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literatur GEGEN Gewalt und Extremismus


Die nachfolgende kostenlose
Fortsetzungsreihe erfolgt aus dem Roman

SEIN ERSTES BUCH
von Alexander Richter-Kariger

erschienen 2011 im
firstminute Taschenbuchverlag
540 Seiten
© alle Rechte beim Verlag




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V.  T E I L

D E R    E R N S T F A L L


Folge 65 vom 3. Juni 2020 

Nachdem Helene fort war, fühlte ich mich freier. Ich saß schon am nächsten Tag wieder vor der Tastatur. Es hatte sich ergeben, dass ich die Datei mit meinem Reisebericht geöffnet hatte. Tonya-001. Nein, nicht ergeben hatte es sich, ich hatte es gewollt. Nicht nur, weil ich die Story unbedingt vollenden wollte, ich befand mich ja noch mitten in der Schilderung des Gesprächs mit meinem Vater. Es beschäftigte mich. Ich schrieb mich schnell wieder hinein, ich rekonstruierte, ich erinnerte. Ich erlebte, fühlte abermals mit. Sehr intensiv.
   Das „Sizilianische Gericht“ hingegen beachtete ich nicht. Helene hatte es als durchschnittlich bezeichnet. Ich nahm ihr Urteil ernst. Ich fand mich jedoch nicht ohne weiteres damit ab. Es wurmte mich. Nein, nicht dass sie es so eingestuft hatte, durchschnittlich, wurmte mich. Ich wollte nicht ein Buch geschrieben haben, das durchschnittlich war. Ich wollte ein Buch vorweisen, das in die obere Liga gehörte. Nicht an den Verkaufszahlen gemessen. Aber vom Niveau her, von der Attraktivität. Und um ehrlich zu sein, auch ich fand den sizilianischen Inhalt nicht mehr ganz so spannend.
   Umso mehr bemühte ich mich mit dem neuen Werk. Kürzere Sätze, wenig Wiederholungen, keine Nebensächlichkeiten. Ich schrieb langsamer, ich überlegte während des Schreibens. Oder so gesagt: Ich las, während ich schrieb, schon mit. Als wäre ich der Leser, der dieses Buch in der Hand hielt und der den Text zum ersten Mal vor Augen hatte.
   Wie gesagt, es lief gut. Ich brachte den Dialog mit meinem Vater fast bis zum Ende. Da baute sich die nächste Blockade auf. Tineke wurde krank. Ein Anruf aus ihrer Krankenstation. „Ihre Verlobte ist ohnmächtig geworden. Könnten Sie bitte herkommen?“ Ich sprang in Jonathans altes Klapper-Auto, das nach langer Standzeit mühsam ins Rollen kam, und fuhr in die Klinik.
   Natürlich, mit dem Auto durch die Straßen der Hauptstadt, das dauerte länger, als in der U-Bahn zu fahren. Erheblich länger. Ich rechnete jedoch damit, Tineke nach Hause transportieren zu müssen. Oder zu sollen. Nun vergeudete ich noch Unmengen an Zeit mit der Parkplatzsuche. Alles besetzt, alles sowieso nur gegen Gebühren, alles mindestens zehn Minuten von der Klinik entfernt. Dazu die Frage, was ist mit der Kleinen? Herzschwäche? Kreislauf? Blinddarm? Krebs oder HIV? Querschnitts- oder partielle Lähmung? Ich rannte durch die Gänge, durch die ich sonst geschlendert war. Mit ihr. Scherzend, zuversichtlich. Nun spielte ich die komplette Palette an todbringenden Krankheiten und Verletzungen durch. Wenn nicht gar an Infektionen oder Seuchen.
   Da fand ich sie dann. In der Station für Allgemeines. Sagte man so? Allgemeines, das klang beruhigend und besorgniserregend in einem: Entweder sie hatte nichts Ernstes, was einem alle mal trügerisch erschien, oder sie hatte was Ernstes, man wusste nur nicht, was; vielleicht noch schlimmer: Man wusste es, die Ärzte trauten sich nur nicht, davon zu sprechen. Sie lag flach. Im Bett. Das Gesicht fast so weiß wie die Wäsche. Oder wenigstens wie die Wände. Nur die roten Lippen und die schwarzen Haare stachen abenteuerlich hervor. Und die Augen. Lebhaft und belebend. „Mensch“, sagte ich, „jetzt willste also ganz hier bleiben. Sonst warste wenigstens über Nacht zu Hause. Bei uns, in der Gedenkstätte.“ Sie heulte und ballte dabei schwach die Fäuste. „Sie haben nichts gefunden“, japste sie. „Nicht mal eine Schwangerschaft.“
   Mir rutschte prompt das Herz, das gerade wieder stabiler schlug, in die Hose zurück. „Das hatte ich nun überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt: Schwangerschaft, ein Kind. Wahnsinn. In meiner Situation. Erfolglos, unreif, ohne Einkommen.“ Ich tupfte ihr mit zitternder Hand die Tränen weg. Sie lächelte ein bisschen. „Kinder sind was Schönes. Und wichtig. Überall sieht man nur Olle.“ Ich streichelte ihr Gesicht. „Bist ja selbst noch ’n Kind. Und ich bin immerhin mittel und nicht oll.“ Sie seufzte. „Naja, ich könnte jetzt sowieso kein Kind haben wollen. Ich hatte so sagenhafte Fortschritte gemacht. Der Chef hat mich jeden Tag mehrmals gelobt.“ Sie richtete sich ein Stück auf. Ich entgegnete: „Wenn eine, die schon mal nicht eben korpulent ist, ewig rumrackert wie ein Pferd und dann kaum was isst und nur selten schläft, da muss die ja über kurz oder lang ganz einfach zusammenklappen. Dann sind die schönsten Fortschritte futsch. Man muss auch noch den letzten halben Meter vor dem Ziel überwinden. Mit voller Kraft. Alte Medizinerinnenweisheit.“
   Sie ließ sich zurückfallen. „Klugscheißer“, lästerte sie, und sie beschloss: „Du nimmst mich jetzt aber mit nach Hause!?“
   Ich kratzte nachdenklich meinen Hinterkopf. „Wenn mir vorher jemand zeigt, wie man eine Tropf-Kanüle in die Armbeuge torpediert.“
   Sie lachte spontan auf. Das Gesicht bekam dabei wieder Farbe. „Meine Laborwerte sind alle top. Keine Grippe, keine Entzündung. Es ist tatsächlich nur Erschöpfung, weshalb ich hier liege. Betreu mich gut, wenn ich zu Hause bin, dann sparen wir uns die Zwangsernährung.“  

