es wurde mehr. Gut eine Stunde. Ich war gerade dabei einzuschlafen. Auf
der harten Bank, in der zugigen Ungemütlichkeit, trotz der Geräusche. Tineke
wirkte gereizt, geschafft. Sie umarmte mich dennoch. Sie fühlte sich warm und
innig an. Sie bedankte sich. Sie bemühte sich um Freundlichkeit. Aber sie
heulte. „Erinnerst du dich, dass ich dir von der Frau mit dem Fleck auf dem
Gesicht erzählt habe?“ Sie schluchzte leise. „Meine selbständige OP. Der
Laborbefund ist da. Stell dir vor, sie hat Krebs. Es haben sich schon
Metastasen gebildet.“ Sie sah mich mit zerfließendem Blick an. „Tut mir leid“, erwiderte ich. Ich strahlte jedoch kein
Mitgefühl aus. Weil ich keines aufbrachte. Weil ich diese Frau nicht kannte.
Weil ich mit einer Mitteilung dieser Art nicht gerechnet hatte. Tineke kapierte es. „Ich weiß schon, jeder hat heute mit
sich selbst zu tun. Und der Chef sagt ja sowieso: ‚Als Mediziner muss man mit
so was umgehen können. Und das lernt man mit der Zeit.’ Er hat ja Recht.“ Sie
seufzte, sie trocknete sich das Gesicht. Sie lächelte plötzlich. „Er hat auch
gesagt, er hielte mich für eine gute Ärztin. Eine sehr gute nämlich.“ Im selben Augenblick öffnete sich die Glastür. Der
riesige Kopf erschien, natürlich. Kurz-Franzl. Er nickte diesmal eindeutig mir
zu. Er sagte: „Bei der Betreuung ist es kein Wunder, dass aus Ihrer Verlobten
eine so gute Ärztin wird.“
Folge
61 vom 30. Mai 2020
Als
sie um elf im Bett lag, flüsterte sie gerade noch: „Weckst du mich um
Mitternacht? Damit ich dich wenigstens drücken kann. Eine Woche Verlobtheit.“ Ich wusste von vornherein, ich würde es nicht tun. Ich
schlief nachher selbst viel zu fest. Ich hatte auch Mühe, am frühen Morgen, es
war Sonntag, wach zu werden und aus dem Bett zu kriechen. Ein Frühstück zu
bereiten. Bei Tineke klappte das hingegen besser. Der Kaffeeduft,
der Geruch des frischen Toasts, die sich in der Wohnung ausgebreitet hatten,
waren ihr Wecksignal. Sie stand, wie am Vormorgen, in der Tür. Hinter mir. Sie
hatte mich wohl einige Zeit beobachtet. Als sie sah, dass ich sie sah, lächelte
sie. „Mein Chef hat Recht“, sagte sie. „Durch deine Unterstützung geht alles
viel leichter. Du bist immer für mich da.“ Ich war froh, dass sie das anerkannte. Nicht aus
Eitelkeit. Es fiel mir leichter, so vieles auf mich zu nehmen. Sie umarmte
mich. Schon wieder, aber es tat gut, sehr sogar. Bettwärme, wenn sie einem
geschenkt wird, ist ein Stück Liebe, dachte ich. Wir frühstückten, ich brachte sie in die
Klinik. Sie lehnte in der U-Bahn mit dem Kopf an meiner Schulter, schlief, nachher
standen wir gemeinsam vor der Glastür. Alles wie vorher, nur dass der Chefarzt diesmal
nicht an uns vorbeilief. Er kommt heute nicht, dachte ich. Eins zu null für
uns. Für Tineke. Doch die Tür flog auf, eine Krankenschwester streckte den Kopf
heraus. „Gut, dass Sie da sind, Frau Doktor. Der Chef wartet. Er ist schon vor
einer Stunde gekommen. Eine dringende OP. Die Patientin von Zimmer 22.“ Dieser Chefarzt. Von wegen Kurz-Franzl. Tineke gab sich einen Ruck. „Hilfe, das hatte
ich wegen der anderen Sache gar nicht mehr auf dem Schirm. Ich komme!“ Sie
hauchte mir einen Kuss entgegen. „Ich schicke dir eine SMS oder ich rufe dich