Folge 66 vom 4. Juni 2020  

Ich schob Tineke in einem Krankenfahrstuhl durch den Flur. Sie hatte zunächst protestiert. Danach empfand sie es als ungewohnt, später als angenehm. Allerdings, am Aufzug begegneten wir ihrem Chefarzt. „Der kurze Kurz-Franzl“, raunte ich Tineke zu. Er war, in Begleitung von zwei Krankenschwestern, eine anderthalb Köpfe und eine nur einen Kopf – um genau zu sein: Kurz-Franzl-Köpfe – höher als er, auf einem Rundgang, den er nun unterbrach. Wegen uns. Er kam geradenwegs zum Aufzug, als sich dessen Tür öffnete. Ich wagte nicht einzusteigen. Höflichkeit, Respekt, Vorsicht. Karrierewarnung. Wie immer man so was nennt. „Ich sag’s ja immer wieder. Man soll uns Männer nicht unterschätzen. Was wir nicht alles für die lieben Frauen tun.“ Er schüttelte mir kräftig die Hand. „Aber Ihre Verlobte hat’s auch verdient, dass Sie sich so um sie bemühen.“
   Ich nickte verunsichert und wartete, er möge mich nun loslassen.
   „Hab schon gehört, dass Sie schriftstellerisch tätig sind.“ Er schüttelte noch mal kräftig, dann gab er meine Hand endlich frei. „Auf jeden Fall möchte ich mich schon mal für den Kauf des Werkes anmelden. Mit Widmung.“
   „Es ist das erste Buch.“ Ich lächelte schüchtern und dachte, na bitte, verkaufen wirst du also auch mindestens ein Exemplar. Und noch ein Leser, der fünfte.
   „Ihren Namen muss ich mir übrigens nicht notieren. Erster. Erstens kommt er ja nicht allzu häufig vor, und zweitens kenne ich Ihren Onkel. Edward. Er war mal Patient bei mir. Sehr speziell, der Mann. Sehr willensstark. Ausgezeichnete Konstitution. Aber immer knapp mit der Zeit. Und seine Schokoladenerzeugnisse – á la bon heur. Ja, und dann hatten wir mal noch einen anderen Erster auf der Station. Wie viele Jahre ist das her? Ein Jahrzehnt? Anderthalb? Egal, sehr lange jedenfalls. Der Mann hatte ein Schleudertrauma. Keiner hat uns verraten, wie es dazu gekommen war. Irgendwas stimmte nicht. Und er war nur ein paar Tage da, dann fuhr der Wagen eines noblen Privatkrankenhauses vor und holte ihn ab. Und seine komplette Krankenakte musste mit. Es hieß auch: Kein Wort über den Mann, keinen Mucks, sonst gibt’s Ärger! Ziemlich ungewöhnlich, oder? Und ziemlich eindeutig. Immerhin, dies sind Fälle, die sich nicht wiederholen. Daher prägen sie sich einem ein. Bis ans Lebensende werde ich das nicht vergessen. Irgendwie sickerte später ja auch durch, dieser Herr Erster verfüge über eine kaum messbar erhöhte Intelligenz. Und er gehöre zum internen Kader der europäischen Astronauten. Höchst spannend, aber etwas Konkretes konnte man nie erfahren. Geheimhaltung par Exzellenz.“ Er blickte mich an, als könne ich ihm irgendwelche Fragen beantworten. Erklärungen geben. Doch ich gab mich unbeteiligt, ich zeigte auf die Tür des Aufzuges, die sich erneut öffnete. Ich zeigte dorthin, und die Krankenschwestern mahnten zugleich den Chef zum Weitergehen, indem sie ihn noch um je einen Kopf – diesmal keine Kurz-Franzl-Köpfe – überwuchsen. Ganz plötzlich, sehr symbolträchtig.
   Er verabschiedete sich mit einem zweifelnden Blick. Als würde er etwas ahnen. Ernesto Erster. Nein, er ahnte nichts. Das, was war, wie es war, das ließ sich nicht erahnen. Nicht mal von einem klugen und lebenserfahrenen Chefarzt. Ich nickte ihm zu und dachte diese drei Namen: Ernesto, Tonya, Lurtz. Er nickte zurück, zu mir und zu Tineke. „Gute und schnelle Gesundung!“, wünschte er. Und ich sah nun auch wieder zu Tineke. Sie war während des kurzen Gesprächs in ihrem Krankenstuhl emporgewachsen und hatte große und leuchtende Augen bekommen. Größer und leuchtender als sonst. Und mir war klar, dass dieser Kurz-Franzl Tineke mit seinen Fragen aufgestachelt hatte. Das Frage-Vermutungs-Programm, es würde alsbald in Gang kommen.  

Erst mal jedoch schlief meine Verlobte. Bis zum Abend, bis zum Morgen, bis zum Mittag. Nein, es war kein gewöhnliches Schlafen, nicht mal ein Dauertiefschlaf. Es war die Vorstufe einer gerade noch abgewendeten Totenstarre, in der sich das menschliche Restleben durch schwache Atemzüge mühsam behauptete. Die Erschöpfung forderte ihren Tribut. Ich saß in Tinekes unmittelbarer Nähe und bearbeitete die Tastatur des Notbooks, ich schaute immerzu auf das Bett, auf sie. Sie rührte sich nicht. Nur als ich mich recht besorgt über sie beugte, sich mein Gesicht auf drei Zentimeter dem ihren näherte, nahm ich dieses leise Atemgeräusch wahr. Ein bisschen schienen sich auch ihre Lippen zu bewegen. Formten sie nicht gar ein Lächeln? Zaghaft, kindlich. Rührend.
   Ihre Nähe beruhigte mich. Dieses angedeutete Lächeln. Die gleichmäßigen, von meinem Platz aus eigentlich gar nicht mehr hörbaren Atemzüge. Es spornte mich beim Schreiben an. Ich weiß bis jetzt nicht, warum. Ich brachte eine Passage nach der anderen auf den Monitor, in die Datei. Ich beendete die Schilderung des Vater-Sohn-Gesprächs und dachte schon über einige unausweichliche Änderungen nach.
   Das war um ein Uhr nachts oder noch später. Da brach ich endlich ab, klappte die Kiste zu. „Und wo schläfst du selbst, Doktor Jerominus?“, fragte ich mich. Nicht neben und mit Tineke in einem Bett? Ich brachte das nicht fertig, es hätte die Erholung der Kleinen gestört. Meine auch. Ich hätte hier keinen Schlaf gefunden. Ich hätte steif dagelegen und nicht gewagt, mich zu bewegen, zu atmen. Weck sie bloß nicht auf, hätte ich gedacht. Immerzu.
   Und das Bett von Jonathan? Das war ja frei. Seit wie vielen Tagen, Wochen, Monaten jetzt? Frei, sauber, unbenutzt, bestimmt auch steril. Ich sah es – wie oft eigentlich – jeden Tag durch die geöffnete Tür. Trotzdem, und auch das kann ich nicht erklären, mochte ich darin keine Stunde liegen.

Folge 67 vom 5. Juni 2020

Ich ging in die Küche und klaubte die Polster von den Stühlen. Ich breitete sie neben Tinekes Bett auf dem Teppich aus. Auf dem Sessel lag ein Kissen und im Schrank noch eine Decke. Da verbrachte ich den Rest der Nacht einigermaßen zufrieden, und ich schlief erträglich. Um sechs weckte mich das Geräusch des Müllwagens. Vielleicht hätte ich mich an einem anderen Tag darüber geärgert. Jetzt geisterte sofort die Story, an der ich arbeitete, durch meinen Kopf. Was wollte, sollte, musste ich korrigieren, ergänzen, streichen, erneuern? Ich warf die Decke fort und saß schnell wieder am Notebook. Ich nahm mir diese eigentlich bestimmende Passage der unglaublichen Story erneut vor. Vater und Sohn im All. Begegnung auf dem Bildschirm. Ich ging Wort für Wort und Satz für Satz durch. In Ruhe, mit Überlegung. Ich starrte mitunter zehn Minuten auf dieselbe Textstelle, oder ich verließ den Platz und war längere Zeit in der Küche und im Bad. Ich goss Kaffee auf, wusch mich, röstete Vollkorntoastbrot, hörte langweilige Radiosendungen. Ich dachte dabei fast nicht an meinen Text, an notwenige Änderungen. Und dann kam ich zurück und veränderte trotzdem Teile der Story. Manchmal auch nur ein einziges Wort oder eine Zeile. Ich fegte dieses und jenes mit selbstverständlicher Leichtigkeit hinweg und ersetzte es mühelos durch neue Formulierungen.
   Und es tat der Story unheimlich gut.
   Natürlich verging keine halbe Stunde, in der ich nicht nach Tineke sah. Ihr Atem, der stärker geworden war. Manchmal bewegte sie sich leicht. Das war seit dem mittleren Vormittag. Leben, dachte ich, sie füllt sich, frischt, lädt sich auf.
   Dann die Post. Ich sah den Briefträger durch das Fenster. Der große Umschlag. Ich schöpfte augenblicklich die Vermutung, er sei für mich. Ich ging also zum Kasten. Genauer: Ich stürzte die Treppe hinunter. Zur Reihe der klapprigen Briefkästen. Mein Name stand neben dem von Tineke unter dem Schlitz. Tatsächlich, Post für mich. Erasmus Erster. Post von Helene, meine künftige Verlegerin. Ihre Adresse auf der Rückseite des Briefs. Ich konnte mich nicht beherrschen und riss den Umschlag auf, bevor ich noch den Briefkasten verschlossen hatte. Mir fiel ein Brief von mindestens drei Seiten in die Hände, dazu das Manuskript. Ich begann sofort zu lesen. Aber da kam die Frau aus der Wohnung über uns in den Hausflur. Zwei Hunde, die Nässe und vielleicht Flöhe von sich schüttelten. Unerwünschte Freundlichkeit, Herzausschüttungen, Haustratsch. Ich wollte flüchten. Stand schon auf der halben Treppe, sie folgte, die Hunde quengelten, der Redeschwall schwoll: Steigende Fahrpreise, leere Parteienversprechungen vor der Wahl, Steuern, Einkommen, Renten. Ein Bürgermeister, den sie nicht leiden mochte. Nicht leiden, weil er nicht, sondern weil er so war wie er war. Oder nicht? Oder doch? Wie nun?
   Ich hatte den Zwangsdialog immerhin bis einen halben Meter vor unsere, meine Wohnungstür hochschleppen können. Ich starrte zielstrebig auf die Tür, die Klinke, das Schloss, den Schlüssel. Endlich stand ich auf der Schwelle. „Oje, ich glaube, das Kaffeewasser kocht über.“
   Danach lehnte ich mit dem Rücken an der Innenseite der Wohnungstür. So schlimm, dachte ich, nimmt einen nicht mal die Verlobtheitskontrollbehörde in die Mangel. Oder wie hatte Tineke dieses gefürchtete Organ bezeichnet? Rhön-Polizei? Auf jeden Fall: Vorsicht, heute und immer.  

Helene hatte nett geschrieben. Gelobt. Geschwärmt. Für dieses Manuskript. Welch ein solide umgesetzter Einfallsreichtum. Man könne beim Lesen den Eindruck gewinnen, ich sei wirklich dort gewesen. Im All. Auf dem Raumkreuzer. Und mein Vater, das Genie mit der Ausnahmeintelligenz, sei keine Erfindung.
   Es folgte die Einschränkung. Sie wolle zunächst die weitere Schilderung abwarten, ehe sie sich endgültig äußere. Es war bisher ja nur das halbe Buch. Viele Autorinnen und Autoren scheiterten an einer kompatiblen Pointe zu einem mitunter fulminanten Auftakt. Und ohne Homogenität, ohne Pointe kein Meisterbrief. Kein Meisterautor.
   Mittlere oder gar untere Liga?
   Na ja, dachte ich, schön und gut, dieses erste Lob. Einfall, Erfindung, kompatible Pointe. Homogenität. Nur, was stellte sie sich vor als Schluss? Dass ich auf dem Raumkreuzer bliebe und die Reise in die ferne Galaxie mitmachte? Dann hätte ich ja nicht hier sein können. Die Story wäre nicht geschrieben worden. Der Schluss, die Pointe schon mal gar nicht. Jedenfalls nicht von mir.
   Oder sollte sie Tonya übermittelt haben? Über Satellit, per Zeitstaffel. Egal wie.
   Da saß ich wieder. Wieder vor dem Notebook. Einen weiteren Briefbogen neben mir. Helene hatte darauf vereinzelte Korrekturvorschläge, die sowieso höchstens Nachdenkanregungen sein mochten, unterbreitet. Auf der anderen Seite ein Pott Kaffee, der mich nicht belebte. Das heißt, er drehte mich nur noch mehr auf. Meine Gedanken kreisten. Ich fand in ihnen keine Mitte. Ich starrte auf den Schirm des Notebooks, Maschine oder Rechner genannt. Ich starrte auf den Dampf, der vom Kaffee aufstieg, ich starrte auf das Papier. Immer starrte ich. Oder etwa nicht? Wie viele Stunden, mittlerweile Tage, hatte ich seit dem Einzug in die Wohnung meiner Verlobten gestarrt? Auf den Monitor, auf die Wände, durch die Fenster. Und in mich hinein.
   Keine Ahnung. 

Folge 68 vom 6. Juni 2020

Endlich wachte Tineke auf. War sie wirklich wach? Ihre Augen hatten sich zumindest geöffnet. Kulleraugen. Sie rollten ein bisschen, blickten überall hin. Wie bei einem Baby, das soeben geboren worden ist und nun wissen möchte, was es auf dieser Welt zu entdecken gibt. Langsam nur nordeten sie sich in den neuen Tag, die aktuelle Situation ein. Schließlich sagte sie: „Ich müsste längst auf der Arbeit sein. Oder?“
   Ein Reflex? Gedanklich, gefühlsmäßig? Halb geträumt, antrainiert? Pflichtgeprägte Mechanik. Ich schüttelte den Kopf. „Ohne Schlafen, ohne Essen – kannst’ die ganze Welt vergessen.“ Sie seufzte. Doch sie war völlig gelassen. „Wie Recht du hast, mein Lieber. Man rackert und quält sich, und schließlich liegt man flach, und alles war umsonst.“
   „Nein“, erwiderte ich. „Niemals ist etwas umsonst. Jedenfalls nicht, wenn man seine Lehren daraus gezogen hat.“
   Sie seufzte erneut. Sie sah neben das Bett, wo sich die Reste meines heillos zerwühlten Nachtlagers befanden. „Wie romantisch.“ Sie kicherte. „Und wie ritterlich. Du hast meinen Schlaf nicht nur nicht gestört, sondern mich auch verteidigt. Ja, ich hatte gleich so einen Verdacht, dass die Hantschuloko-Gang einen Anschlag auf mich plant. Schön, dass du das verhindern konntest. Hoffentlich kannst du deine Heldenhaftigkeit durch ein paar Blessuren beweisen.“ Sie rückte umständlich auf den Rand des Bettes zu und zeigte auf den frei gewordenen Platz neben sich. „Wenn du nun noch niederkniest und mir ein Minnelied klimperst, darfst du dich anschließend neben mich legen.“
   Ich verließ meinen Platz und kniete vor ihrem Bett. Und ich sang, nein, ich krächzte: „Butterfly, red, white and blue …“
   Sie unterbrach mich. „Mit dieser fürchterlichen Stimme wirst du mein Herz nie erobern.“ Doch sie lächelte und räumte ein: „Musst du allerdings nicht, denn du hast es ja schon.“ Sie hob den linken Ringfinger. Ich trage nämlich dieses wunderbare Symbol der Liebe. Verlobt. Behördlich gemeldet, eingetragen. Unanfechtbar.“
   Ich kletterte ins Bett, wir lagen nebeneinander. Wir schauten abwechselnd zur Decke und uns gegenseitig in die Augen. Es war so schön. So wie lange nicht. „Das tut jetzt mal richtig gut“, sagte Tineke.
   „Auch wenn nun Menschen, schwerkranke Patienten, leiden müssen, weil du ihnen nicht die schmerzenden Leiber aufschneiden oder sie von lästigen Furunkeln und bedrohlichen Melanome befreien kannst?“, fragte ich mit leichter Häme.
   Sie richtete sich auf, sie beugte sich über mich. „Wir müssen uns auch Zeit für uns nehmen. Endlich wieder. Sonst kriegen wir Ärger.“
   Ich dachte, sie würde mich küssen, aber sie fiel zurück auf ihr Kissen. Sie seufzte schon wieder. Sie sagte: „Geht aber wohl nicht, weil du ewig vor deinem Notebook sitzen musst.“ Es klang nicht vorwurfsvoll, zumal sie hinzufügte: „Wäre ja schön, wenn die Story bald mal fertig ist. Damit ich sie lesen kann. Was sagt denn Helene?“  
   Ich überlegte, was ich ihr von Helene erzählen sollte. Und was ich ihr schon von ihr erzählt hatte. Von ihrem Besuch, ihrem Brief. Von den Folgen: meine neuerliche Schreibblockade, eine gewisse Verunsicherung. Es wäre zugleich das Eingeständnis, dass schon jemand vor ihr das Manuskript zu lesen bekommen hatte. Ich erinnerte mich nicht mehr, ob ich Tineke das versprochen hatte: „Du wirst die Story als Erste lesen.“ Ich umging die konkrete Auskunft. „Ich schätze, ich bin in zwei Wochen mit der Rohfassung fertig.“  
Tineke fragte nachher nicht mehr. „Es ist in Ordnung“, hatte sie beschlossen. „Ich brenne zwar auf diese Story. Aber ich werde nicht quengeln. Das könnte deine Arbeit negativ beeinflussen. Ich verlasse mich halt auf dich. Vielleicht schaffst du es bis zu unserem nächsten Verlobt­heits­ju­bil­äum.“ Ich wusste nicht, wann das sein würde. Ich fragte: „Meinst du das mit 66 oder das mit 99 Tagen?“ Sie zog an meiner Nase, sie umarmte mich dann. „So lange, wie das jetzt her ist, geht es nicht mehr nach Tagen. Nicht mal nach Wochen. Wir gehören inzwischen eher zu den Oldies, den Klassikern. Es geht nach Monaten. Oder: Nach Jahren. Bald ist ein Vierteljahr rum!“ Sie sah mir bedeutungsvoll in die Augen. Ich rechnete. Ich zählte. Ich kam nicht drauf. Wie weit lag die Verlobung zurück? Lange, und diese Tendenz stimmte allemal.
   Noch eine andere Tendenz, die eine Tatsache war, stimmte. Tineke sagte es, nachdem sie die Umarmung beendet hatte und zum Bad ging. „Weißt du eigentlich, dass wir schon ganz lange nicht bei meiner Henriette waren? Ich habe seit eben unheimliche Sehnsucht nach ihr.“ Ich nickte. „Und bei meinem Edward und deinem Jonathan waren wir ja auch lange nicht.“
   „Mein Jonathan? Von wegen. Dein Jonathan! Dein Freund.“ Sie kicherte, sie feixte. Sie verschwand im Bad. Ich sah durch den Türspalt, den sie wieder offen ließ, wie sie in die Dusche kletterte. Ich stieß die Tür ein Stück weiter auf. Ich fragte: „Sag mal, Kleine, als du hier mit Jonathan gewohnt hast, mit meinem Nebenbuhler also, so alleine, sag mal, hast du da die Badezimmertür beim Duschen auch immer offen gelassen.“ Sie schnappte sich ein Handtuch und hielt es demonstrativ vor ihren Körper. Sie fauchte: „Vielleicht sogar auch die Wohnungstür, he?“ Fast schon im selben Moment traf mich eine Ladung Duschgel im Gesicht. „Bäh!“, rief ich, und sie fauchte nochmals: „Wenigstens würde Jonathan niemals vor der Badetür gelungert haben. So wie die Spanner, die sich Schriftsteller nennen und sich den restlichen Tag vor ihrem Computer den Hintern breit sitzen.“ Ich ging zum Waschbecken und wusch das Gel aus meinem Gesicht. Tineke lachte schon wieder. Sie hatte die Tür der Duschkabine wieder zugezogen. Das Wasser brauste und rauschte. Die Glasscheiben beschlugen. Sie trällerte plötzlich. Es war Red, white and blue. Und sie zog die Tür ein Stück zurück und schaute zu mir heraus. „Natürlich habe ich sonst die Badezimmertür immer zugemacht. Und wenn ich’s mal vergessen haben sollte, kannst du sicher sein, dass Jonathan sie selber rasch geschlossen hat. Von außen. Weil er nämlich kein Spanner ist.“ Sie sang wieder. „You love flowers, I love you“, während ich mir das Gesicht und die Hände abtrocknete. „Bei dir ist das mit der offenen Tür etwas anderes. Im Handbuch der Verlobtheit steht unter Paragraf zwölfhundertnullsieben, Absatz drei eff, dass dieselbe, womit nur die Tür gemeint sein kann, unter bestimmten Voraussetzungen einen Spalt offen zu lassen ist. Bestimmte Voraussetzungen heißt beispielsweise: die totale Erschöpfung der besagten Verlobten. Sollte ich also unter der Dusche oder beim Abtrocknen unverhofft umfallen, hat der vor der Badezimmertür herumlungernde Verlobte das unverzüglich festzustellen und mich noch unverzüglicher medizinisch zu versorgen. Kapiert?“
   Ich bejahte. Ich ergänzte: „Und natürlich hat der Verlobte anschließend ein Protokoll anzufertigen, das noch anschließender bei der Verlobtheitsbehörde einzureichen ist. Äh, wo befinden sich die Formulare, in die ich den kompletten Vorgang einzutragen habe? Im Kühlschrank oder im Fach, wo das Klopapier lagert?“  