an, damit du mich wieder abholen kannst.“ Schon verschwand sie. Ich starrte einige Sekunden auf die Tür,
hörte die Stimmen, die sich schnell dahinter entfernten. Ich fuhr zurück in die
Wohnung. Ich gähnte fürchterlich in der U-Bahn. Ich schlief fast ein. Und ich
verspürte heute keinerlei Bedürfnis, umzusteigen und zum Fernreise-Bahnhof zu
fahren. Atmosphäre auffrischen, Erinnerungen neu gestalten. Ich dachte, fahr heim, und leg dich in die
Koje. Schlafen. Keinem ist gedient, wenn du dich im Wachbleiben quälst. Auch
nicht Tineke, nicht aus Solidarität. Sei stattdessen stolz darauf, dass sie in
der Station mit Frau Doktor angesprochen
wird. Welch eine Wertschätzung. Es kam mal wieder anders. Ich betrat die Wohnung. Ich sah,
nachdem ich die Wohnung betreten hatte, an der Wand des Zimmers das Bild meines
Vaters. Es nahm die volle Fläche ein. Es hatte fast die Größe und Deutlichkeit
wie bei der Bildschirm-Begegnung im Raumkreuzer. Der Mund bewegte sich, er
redete. Verstehen, hören konnte ich nichts. Ich vermochte auch nicht, aus den
Bewegungen der Lippen Worte oder Sätze zu rekonstruieren. Ich starrte das Bild
eine Weile an, dann verschwand es. Es blieb verschwunden. Erst als ich die
Augen schloss, kehrte es zurück. Blass und verschwommen. Da wusste ich, was ich
soeben zu sehen geglaubt hatte, war nicht wirklich da gewesen. Nur in meinem
Kopf hatte es existiert, eine Erscheinung. Schon wieder. Ich empfand die Erscheinung als ein Signal. Als eine Aufforderung.
Sie kam aus meinem Hirn. Oder aus der Seele? Ohne zu zögern fuhr ich die Maschine hoch, öffnete die Text-Datei Tonya-001
und begann zu schreiben. Ich schrieb das Gespräch mit meinem Vater auf. Ich
brachte die Gefühle mit hinein, die ich entwickelt hatte; und jene, die
geblieben waren. Ich schilderte die Eindrücke, die sich nach und nach in mir gefestigt
hatten und die beim Schreiben neue Klarheit bekamen. Ich arbeitete sehr genau. Als
hielte ich mir einen Spiegel vor die Gedanken und sähe mich von außen dort sitzen.
Vor dem Monitor, vor dem Gesicht meines Vaters.
Gegen
Mittag wurde ich unterbrochen. Es klingelte. Da ich den Klingelton der Wohnung
bisher kaum erlebt hatte, nahm ich ihn als solchen zunächst nicht wahr. Ein
Geräusch von der Straße, dachte ich, auf das ich nicht achtete. Erst bei der
zweiten Wiederholung wurde mir klar, dass unsere Wohnung mit dem Klingeln gemeint
war. Ich ging zur Tür und betätigte die Sprechanlage. „Bitte?“, sagte ich, und
ich vernahm eine Frauenstimme. „Herr Erster?“ Für ein paar Augenblicke stockte
mein Atem. Wer wusste denn von mir? Hier, in Tinekes Wohnung. War mir nun
tatsächlich irgendein Amt auf die Spur gekommen? So, wie Tineke und ich dauernd
gescherzt hatten, die Verlobtenkontrollpolizei: „Wir müssen überprüfen, ob Sie nicht womöglich im
gleichen Zimmer und sogar in einem Bett schlafen. Bitte legen Sie uns auch eine
beglaubigte Kopie Ihrer Verlobungsurkunde vor.“ Handschellen und
Fingerabdruckkasten gehörten zur Ausrüstung. Eine fahrbare Zelle sowieso. Oder
schickte mein Vater wieder jemanden? Eine Abgesandte aus dem All? „Tonya?“, entfuhr
es mir daher ohne jede Gedankenkontrolle und ohne dass ich mir der Absurdität
meines Gedankenzuges bewusst gewesen wäre.
Folge
62 vom 31. Mai 2020
„Nein“, erwiderte die Stimme hastig. „Hier ist Helene. Sie
kennen mich wahrscheinlich durch Herrn Dr. Edward Erster. Ihr Onkel.“ Puh. Helene, die Verlagsbekanntschaft aus der Schweiz. Ich
drückte den Summer. Und gleich darauf stand ich in der offenen Tür. Ich war
neugierig, ich freute mich auch. Das hatte etwas zu bedeuten. Viel. Oder? Auf
jeden Fall: Wenn der Prophet nicht zum Berg ging, kam derselbe zu ihm. Ich
dachte, es wird sich etwas tun. Mal sehen was. Ein Buch wird entstehen, dachte
ich. Geschrieben von mir. Das sizilianische Gericht, ein Roman, ein Krimi. Und
in den Zeitungen würde mein Name zu lesen sein. Erasmus Erster – Sein erstes
Buch. Auch Frau Stine-Pohl, meine einstige Chefin, der ich zwischenzeitlich
meine Bewerbungsunterlagen zurückgeschickt hatte, würde davon erfahren. Von dem
Erfolg des „Stümpers“. Ätsch. Helene sah wirklich nett aus. Längst keine fünfzig, nicht zu
dürr und nicht zu korpulent, halblange brünette Haare, ein offenes Gesicht. Sie
wirkte eher unsicher. Sie entschuldigte sich, gab sich mit dem Hinweis auf das
Manuskript, das sie mitgebracht hatte, ein Alibi für ihren Besuch. Und Edward Erster? Sie sagte nichts über ihn. Dabei spürte
ich irgendwie, dass es um ihn ging. Sie konnte ja nur über eine Stippvisite in
seiner Villa an meine, was hieß Tinekes Adresse gelangt sein. Nicht nur wir an
ihre. Ich bat sie in die Wohnung, sie durfte in dem Sessel sitzen,
von dem man auf die hier verbliebenen Platten der besagten Sammlung schauen
konnte, musste. Ein Anlass, um ins Gespräch zu kommen. Kein guter. „Ich habe alle meine Platten weggeben.“ Das hatte sie zu
sagen. Ich hätte erwidern können, ich auch, ich habe meine Platten
verpfändet. Oder getauscht. Gegen die Liebe einer jungen Assistenzärztin. Ich
sagte es nicht. Ich sagte nichts. Ich war nicht ganz eingerichtet auf diesen
Besuch. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer. Da stand das Notebook auf dem
Tisch. Der Textblock prangte mit der Schilderung einer Begegnung im All. Vater
und Sohn. Natürlich, aus der Entfernung von etwa zwei Metern konnte man die
Worte, Buchstaben und Sätze nicht entziffern. Sie vermochte den Gesprächsfaden auch so zu spinnen. „Es ist
Ihnen also ernst mit dem Schreiben. Den Büchern.“ Keine Frage, eine
Feststellung. Ich nickte. „Machen Sie was Neues, oder sind das Korrekturen?“ Ich erklärte mühsam, dass es um eine äußerst ungewöhnliche
Reise ging. Es sei zuerst für Tineke gedacht gewesen, auch für meinen Onkel.