Folge 69 vom 7. Juni 2020

Wir alberten, wir schliefen, wir entspannten uns. Tineke erholte sich ausgesprochen schnell. „Ich bin eigentlich wieder fit“, versicherte sie mir. Dennoch blieben wir bis in den übernächsten Vormittag fast nur im Bett. Tineke vor allem. Ich hingegen saß, wenn sie eingeschlafen war, vor dem Notebook. Ich schrieb, es ging jetzt gut, es schüttete, es raste quasi aus mir heraus. Einfach, weil ich auch bei dem Rest der Story bei der Wahrheit blieb. Ich schilderte meine Rückkehr aus dem All, aus der Bodenstation. Flugzeug, Ural, schwarze Limousine, Hauptstadt, Wohnung. Bargeld, Ringkauf, Verlobung. Ich schrieb die lustigen Gespräche mit Tineke auf. Ich berichtete von unserer Verlobung, von der Kantemus-Klinik, von Hantschuloko. Dann die Sonnenbrille, der Raumanzug. Ich musste mitunter fürchterlich grinsen, weil mir manche der Wahrheiten, mancher Dialog so richtig amüsant, so phantastisch und so absolut erfunden vorkamen.
   Und doch war es ja kein bisschen erfunden.
   Unversehens geschah es, dass mir Tineke, wenn sie mich heimlich beobachtet hatte, mit ihren Fragen und Bemerkungen auf die Pelle rückte. „Es treibt mich ehrlich gesagt zum Wahnsinn, wenn ich das sehe. Du klapperst wie ein Besessener auf der Tastatur dieser schäbigen Maschine herum, du kicherst und du grienst dabei wie eine hinterhältige Hexe vor dich hin, und ich arme Mutti sterbe vor Neugier, weil ich keinen Schimmer habe, was du auf dieser elenden Festplatte für eine turbulente Story ablädst. Wie lange soll das noch so gehen?“ Sie ballte dann die Fäuste und trommelte damit auf die Bettdecke ein. „Entweder du kommst so schnell wie möglich zum Ende der Story oder –.“ Mit dem Oder zögerte sie zunächst. Schließlich beschloss sie: „Oder ich nehme morgen eine Woche Urlaub, und ich fahre für ein paar Tage nach Hause. Allerdings in deiner Begleitung.“ Sie kicherte gleich wieder freundlich, sie sah mich an. Sie fügte hinzu: „Ich halte das sowieso nicht mehr lange ohne meine Henriette aus. Glaub ich zumindest.“
   Und ich? Naja, irgendwie hatte auch ich eine gewisse Sehnsucht. Henriette, Edward, Jonathan. Die Küste. Die schöne Luft, die schöne Ruhe. Das schöne Wenig. Oder das viele fast Nichts. Das viele stumme Grün. Der Wind, der Regen. Die ollen Blök-Schafe. Ich wollte sofort anrufen und all den Lieben unseren überfälligen Besuch verkünden. „Wart’ mal noch“, rief sie. „Ich kann ja nicht einfach sagen, ich nehme Urlaub. Noch dazu von dann bis dann. Ich muss ja vorher in die Klinik und einen Antrag ausfüllen. Und der muss auch genehmigt werden.“ Sie sah mich bedeutungsvoll an. „Leider ist diesmal nicht die Verlobtheitsbehörde zuständig. Das ist jetzt Wirklichkeit.“ Und: „Fändest du’s nicht sowieso besser, wenn wir unangemeldet fahren? Wegen der Überraschung. Oder falls wir unterwegs mal etwas länger rasten möchten.“
   Ich dachte an das superscheue Reh. Würden wir eine Lichtung finden, auf der es uns gegenüberträte? Dieses fremdartig sprechende, wunderbare Glück bringende Wald- oder Wildtier, das nicht nur auf Lichtungen, sondern auch in Kreuzworträtseln vorkam.  

Tineke versprach, sie würde das Projekt Urlaub am nächsten Tag in Angriff nehmen. Sie setzte das Versprechen um, sie triumphierte über die noch leicht wackligen Beine und fuhr in die Klinik. Mit der U-Bahn. Mit mir. Und mochte sie während der Fahrt auch noch ein bisschen an meine Schulter gelehnt schlummern und sich während des ersten Stück Weges an mir festhalten, so wuchs sie nach Betreten des großen Gebäudes schon wieder empor und legte von Flur zu Flur, von Treppe zu Treppe sichtlich an Tempo und Entschlossenheit, vor allem an Vitalität zu. Sie gestand: „Ich merke jetzt erst, wie ich das alles in den letzten Tagen vermisst habe. Meine Arbeit. Mein Leben.“
   Ihr Leben. Das Bekenntnis war ein Signal. Für mich. Ich ahnte, nein, ich wusste, was geschehen würde. Sie verschwand hinter der besagten Glastür und kehrte lange nicht wieder. Wie lange? Mindestens war es eine halbe Stunde. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass nach dieser halben Stunde genau jener Fall eintreten würde, mit dem ich gerechnet hatte. Der Ernstfall. „Jerominus, mein Lieber, es ist etwas passiert.“ Sie kicherte diesmal nicht, sie lächelte auch nicht. Aber sie sah nett aus, freundlich. Süß. „Ja“, erwiderte ich, „ich weiß, dass etwas passiert ist, ich weiß sogar, was. Du wirst keinen Urlaub nehmen, es sind unerhörte Aufgaben, die in der Station erledigt werden müssen. Von dir. Epochal einmalige Herausforderungen.“ Sie umarmte mich heftig. Sie flüsterte: „Diese deine Großzügigkeit bringt uns beide sehr weit voran. Wir melden das bei der Verlobtheitsbehörde, und dort werden wir mit großer Sicherheit in die A-Klasse aufgenommen. Du weißt, was das bedeutet?“
   Nicht so richtig. Um genau zu sein: gar nicht.
   „Sie löschen unser komplettes Minusregister. Sämtliche anstehenden, belastenden Buß- und Strafaufträge. Dieselben werden also nicht in den Vollzug überführt. Deine zumindest, denn ich habe ja keine. Ich habe mir ja nie was zu Schulden kommen lassen. Danke. Aber warte noch mal, bevor du jetzt gleich gehst.“ Sie verschwand hinter der Glastür. Und sie kam nicht wieder. Wieder nicht. Erst nach mindestens zehn Minuten war sie da. Jetzt schon im Arztkittel und mit dienstlichem Gesicht und hochgesteckten Haaren. „Es ist wegen meiner Henriette. Kannst du mir einen Gefallen tun? Fährst du mal hin? Zwei oder drei Tage. Erklär ihnen dort, was hier auf mich einstürmt. Und wie ich auf alles einstürme.“ Sie legte ihre Arme um meinen Hals, sie sah besorgt aus.