Und da sie kapierte, dass es wohl eine erweiterte Bedeutung bekommen könnte, bestätigte
sie: „Manchmal ergeben sich aus diesen ganz persönlichen Niederschriften
richtig gute Storys.“ Sie sah mich plötzlich an, ziemlich entschlossen. Ihre Augen
leuchteten. Ich wusste, sie würde nun keine Umschweife machen. „Ich hab das
eine mit dem anderen verbunden. Deshalb bin ich hier.“ Das Manuskript? Da legte sie es also auf den Tisch. Mir wurde flau. Wiewohl
ich mir dieses Werkes immer sicherer geworden war. Ein Manuskript, das
abgesehen von kleinen Schwächeleien, unbedingt für ein Buch taugte. Aber nun
war es von kompetenter Hand bewertet, korrigiert, kritisiert worden. Hielt es
einer solchen Begutachtung stand? Ich würde es erfahren. Gleich. „Ich wollte gern Ihren Onkel wieder sehen, und ich wollte mit
Ihnen darüber sprechen.“ Ihr Finger tippte auf den Einband. „Mein Onkel“, erwiderte ich vorsichtig, „ist schon seit geraumer
Zeit nicht in der Stadt. Er wollte nicht gestört werden. Das hat, glaube ich,
mit Ihnen gar nichts zu tun. Ich kann ihn später anrufen und ihn fragen, ob er
sich bei Ihnen meldet. Falls Sie noch eine Weile in der Stadt sind.“ „Und falls er sich überhaupt an mich erinnert.“ Das klang unsicher,
es heischte bewusst nach Widerspruch. „Sicher erinnert er sich. Sehr genau. Und wohlwollend. Er hat
Ihre Abreise bedauert. Nicht nur einmal. Bestimmt würde er sich auch von selbst
melden.“ „Es war wegen meiner Arbeitsstelle, weswegen ich so überstürzt
nach Hause gefahren bin. Der Verlag. Die Pleite wurde genau in meiner
Abwesenheit akut. Ich hatte gedacht, ich würde für mich noch etwas retten
können, wenn ich rasch hinfahre. War aber zu spät. Hätte ich also wenigstens
die schöne Schweiz noch ein paar Tage länger genießen können. Die Verschuldung des
Ladens war so enorm, dass für keinen von uns Angestellten was übrig geblieben ist.
Kein bisschen Abfindung oder noch ein Restgehalt. Nur der große Chef, der hat
sich seine Milliönchen in eines von diesen Steuerparadiesen retten können.“ „Und nun?“ Sie lächelte, und sie sah trotz der Bitternis, die sich mit der
zu erwartenden Antwort verband, sehr charmant aus. „Nun stehe ich auf der
Straße. Verlage gibt’s zwar wie Sand am Meer, bloß es will keiner eine weitere voll
bezahlte Fachkraft einstellen. Praktikanten und Auszubildende, die man später
nicht übernimmt, sind billiger.“ „Für die Rente sind Sie ja wohl zu jung und als Sozialfall zu
klug und zu anständig.“ „Ach“, seufzte sie, „Sozialfall zu werden, davor schützt weder
das eine noch das andere.“ „Und mein Manuskript, was machen wir damit?“ Die Frage überfiel
mich und damit auch sie spontan. Weniger, weil ich ihre Meinung hören wollte.
Es war das Gesprächsthema. Immer und überall Krise und Sorgen. Ich mochte das
nicht. Sie schaltete sofort um. „Mit der Einarbeitung der Korrekturen,
die ich angezeichnet habe, würde es durchgehen. Mittelmaß. Die andere
Möglichkeit wäre, wir krempeln es zusammen um. An einigen Stellen jedenfalls. Die
Szene mit der Mord-Nacht im Museum. Fürchterlich. Ändern, kürzen oder
rauslassen.“ Sie bekam wieder diese leuchtenden Augen, die sichtlich von ihrer
Begeisterungsfähigkeit sprachen. „Wenn wir diese Passage vernünftig hinkriegen,
könnte das sogar ein Buch werden, das leicht über dem Durchschnitt liegt.“ Leicht. Welch eine schmalspurige Verheißung. Und doch, besser
als falsches, enttäuschungsschwangeres Lob. Und besser auch als ein Verriss und
diese üble Einschätzung: „Es taugt nichts, es ist Stümperei.“ Nur blieb diese eine Frage offen: „Und wer wird das veröffentlichen?