Folge 70 vom 8. Juni 2020 

„Ich hab so ein komisches Gefühl. So als würde zu Hause nicht alles stimmen.“
   Ich knirschte und knurrte. Ich dachte: Mit Henriette? Dann fragte ich: „Soll ich angemeldet oder unangemeldet fahren?“
   Sie sah mir tiefernst in die Augen. „Entscheide das diesmal du.“ Doch sie überlegte und entschied: „Fahr einfach hin. Nimm Jonathans alte Schrottkarre und mach dich auf den Weg. Auf diese Art kannst du sie dort überraschen. Sie haben dann auch keine Gelegenheit, sich zu verstellen. Oder was zu vertuschen.“
   „Und alles andere?“, fragte ich. „Was beispielsweise wird aus dir? Wer bringt dich morgens zur Arbeit und holt dich abends ab? Wer bezieht Posten vor der Badezimmertür, wenn du duschst und diese vielen Spanner im Hausflur rumlungern?“ Sie schüttelte den Kopf. Sie wiegelte ab. „Ich versuche mich durchzuschlagen. Unauffällig und geschickt. Ich versuche zudem jedem Risiko aus dem Wege zu gehen. Und an die Badezimmertür hänge ich von außen ein Foto von dir. Und einen Zettel. Auf dem steht dann: Hier wacht der gefürchtete Doktor Jerominus. Der Ent-Spanner.“
   Ich war beruhigt. Nein, nicht wirklich. Ich begriff jedoch, wie albern es war, sich Sorgen zu machen. Albern und kindisch. Und unnütz. Ganz überflüssig. Tausende und mehr Menschen fuhren jede Stunde in der U-Bahn. Vom frühesten Morgen bis nach Mitternacht. Niemandem geschah etwas. Außer Tineke hatte es in den letzten Wochen keine junge Frau gegeben, die an jedem Tag morgens von ihrem Verlobten, einem Schriftsteller, zur Arbeit gebracht und abends von ihm abgeholt wurde. Wie ein armes Kind, das seinen Tag in der Kinderkrippe zubringt. Ich ging heim, ich packte meine Tasche. Ich saß danach vor dem Notebook. Bis Mitternacht saß ich. Wahrscheinlich sogar länger. Ich schrieb. Wieder gut, wieder flüssig. Ich wartete auch, auf Tineke. Um genau zu sein: Ich wartete, dass sie mich anrief und sagte, sie habe in einer halben Stunde Feierabend. „Du holst mich doch dann ab?“ Sie rief nicht an. Doch um ein Uhr rumorte es im Türschloss, sie kam. „Puh.“ Sie wirkte aufgekratzt, kein bisschen erschöpft oder müde. „Schön, dass du nicht gleich gefahren bist. Kann ich dir noch erzählen, was heute so los war. Tut mir gut, glaub ich. Sonst krieg ich mit Sicherheit vor morgen früh kein Auge zu. So wie mich das aufgewühlt hat.“ Sie lief ein paar Mal durch das Zimmer. Sie setzte sich und erzählte von einer riesigen Darmoperation. „Fast einen halben Meter, den wir wegnehmen mussten. Total abgestorben und fortgeschritten perforiert. Glaub mal, die Patientin hätte mit weniger Glück – und mit weniger Können der Ärzte, einer Ärztin ganz besonders – den OP-Saal vielleicht nicht mehr lebend verlassen. Und“, sie sprang noch mal aus dem Sessel empor, „du kannst dir ja bestimmt denken, was der Professor hinterher zu mir gesagt.“
   Konnte ich? „Er hat dich gelobt! Und bestimmt hat er deinen Einsatz in der Kurz-Franzl-super-Kladde eingetragen.“
   Sie seufzte genervt. „Gelobt! Mein Gott, er lobt mich dreimal pro Stunde. Oder vier- oder zehnmal. Und vielleicht hat er es auch eingetragen. Was weiß ich, in welcher Kladde. Der Kurz-Franzl. Er hat aber heute quasi auch Neuland erschlossen. Er hat gesagt, er hat das noch nicht erlebt, dass jemand in meinem Stadium so umsichtig und geschickt arbeitet. So wie ich. Wie ein Arzt mit jahrelanger Erfahrung.“ Sie blieb vor mir stehen, sie fasste mich bei den Schultern. Sie sagte: „Er hat auch gesagt, dass es bei mir mit dem Facharzt-Abschluss nicht so lange dauern wird wie üblich.“
   Ich nickte. „Wegen deiner guten Entwicklung. Wegen der gewaltigen Fortschritte.“ Ich versuchte staunend und erfreut auszusehen. Und ich vermochte nur mit Mühe nicht zu gähnen. Da sie enttäuscht reagierte, sagte ich wenigstens: „Super. Ich werde das deiner Henriette erzählen. Es würde bedeuten, du bist eher wieder bei ihr. Für immer dann. An der Küste.“
   Sie schüttelte den Kopf. Ihre Miene wurde nachdenklich. Oder sogar verzweifelt. „Erzähle ihr so was mal nicht. Ich weiß gar nicht, ob ich dorthin möchte. Für ewig. Für den Rest meines Lebens. Jetzt noch. Wo es so klasse läuft. Wo sich mir hier so allerhand Perspektiven eröffnen. Und dann dort in die Einöde zurück und da arbeiten. Als Landärztin.“
   Dieses Als Landärztin klang wie eine Degradierung. Wenn nicht wie ein Schimpf. „Verstehen kann ich das“, erwiderte ich. „Es ist gewiss kein Vergleich mit den jetzigen Aufgaben. Immer nur Rückenschmerzen behandeln, vielleicht mal eine eklige Eiterbeule aufstechen, Grippeschutzimpfungen. Ab und an einen Totenschein ausstellen. Und die ernsthaft Kranken ins Krankenhaus einweisen, wo sich andere Mediziner um sie kümmern. Fachkräfte.“
   Sie schwieg, sie sah unschlüssig aus. Sie entschied: „Wir schlafen jetzt erst mal.  

Am nächsten Morgen verließ sie das Haus erst um acht Uhr. „Wir haben neue Regelungen getroffen. In der Station. Zeitlich. Arbeitsmäßig. Es wird leichter. Für mich.“ Sie lehnte vehement ab, als ich ihr meine Begleitung anbot. „Das war immer nett von dir, und es hat mir eine Weile wirklich Sicherheit gegeben. Jetzt muss ich selbständig werden. Andere Erwachsene werden auch nicht von anderen Erwachsenen zur Arbeit begleitet und abgeholt. Oder wusstest du das nicht?“
   Doch, schon, ich wusste es. Ich hatte ja selbst darüber nachgedacht. Nur darüber gesprochen hatte ich nicht. Mit ihr.
   Eine Umarmung.
   Ich blieb zurück. Sichtlich ratlos, ein bisschen unbeholfen.
   Ich flüchtete mich in simple Beschäftigungen. Ich lüftete die Duschkabine. Ich trank den restlichen Kaffee. Ich las in der Tageszeitung die Überschriften und sah die Fotos an. Ich langweilte mich. Ein Nutzloser.
   Würde ich nicht fahren, heute, jetzt? An die Küste. 

Folge 71 vom 9. Juni 2020 

Nein. Es zog mich zur Tastatur. Ich schrieb wieder. Ich sprühte noch mal. Ich näherte mich dem Ende der Story. Das heißt, ich wusste irgendwie nicht, wo dieses Ende war. Wo es sein musste. Vielleicht hatte ich es schon übertreten. So wie Eisenbahnen ein auf Rot gestelltes Signal überfuhren. Nein. Ich war mit dem Erzählen fast in der Gegenwart angekommen. Um die Story abzuschließen, brauchte ich etwas Herausragendes. Ein Signal, der Vergleich mit der Eisenbahn war nicht mal unpassend. Was für ein Signal?    Ich dachte an Tonya, an meinen Vater. An den Raumkreuzer. Von dort muss ein Signal kommen, dachte ich. Wenn du das hast, schließt du die Story ab. Genauer: Dann ist sie abgeschlossen. Dann hat sie sich von selbst abgeschlossen. Worin jedoch bestand dieses Zeichen? In der Geschichte, in der Wirklichkeit. Während ich da saß, grübelte, mich ärgerte und Trübsal blies, meldete sich das Telefon. Es war Helene. Kurz vor dem Mittag. „Na, wie geht’s meinem Zugpferd unter den Autoren? Alle Korrekturen eingearbeitet? Oder alle verworfen?“
   „Die meisten eingearbeitet“, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Danach versuchte ich es mit Smalltalk. Es half nicht. Nicht mir. Also erzählte ich von dem Problem. Vergebliche Suche nach einem Ende der Story, Warten auf ein Zeichen, ein Signal, etwas Über- und Außerirdisches. Sie tröstete mich zunächst. „Die Idee ist gut. Das Ende auf sich zukommen lassen. Oft wollen es die Autoren mit Gewalt zurechtbiegen. Das misslingt fast immer. Bitte nicht versuchen, einen guten Schluss zu erzwingen. Lieber mal eine Pause einlegen. Mal wegfahren. Wie sieht’s denn aus mit einem Besuch bei Ihrem Onkel? Bei der Großmutter Ihrer Freundin. Das könnte helfen.“   „Tineke ist meine Verlobte. Schon seit mehreren Monaten“, verbesserte ich und bemerkte den Verdacht in mir, den ich vormals gehabt hatte: Sie ist ihm auf den Fersen, Edward Erster. Ich soll ihr Sprungbrett sein.
   „Ich könnte mitkommen, wir reden unterwegs über die Story. Womöglich finden wir den Schluss gemeinsam. Womöglich stehen wir viel näher vor einer Veröffentlichung des Buches, als wir glauben.“ Kurze Pause, dann: „Hatten Sie nicht ohnehin vor hinzufahren?“ Hatte ich davon gesprochen? Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste aber, ich wollte es nicht. Nicht mit ihr fahren. Ich wollte allein sein. Allein fahren. Ich wollte allein nach dem passenden Ende für meine Story suchen. Ich würde es allein finden. Sie würden mir das Zeichen schicken. Tonya, Ernesto, Lurtz. „Ich kann derzeit nicht hier weg. Meine Verlobte ist nicht auf dem Posten.“ Sie erkundigte sich nach Tinekes Gesundheit. Ich antwortete fadenscheinig. „Sie hatte einen bedenklichen Schwächeanfall. Wenn da keiner aufpasst, übernimmt sie sich. Sie isst und trinkt zu wenig. Und sie schläft nur ein paar Stunden.“ Ich atmete ein sorgenvolles Gefühl durch die Leitung und wich dann wieder auf Smalltalk aus. Nun doch. Für fast zehn Minuten. Da war das Gespräch festgefahren. Gesprächsstau. Kreisverkehr. Rote Ampel, rotes Signal.
   „Also, falls Sie fahren wollen und ich Sie begleiten soll, genügt ein Anruf.“
   „Erst mal bleibe ich hier. Auf Ihr Angebot komme ich irgendwann zurück. Danke.“  