Kennen Sie einen Verlag?“
Folge
63 vom 1. Juni 2020
Sie lächelte, und da sah sie so geheimnisvoll und
zugleich so nett und auch so hübsch aus. Da dachte ich für die nächst folgenden
Sekunden nicht an mein Manuskript, an mein künftiges Buch, sondern an sie,
Helene, und ich stellte mir, nein, eigentlich ihm, diese eine wesentliche
Frage: Warum flüchtest du in ein Versteck, warum richtest du dich wieder als
Unternehmer ein, anstatt dich um diese außergewöhnliche Frau zu bemühen, Edward
Erster? „Ich kenne einen Verlag, allerdings existiert er nicht. Nur
hier drin.“ Sie tippte mit einem Finger gegen ihre Stirn. Ich verstand nicht, wie sie das meinte. Was sie meinte. „Dieser Verlag ist eine Idee von mir. Ich will ihn selbst
gründen. Wegen des Kredits habe ich bei der Bank angefragt. Den kriege ich,
wenn ich mein Häuschen als Sicherheit anbiete. Wie wär’s also, wenn wir mit
Ihrem Buch starten? Zur Verlagsneugründung.“ Es wäre nicht schlecht, dachte ich. Mein erstes Buch wäre
zugleich ihr erstes Buch. Eine Problemlösung oberster Klasse. Ich hätte total
zufrieden sein können. Ihre Erfahrung würde mir kolossal helfen. Ihre
Verbindungen sicher auch. Also Luftsprung; oder wie nannte man das, was einem
solchem Zustand entspross? Und doch fühlte ich mich nicht gut. Ich fühlte mich eher
egoistisch. Helene würde das finanzielle Risiko tragen, im ungünstigsten Fall ihr
Eigenheim draufgeben. Aber Erasmus Erster hatte dann das erste Buch
veröffentlicht. „Kann ich nicht irgendwie dazu beitragen?“, fragte ich.
Ich meinte, wenn ich sagte ich, eher
meinen Onkel. Aus vielerlei Gründen. Der Hauptgrund war seine gute finanzielle
Basis. „Irgendwie mit einem Druckkostenzuschuss.“ Sie lächelte, sah geschmeichelt aus. „Geld ist immer gut.
Ob so oder so. Wir können ja vereinbaren, dass Sie Exemplare abnehmen. Hundert
Bücher. Von mir aus auch zwei- oder dreihundert. Zum Verschenken, oder Sie
halten Lesungen und verkaufen und signieren die Exemplare.“
Mir
war schwindlig. Als Helene fort war, konnte ich zunächst keinen klaren Gedanken
fassen. Es war sinnlos, dass ich mich vor das Notebook setzte, um weiter an der
Story zu arbeiten. Es war auch sinnlos, mich in den Sessel zu lümmeln, um
nachzudenken. Oder mich auf das Bett zu legen und die Augen zu schließen. Ich
fand keine Ruhe. Irgendwann zog ich mir die Jacke an und ging aus dem
Haus. Ich latschte durch die Straßen, vorbei an Schaufenstern, Menschen und
Autos, doch ich sah nichts und niemanden wirklich an. Ich dachte an mein erstes
Buch. Ganz konkret kam das Projekt auf mich zu. „Das Sizilianische Gericht“.
Dabei hatte ich es ja zurückgestellt. Wegen der Story über meine unglaubliche
Reise. Was sollte nun aus der Story werden? Ich war mitten drin, ich hatte
gerade heute einen richtig guten Lauf gehabt. Gehabt. Ich sollte, wollte das
fortsetzen. Nein, es klappte nicht. Ich kam nach Hause und vermochte
nicht, weiter daran zu arbeiten. Kein Satz gelang mir. Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer von Tinekes
Handy, um mit ihr zu reden. Oder sie zu fragen, ob sie nicht eher nach Hause
kommen könne. Das Handy war abgeschaltet. Ich wählte die Nummer der
Station an. Niemand nahm ab. Natürlich, sie hätte ohnehin nicht kommen können.
Auch wenn ich sie erreicht hätte. Ich lief abermals durch die Straßen der Stadt, dann fuhr
ich in die Klinik, ohne zuvor in die Wohnung zu gehen. Meine Gedanken
sortierten sich allmählich. In der U-Bahn ganz besonders. Das Geruckel, der
Geruch, die Geräusche. All das dämpfte irgendwie jede Unruhe. Tineke, als sie am Abend durch die Glastür kam und mich
mit einer Umarmung begrüßte, merkte nichts von meiner soeben überstandenen
Aufregung. Sie hatte ihre eigene. „Was glaubst du, was heute wieder hier
abgegangen ist.“ Sie lachte mich an. Und sie sagte: „Ohne dich wäre ich
aufgeschmissen. Ohne deine Ruhe und Ausgeglichenheit.“ Sie hielt mich immer
noch fest. „Wie kommst du mit dem Schreiben voran? Du bist doch hoffentlich
noch bei dieser Story? Kantemus-Klinik.“ Und da ich mich kaum regte: „Also,
wenn ich dir in irgendeiner Weise helfen kann, dann sag es bitte.“ Sie lief
schon neben mir. Sie gähnte. Sie fasste während des Laufens um meine Taille.
Ich liebte sie sehr, und ich war froh, dass ich sie hatte. Aber wir redeten
nicht. Nicht über dieses Problem.
An
den nächsten Tagen kam ich nicht mehr vorwärts. Wenn ich versuchte, über mein
Erlebnis im All zu schreiben, geisterte prompt die sizilianische Geschichte
durch meinen Kopf, und wenn ich dann eben diese Datei öffnete, um die Korrekturen
einzuarbeiten, die mir Helene gebracht hatte, verlor ich jede Konzentration. Ich
fand dieses „Sizilianische Gericht“ irgendwie nichts sagend. Ich saß stumm und
einfallslos vor den Zeilenreihen, und nichts passierte. In meinem Kopf und auf
dem Monitor. Ich klappte das Notebook zu. Und ich machte es gar nicht wieder
auf. Ich verbrachte meine Zeit, indem ich aus dem Fenster starrte oder durch
die Straßen lief. Schließlich schaltete ich den Fernsehapparat ein, der in
Jonathans Zimmer stand. Auf dem Bildschirm zogen Serien, alberne Spielfilme,
antispannende Pokerrunden, Verkaufssendungen oder seltsam fremde Nachrichten
vorbei. Alles ließ mich leer. Tineke bemerkte irgendwann, dass ich den Fernseher eingeschaltet
hatte. Die Fernbedienung lag auf dem Tisch, Jonathans Sessel war ausgebeult. Es
war mir peinlich. Doch sie bestärkte mich, sie behauptete: „Jemand, der den
ganz Tag sonst vor dem Computer hängt und quasi darum kämpft, ein Buch zu
schreiben, der braucht unbedingt Abwechslung. Der muss auch andere Gesichter sehen
und andere Stimmen hören. Nicht nur, wenn er abends seine Verlobte von der
Arbeit abholt und sie morgens in die Klinik begleitet. Noch besser wäre es, du
kämst mal wieder richtig unter Menschen.“
Folge
64 vom 2. Juni 2020
Sie hatte Recht, das war freilich alles. Es brachte keine
Abhilfe. Und wer weiß, wie lange ich noch so existiert hätte. Nutzlos, dumm,
abgeschottet. Hätte nicht Helene angerufen. „Hallo, spreche ich mit meinem
Erfolgsautor in spe?“ Sie klang ausgeglichen, freundlich. Leichte Tendenz zur
guten Laune. Ich konnte mich nicht ohne weiteres darauf einlassen. Auf
sie, auf ihre Stimmung. Ich litt mittlerweile unter einer regelrechten Schreib-
und Korrekturblockade. Ich deutete es an, indem ich wortkarg blieb, mit
schwacher Stimme sprach. Schließlich sagte ich es. „Bin in einem Konflikt. Zu meinem
alten Manuskript habe ich derzeit keinen Zugang, und mit dem neuen komme ich
nicht weiter. Überhaupt finde ich alles trostlos.“ „Ja“, entgegnete sie ernst. „Das kommt vor. Bei
Schriftstellern. Nicht nur bei diesen. Bei vielen Menschen. Bei fast allen. Nur
Ihren Onkel würde ich dabei ausnehmen. Der geht konsequent auf seine Ziele los.