Ich fuhr. Es war zwei Tage nach diesem Telefonat. Nein, nicht ganz zwei Tage. Es war am zweiten Tag danach. Ich brachte Tineke morgens mit dem Wagen in die Klinik und fuhr zur Autobahn weiter. Ohne noch mal in die Wohnung zurückzukehren. „Ich werde dich vermissen“, versicherte sie. Es war ehrlich. Sie umarmte mich. Weil es im Sitzen geschah, kam sie mir gar nicht richtig nahe. Stattdessen verdrehte sie ihren Körper. Sie klagte. „Warum hat dieser arme Wicht von einem verkappten Schach-Genie nicht wenigstens bequeme Drehsitze in seine Schrott-Karre einbauen lassen? Wenigstens das.“ Murrend ließ sie sich in die angenehmere Pose zurückfallen. Sie saß. Sie drehte mir das Gesicht zu. „In mir kämpfen diverse Seelen. ‚Fahr mit!’, rufen die einen wie verrückt; und ‚bleib hier und werde die superste Ärztin, die es jemals gab’, säuseln die anderen, diese Sirenen, mit den allersüßesten Schokoladenzungen.“
   Ich stand mit dem Wagen vor dem Klinikum. Totales Halteverbot. Freihalten für Notfallwagen stand gleich auf mehreren Schildern. Schon drängten von hinten und von der Seite irgendwelche Karossen auf den unerlaubt benutzten Stellplatz. Einsatzfahrzeuge, wichtige Arzt-Chauffeure. „Lass uns diesen Abschied nicht zu theatralisch geraten, Kleine“, schlug ich etwas nervös, auch bedrückt vor.
   Sie lächelte. „Du hast immer im passenden Augenblick die passenden Worte, Doktor Jerominus. Dafür liebe ich dich ganz besonders.“ Sie beugte sich nun doch noch mal zu mir herüber und versah mich mit einem nassen Kuss. „Mach’s gut. Und wenn du unterwegs bei einer Rast ein scheues Reh, das uns Glück wünschen will, auf einer einsamen Lichtung siehst, so sag ihm, es soll warten. Erklär ihm, dass scheue Rehe nur für Paare Glück bringen. Und bald komme ich nach. Oder irgendwann. Oder du kommst zurück. Oder ich hole dich ab. Oder mich du. Naja.“ Jemand betätigte hinter oder neben uns die Hupe. Tineke drehte sich um. „Dieser Blödmann!“, rief sie. Sie war verwirrt. Weniger wegen des Hupens. Sie sprang aus dem Auto. Sie winkte mir noch einmal in die geöffnete Tür und warf mir betont fröhlich eine Kusshand zu. Ihre Augen jedoch schwammen. Sie schmiss schnell die Tür zu. Es krachte. Ich dachte: Wie bei einem Trabi. Sie drehte sich um und stolzierte los, ohne noch einmal zurückgeschaut zu haben. Erst als ich den Wagen zwischen den nachdrängenden Fahrzeugen auf die Straße manövriert hatte und in den Rückspiegel schaute, sah ich sie vor dem Eingang stehen. Sie wartete, bis ich abgefahren war, und das machte mich froh und wehmütig in einem.

Folge 72 vom 10. Juni 2020 

Ich hupte dreimal laut, was angesichts der Nähe des Krankenhausgebäudes strikt verboten war und ein saftiges Bußgeld hätte einbringen können. Es geschah aber aus Liebe und war somit nicht unbedingt mit einer Bußgeldverpflichtung verbunden. Ich seufzte etliche Male ausgesprochen tief und schmerzerfüllt. Und ich fühlte, wie sich in mir irgendwelche Herzmuskeln zusammenzogen und dann keinerlei Anstalten machten, sich wieder zu entspannen. Trennungsschmerz, Lie­bes­leben. Wie albern. Wie wahr, wie lebendig.
   Wie erfreulich.
   Ich fuhr, bis ich außer Tinekes Sichtweite war und hielt den Wagen mit halber Spur auf dem Radweg. Umständlich fummelte ich ein Taschentuch aus dem Hosenfutter und schnäuzte mich lebhaft. Und auch wenn ich es zunächst nicht wahrhaben wollte: Ein paar Tränen trocknete ich ebenfalls ab.