Aber sonst: Man hat sich schnell zwischen zwei Stühle gesetzt. Wenn’s nicht gar
drei sind. Und warum? Weil man eigentlich auf beiden hatte Platz nehmen
wollen.“ Sie überlegte. „Manchmal kann man allerdings nichts dafür. Da setzen
einen dann andere dazwischen.“ Und sie bot an: „Ich bin mir nicht ganz sicher,
ob ich in Ihrem Fall nicht ganz unbeteiligt bin. Bin ja total unverhofft in Ihr
Leben und Ihre Arbeit geschneit. Naja, nun komme ich ja übermorgen wieder nach Berlin.
Wir könnten uns treffen. Bisschen Ordnung reinbringen. Die Planungen konkretisieren.
Und deswegen hatte ich eigentlich angerufen.“ In der Tat, eine kluge Frau. Und Edward Erster? Ich erzählte es Tineke. Sie musste erst überlegen.
„Helene?“ Dabei hatte sie mich doch erinnert. Der Zettel mit der Adresse. Als
der Groschen gefallen war, war sie zuerst bestürzt. „Ich muss ja total
überarbeitet sein, dass ich das vergessen habe.“ Danach stimmte sie mir zu. „Wenn
sie dir hilft, dass du beim Schreiben Fortschritte machst, triff dich mit ihr.“
Wir saßen beim Frühstück, als sie das sagte. Es dämmerte fast noch, so früh war
es. Und das fürchterliche Wetter. Der Wind sauste durch die Straßen, er riss
noch und noch bunte Blätter von den Bäumen und trieb sie vor sich her. Herbst.
„Du wirst dich ja nicht gleich in sie verlieben.“ Sie hob den Finger, an dem
sie ihren Verlobungsring trug. „Schon deshalb nicht. Und die Verlobtenbehörde
hat dich sowieso immer unter Kontrolle. Sie haben einen Satelliten im Weltall.“ Ich lächelte müde. Ich erwiderte, Helene würde gut zu Edward
passen. Als Partnerin. Zu mir als Verlegerin. Ich wollte von dem Vorhaben
erzählen. Ein Verlag, in dem ich der erste Autor sein würde. „Ich muss noch duschen. Und Zähne putzen.“ Sie trank hastig
die Tasse leer. Sie sprang auf. „Irgendwann wird’s besser.“ Ich nickte, sie sah
es nicht. Das Wasser begann zu rauschen. Durch die halb offene Badezimmertür
rief sie: „Mein Gott, wie gern würde ich mal wieder mit dir verreisen.“ Sie
kicherte. „Und auf einer Waldlichtung endlich mal einem total scheuen Reh
gegenüber stehen.“
Helene
kam mit einem Korb. Er hing an ihrem rechten Unterarm. Da sie wegen des
regnerischen Wetters ein rötliches Kopftuch trug, sah sie ein bisschen wie
Rotkäppchen aus. „Ich habe gebacken“, sagte sie. „Kuchen.“ Oje, dachte ich, mit selbstgebackenem Kuchen sind immer
solche ungewollt aufdringlichen Selbstbeschreibungen verbunden. Scheidung,
Beruf, verkorkste Kinder, Sandbänke im eigenen Leben. Die gestrandete Flotte
aller hehren Vorstellungen und Ideale. Die unausbleibliche Präsentation des Sichselbstmutmachens. Ich kochte Kaffee, wir saßen in Tinekes Zimmer, das mittlerweile
zu meinem Lebensmittelpunkt geworden war. Der Kuchen schmeckte gut. Vielleicht hatte sie die unvermeidlichen
Fragen erwartet. Die Fragen, die zu diesem Kuchen gehören sollten. Das mit der
Scheidung und verschiedenem Unglück, zumal ich mich ja bereits gefühlsmäßig an