Ich begegnete keinem Reh. Weder einem scheuen noch einem zutraulichen. Es war wegen der Geschwindigkeit, die ich dem betagten Blechzotten abverlangte und wegen der Pausen, die ich nicht machte, weil ich fürchtete, der Motor würde sich kein zweites Mal auf ein mir gefälliges Arrangement einlassen. Ich hörte hinter dem Dröhnen der Kurbelwelle Musik, summte, sang und pfiff. Red, white and blue. Ich trank immer mal aus meiner Wasserflasche, knabberte ein paar Kekschen. Ich hatte die Wehmut mit zunehmender Entfernung von der Hauptstadt abgestreift. Nicht mal die SMS, die mir Tineke nach einer Stunde Fahrt auf das Handy lud, vermochte das Szenario der Trennung neu erstehen zu lassen. Abschiedsschmerz war überwunden. „Ich liebe dich“, las ich, während ich das Display des Handys über dem Lenkrad auf die Höhe der Windschutzscheibe hielt. Und ich las weiter: „Egal, wo du bist. Und wenn es in Hantschuloko oder im Weltall wäre.“ Ich hätte auf einen Parkplatz fahren und etwas Nettes erwidern können. Doch gedachte ich fahrend der Verlockung, die sich dem Motor der alten Karre bieten würde: Schnauf und aus. Und ich wusste, dass Tineke ihr Handy ohnedies nicht in Betrieb hatte. Oder es lag unbeachtet in einem Spind und würde völlig unbeachtet tingeln und klingeln, während sie selbst am OP-Tisch an kranken Menschen schnippelte. Ich würde anrufen, wenn ich das Ziel erreicht hatte. Den Küstenort. Es würde nicht lange dauern, denn ich kam ziemlich gut durch. Aber das Durchkommen war nicht alles. Ich musste mich einstimmen. Ich musste mich erinnern, wie es aussah in dem kleinen Haus, in dessen Umgebung. Der Deich, die Straße, die Gesichter. Der, die Hamster. Petra die Erste, mit der ein neuer Abschnitt meines Lebens in Gang gekommen war.
   Zuerst blieb ich erfolglos. Mir fehlten bestimmte konkrete Bilder. Dann, mit dem Näherkommen wurde es besser. Ich konnte mir alles klarer, sogar plastischer vorstellen. Bestimmt hatte es auch die eine oder andere Veränderung gegeben. Reparaturen, Anstriche, vielleicht einen Anbau am Anbau vom kleinen Schuppen. Edward Erster, da er nun hier lebte, hatte gewiss eine Menge an Änderungen betrieben. Er war sein Leben entlang für Überraschungen gut gewesen. Ein beachtlicher Initiator, ein unnachgiebiger Kämpfer. Der Innovator. Bis heute, bis übermorgen und weiter. „Kein Projekt, das mir verreckt.“ Gereimte Unternehmer-Devise.
   In der Tat. Nachdem ich die Ortseinfahrt passiert hatte und in die Deichstraße eingebogen war, stieß ich auf einen Betontransportmischer und zwei Handwerkerfahrzeuge. Klempner, Tischler. Ich musste Schritttempo fahren, weil sich die Kolosse nur langsam das Sträßchen entlang quälten. Es dauerte fast zehn Minuten, ehe ich das letzte Stück der Strecke bis zum Küstenhaus der Henriette bewältigt hatte. Die Neugierde begleitete mich.
   Fragen, Bedenken. Spannung. Es ging etwas vor sich. Was?
   Da, da sah ich, fand ich sie. Die Überraschung. Auf dem freien Grundstück, das neben Henriettes Anwesen lag. Die Wiese, auf der vormals Schafe gegrast hatten, auf der Kräuter gewachsen und Schmetterlinge umhergeflattert waren. Dort wurde gebaut. Nicht einfach nur gebaut, es entstand ganz offensichtlich ein Bauwerk von stattlichen Ausmaßen. Rohbau, Ausbau, Einbau, es sah unverkennbar nach Endstadium aus.
   Ich musste nicht überlegen, wer der Bauherr war. Ich sah ihn mit einer aufgefalteten Bauzeichnung und einem halb aufgeklappten Zollstock in den Händen. Modische Arbeitsjacke, Helm angedeutet schief auf dem Kopf, Zimmermannsbleistift intelligent hinter dem Ohr. Es war Edward Erster. Lässig, dynamisch, unternehmerisch. Unverbesserlich. Neben ihm der Bauleiter. Beide befanden sich in einem mehr als angeregten Gespräch, bei dem Edward allein vom Gesichtsausdruck her nicht den zahmsten Eindruck machte. Eine Ausein­andersetzung. Irgendwelche Unzufriedenheiten, Streitigkeiten. Edwards riesige Geste: Nachbesserungen, mehr Feinheiten, spezielle Änderungs- und Erweiterungswünsche. Abriss, Neuaufbau?
   Sie hatte ihn sein Leben entlang ausgezeichnet, die Durchsetzungskraft. Seinen Weg hatte sie bestimmt. Unbeirrbar war er bei der Abarbeitung seiner Projekte vorgegangen. Er hatte durchaus fast fertig gestellte Bauten, Inneneinrichtungen oder Anlagen wegreißen und neu errichten lassen, weil sie nicht seinen ursprünglichen Vorstellungen entsprachen.
   Ein Stück entfernt von der Baustelle saß die Henriette, eingepackt in eine dicke Decke und vom Scheitel zu den Schultern umhüllt von einem wollenen Kopftuch, im Rollstuhl. Ihre Augen leuchteten, sie verfolgten mit Spannung das Geschehen. Endlich Abwechslung vor dem Deich. Jonathan stand neben ihr. Die Personifizierung von Eifer und Aufopferung. Er wies mit dem Arm auf diese und jene Aktion, dabei erklärte er immerzu. Mit welcher Hingabe auch. Er präsentierte sich in einem Anorak, den irgendjemand ausrangiert haben mochte und der fast eineinhalb Konfektionsnummern zu groß war. Und vielleicht mit dem Stempel versehen: Für die Kleidersammlung nicht mehr geeignet. Sein Hals war umwickelt mit einem knalligfarbenen Schal, und er trug, jetzt schon, Handschuhe. Fäustlinge. Sein Haupt hatte er mit einer karierten Klappkappe bemützt. Holmes oder Watson in mindestens dritter Ableitung, ich wusste es nicht. Ein Mützenexemplar jedenfalls, das er nur aus der urältesten Mottenkiste auf Henriettes Dachboden abgezweigt haben konnte. Nun denn, die beiden: ein wunderbares, wunderliches Paar.
   Ich dachte, wie schön für dich, Doktor Jerominus, dass sich doch alles gefügt und gefunden hat. Fest steht: Du wirst hier nicht lange verweilen müssen, sie haben alles im Griff. Edward Erster, sein neues Unternehmerleben und Jonathan, vor allem die Henriette. Als wäre er für ihr Betreuung geschaffen. Wie gut für Tineke. Für mich. Für die Henriette. Wirklich?

Folge 73 vom 11. Juni 2020

Sie entdeckten mich, kaum dass ich ausgestiegen war. Die Henriette hatte ja wohl Adleraugen. Ihr Gesicht belebte sich um ein Weiteres. Ich hörte, dass sie „Da kommt der Kapitän“ rief. Jonathans Gesicht wandte sich mir prompt zu, er erstrahlte. Er streifte die Fausthandschuhe ab, warf die Mütze hoch. Edward Erster drehte sich angesichts seines gellenden Jubelschreis ebenfalls um, schenkte mir aber kaum Beachtung. Er wirkte sichtlich genervt, er drehte sich weg und setzte sodann seinen Streit fort. Umso lauter, heftiger. Er brüllte: „Und wenn ich das wieder abreißen lassen muss, aber so wird das nicht bleiben!“ Für ihn war ich im unpassenden Moment angereist. Nicht zum ersten Mal. „Es sollte eine Überraschung werden“, sagte ich zu Jonathan, als der dann vor mir stand. Ich hatte jetzt ein schlechtes Gewissen. „Dieser Besuch war ja schon lange fällig.“
   „Umso schöner ist es, gerade weil es eine Überraschung ist“, erwiderte er beglückt. Sein Blick war auf mich gerichtet, aber seine Pupillen rollten in Richtung Baustelle. „Das da sollte auch eine Überraschung werden. Für dich. Und für deine Verlobte. Für uns allerdings auch. Wir wissen nämlich noch nicht genau, ob wir hier eine Landarzt-Praxis für Zint­chen einrichten oder einen Authentic-Shop mit Erzeugnissen aus Clements’ Biowirtschaft und Erzeugnissen nach Henriettes alten Rezepten. Gelees, Kuchen, milchsauer eingelegte Erzeugnisse aus eigenem Anbau. Der Chef gibt sich da mehr als geheimnisvoll. Auf jeden Fall kriegen wir alle herrliche Zimmer. Modern, hell und altengerecht.“ Er umarmte mich wie eine Mutter ihren nach langer Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Sohn, wild und fassungslos; ich konnte es nicht verhindern. Ich glaube, ich hätte es nicht mal gewollt, denn er zitterte und stieß irgendwie sehr heiße Wellen aus. Und seine Augen schwammen fast so wie die von Tineke beim Abschied vor wenigen Stunden. „Ich bin aber auch absolut gespannt, was du von dir und deiner Verlobten zu berichten hast. Wir sind gespannt.“
   „Sie arbeitet bis zum Umfallen. Das kannst du sogar wörtlich nehmen“, erwiderte ich erst mal. „Und sie macht sich unheimlich gut. Der Chefarzt selber hat sie unter die Fittiche genommen. Er hat ihr Talent voll erkannt.“ Jonathan nickte, und er sah gerührt aus. Und spontan schüttelte er nun auch noch meine Hände. Ich war irgendwie ratlos. Ich dachte wieder: wir drei, oder wir fünf, oder wir wie viel. Ich ließ mich von ihm zur Henriette führen und von ihr begrüßen. Sie im Rollstuhl sitzend, ich stehend. Ich beugte mich zu ihr hinunter. Die knochigen Arme schlugen die Decke zurück und umschlangen wohlwollend und ein bisschen zittrig meinen Nacken. Ich musste an Tinekes Arme denken, und ich erinnerte mich an ihre erste Berührung. Damals vor dem Kino. Sie war so ähnlich. Zärtlicher, verheißend, das ja. Von Anbeginn selbstverständlich. „Der Kapitän“, sagte die Henriette abermals. Da fühlte ich mich direkt geschmeichelt. Ich hielt es nicht für nötig, dass Jonathan sie verbesserte: „Er ist Schriftsteller, Henni. Er wird höchstens irgendwann mal Seeabenteuer erzählen. Aber er hat keine Seemanns-Uniform, und eine Mütze hat er auch nicht. Oder?“
   Ich lächelte. Ich war der Meinung, ein guter Schriftsteller müsse nicht in Uniform und mit Mütze vor dem Notebook sitzen und er müsse nicht erklären, welche Art Bücher er verfasste und sich entschuldigen, wenn er von Beruf her kein Kapitän war. Was er so schrieb, sollten die Leute, die Leser, mal schön selbst herausfinden. Ich zog mich folglich recht gewieft aus der Affäre, ich antwortete: „Kapitän klingt ja auch nicht schlecht.“ Ich musste das Thema ohnehin nicht vertiefen, denn der Onkel stand nun bei uns. Ich, wir erlebten ihn in der Abwallung seiner akuten Rage. Eine halbdicke Zornesader rollte gerade noch über die linke Schläfe. Er und ich umarmten uns männlich. Ich beschloss, nicht nach seinem Bauvorhaben zu fragen, er würde von selbst darüber reden. Ich sagte: „Ich habe jemanden getroffen, der dich persönlich kennt. Einen guten Arzt.“ Er nahm es nur nebenher, vielleicht gar nicht wahr. „Wie viele Ärzte mich kennen. Als ob ich mir alle Namen merken würde.“ Er blickte zurück auf seinen Rohbau. „Die Kerle haben schon in einem Teil des Gebäudes den Estrich eingebracht. Und natürlich ohne die zusätzliche Trittschalldämmung, die ich nachträglich in den Bauplan habe aufnehmen lassen.“ Neue Zorneswolken drohten aufzuziehen. Ich bemühte mich daher um Ablenkung. „Es ist ein richtiger Chefarzt, von dem ich spreche. Er heißt Kurz. Und hinter seinem Rücken wird er Kurz-Franzl genannt.“ Edward Erster schüttelte den Kopf. „Von kleinerem Körperwuchs, aber unwahrscheinlich tüchtig“, ergänzte ich.  
   Er maß mich mit einem Blick voller Zweifel. „Hältst du kleinwüchsige Leute ansonsten für faul?“ Ich ging darauf nicht ein. Ich sagte: „Tineke arbeitet jetzt bei ihm. Und als ich mal mit ihm ins Gespräch kam, hat er gesagt, er hätte dich schon mal behandelt und er wollte wissen, wie es dir geht.“ Immer noch wich er mir aus. „Du siehst doch, wie es mir geht. Mein Leben besteht nur aus Aufregung und Ärger. Selbst meinen Ruhestand wollen mir all diese Leute vermiesen. Aber denen werde ich auf die Sprünge helfen. Diesen Baubudenrülpsen.“ Er sah mich scharf an. Als würde ich in das mutmaßlich hinterhältige Komplott der Bauarbeiterkolonne eingebunden sein. Schließlich besann er sich. „Willst du dir nicht das Bauvorhaben ansehen? Von innen. Wo du ja eines Tages mal alles erbst.“
   Ich bejahte, und ich verbarg meine Verwunderung, da er diesmal die quasi obligatorischen Einschränkungen „… wenn nicht dein Vater wieder auftauchen sollte …“ oder „… wenn du als durch und durch vergeistigter Schriftsteller an solch einem Erbe überhaupt interessiert sein solltest …“ unerwartet wegließ.    Eine Minute später befand ich mich in Edward Ersters Neubau. Das Gemeinschaftsprojekt? Nein, das Projekt für eine Gemeinschaft. Unsere.