der Entlassungsmisere beteiligt hatte. Ich hätte die neue Recherche mit der
Frage einleiten können: „Backen Sie öfter?“ Und sie hätte vermutlich geantwortet:
„In letzter Zeit nicht mehr.“ Da ich die Frage aber nicht stellte, fing sie allein mit
der Geschichte an. „Meine Tochter ist jetzt aus dem Haus, sie lebt mit ihrem
Freund zusammen.“ Ich nickte freundlich. Schließlich fragte ich doch nach
den sonstigen Verhältnissen. Aus Anstand, aus neuerlichem Mitgefühl, wer weiß. Es kam das heraus, was ich erwartet hatte: geschieden,
die nächsten Versuche mit Männern missglückt. Nichts Ungewöhnliches also. Wenigstens
mit dem Zusatz: „Das ist jetzt aber durch, da müssen wir nicht drüber reden.“
Und ohne wesentliche Pause kam sie zum Grund unseres Kaffee-Kuchen-Treffens. „Also,
wir müssen unser Verlagsprogramm nicht auf Biegen und Brechen mit dieser
sizilianischen Geschichte starten. Falls es was anderes, was Besseres im
Erster’schen Angebot gibt. Woran schreiben Sie denn jetzt?“ Ich druckste. Ich wand mich. „Ich kann das schlecht erklären.“
Und als sie fragte, ob sie das, was ich bereits fertig hätte, mal lesen könne,
wagte ich nicht mal, sie anzusehen. Sie lächelte. „Ist es so schlecht?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Na ja, es klingt so unwahr.
Möglicherweise übertrieben.“ „Ach, unwahre, übertriebene Geschichten lesen sich oft am
wahrsten. Wahre Geschichten glauben die Leser dagegen oft nicht. Es hängt ja
auch vom Erzählvermögen des Autors ab. Um genau zu sein: Es hängt nur davon ab.
Von nichts sonst.“ Ich zierte mich dennoch. Erstens war die Geschichte nicht
fertig, zweitens hatte ich Angst, ausgelacht zu werden. Drittens, was war drittens? Nichts. Ich erklärte ihr die ersten beiden Gründe.
Sie biss in den Kuchen, trank aus der Tasse, auf der Jonathans
Name stand, und wohl nach einer halben Minute erwiderte sie dann: „Wenn Ihnen
ein Text peinlich ist, sollten Sie ihn gar nicht erst geschrieben haben. Was
als Buch erscheint, kann nämlich jeder lesen. Sie müssen als Verfasser dafür
grade stehen. Da gibt’s oft genug ganz gemeine Kommentare. Sie kommen hinten
rum oder klatschen einem direkt ins Gesicht. In drittklassigen Zeitungen, im
Internet. Jeder Wichtigtuer, der die Buchstaben auf der Tastatur auseinander
halten kann, kann sich das Recht herausnehmen, seine unqualifizierte Meinung in
einem Forum zu hinterlassen. Dagegen ist man machtlos. So sind Leute. Leser,
Neider. Besserwisser. Oder es passiert noch Schlimmeres: Keiner interessiert
sich für das Buch. Nicht mal Freunde, Verwandte. Es wird nicht mal in
Gesprächen erwähnt. Und wenn Sie fragen, hast du diese und jene Seite gelesen,
werden Sie auch als Mensch übergangen.“ Ihre Miene war etwas von Mitleid
gefüllt. Von der Frage, ob ich es überhaupt möchte: ein eigenes Buch. Doch, ich wollte es.
So geht es, wenn Sie mögen (oder du magst),
voraussichtlich
mit Kap. 65 und dem nächsten Teil des Romans auf community-Ebene 005 am 3.Juni 2020 weiter