Folge 74 vom 12. Juni 2020 

Jetzt wurde es besser mit seiner Stimmung. Er schaute umher, er lebte die Visionen, die sich mit dem neuen Gebäude für ihn verbanden. Er schwärmte. „In den zwei oberen Geschossen befinden sich die Zimmer und Appartements. Zum Wohnen. Altengerecht, sozial. Aber trotzdem auch für Junge von hoher Wohnqualität. Alles mit modernen Sanitäranlagen, alles ohne Stufen und andere Stolperfallen, ohne unnötige Kanten und Winkel, mit abwaschbaren Wänden und belastbarem Bodenbelag; und überall Rufanlagen, falls sich tatsächlich mal jemand nicht auf dem Posten fühlen sollte oder unnötigerweise der Meinung wäre, er müsse sterben. Allerdings auch für die Erfüllung ganz schlichter Kommunikationsbedürfnisse. Einfach den Knopf drücken und gleich meldet sich ein Mitbewohner. Für Halma oder Mensch ärgere dich nicht. Ansonsten gibt’s natürlich die schöne Terrasse, den Wintergarten. Und die gigantisch große Küche. Als Treffpunkt.“ Er gab sich stolz und sichtlich erfüllt. „Gemeinwesen ist alles. Sozial denken und handeln, dafür ist’s nie zu spät.“ Und er lächelte erhaben. „Das wäre jetzt in echt ein Beispiel, das man in den Medien vorweisen könnte.“
   „Sag bloß, du willst diese Hanni herzitieren?“, fragte ich überrascht. Er schüttelte den Kopf. Ziemlich entschieden. „Ich hab das hier nicht aus dem Boden gestampft, um anschließend noch und noch Neugierige auf dem Hals zu haben. Und mit Hanni, das ist insgesamt vom Tisch. Ich hab sie angerufen und ihr reinen Wein eingeschenkt. Oder so gesagt: Ich habe das Tischtuch zwischen ihr und mir zerschnitten. Das war schon kurze Zeit, nachdem wir hier angekommen waren. Ich hätte es dir sagen können. Aber es ging ja auch so. Davon abgesehen fing ich an, an dem Leben hier Gefallen zu finden. Die Ruhe, die Anonymität, das Ereignislose. Diese gelegentlichen Umständlichkeiten und Unbequemlichkeiten haben mich nur wenig gestört. Nur am Anfang. Niemand hat mich bedrängt. Kein Vereinsvorsitz und keine sonstigen Verpflichtungen. Alles freiwillig.“ Ja, er war ganz und gar der Alte. Der Unternehmer, souverän und immer einen Kopf größer, auch schlauer als die Leute aus seinem Umfeld. Bildlich gesprochen. „Und in die untere Etage kommen Geschäftsräume. Meinen Plan mit der Arztpraxis für Tineke habe ich ja aufgegeben. Dein Schatz ist leider noch nicht weit genug mit ihrer Facharztausbildung. Und ob sie sich überhaupt selbständig niederlassen will, wenn es irgendwann soweit ist, weiß keiner.“ Ich staunte schon wieder. Es hatte also konkrete Gedanken, Offerten, Planungen gegeben: Doktor Tineke Tollwin, Fachärztin mit ausgeprägten Schneideambitionen, insbesondere für Bauchoperationen von mindestens zwanzig Zentimetern Schnittlänge und zehn Zentimetern Körpertiefe sowie für Koloskopien mit hohem Befund. Alles ambulant.
   Edward Erster klopfte mir, während ich für Sekunden meinen Phantasien nachhing, aufmunternd auf die Schulter. Er war entspannt. Er freute sich darüber, mir dieses Projekt zu zeigen, mir auch ein sichtliches Umdenken in seinen Zielen zu offenbaren. Die Entspannung indessen hielt nur kurz. Kaum tauchte einer der Bauarbeiter mit einer Schubkarre voller Beton auf, echauffierte er sich wieder kolossal. „Wollt ihr etwa weiter Estrich gießen?“ Seine Stimme überschlug sich schon. Der Arbeiter erschrak, er schmiss die Karre vor Angst um, der Beton ergoss sich dünnflüssig über den Boden. Der Bauleiter erschien. Blass, feuerrot, rat- und atemlos, aufgeregt, kleinlaut – alles in einem. „Hier wird kein Fußboden betoniert, ehe nicht die Trittschalldämmung so verlegt ist, wie ich das anordne!“ Welch ein Donnerschrei.
   Ich schüttelte unmerklich den Kopf. Ich verabscheute diese Brüllerei, aber ich bewunderte ihn zugleich, diesen Edward Erster, meinen Onkel, den Chef. Er würde in der Lage sein, vom Totenbett aus noch ein Imperium zu gründen. Sein wievieltes?

Es war eigentlich Vesperzeit, als wir Mittag aßen. Späte Vesperzeit. Die Wogen hatten sich einigermaßen geglättet. Jene um Edward Erster. Er hatte sich durchgesetzt. Der Betontransportmischer hatte ohne weitere Entleerung die Baustelle verlassen, die Arbeiter befleißigten sich auch über die reguläre Arbeitszeit hinaus, die Trittschalldämmung den Anordnungen Edwards entsprechend zu verlegen. Zu früh geschütteter Estrich raus, danach zu wenig verlegte Dämmplatten rein. Man hörte das Geräusch der Hacken und Schaufeln bis in die Küchenstube der Henriette. Im Gegensatz zu den Unmutsäußerungen der Handwerker. Eine gewisse Unruhe erfüllte jedoch in der unguten Vorahnung der nächsten Ausfälle meines Onkels die Atmosphäre.
   Es gab Kohlrouladen. Sie wurden von Jonathan aufgetischt. Aufgetischt war eine sehr wirklichkeitsferne Beschreibung. Man konnte, durfte, musste es servieren nennen. Zelebrieren.
   Jonathan trug eine Bundschürze und ein helles Oberhemd, das er fleckenlos über die Kochphase gebracht hatte. Sogar eine Krawatte hatte er sich im letzten Augenblick noch umgebunden. Alle Achtung. Er erklärte sich und sein Essen. „Ich habe das Gehackte heute Morgen beim Metzger gekauft. Ganz frisch. Ich wollte eigentlich Buletten davon machen. In speziellem Paniermehl gewälzt. So richtig cross und saftig. Dann habe ich aber auf dem Markt den schönen Wirsingkohl gesehen und gedacht, mach doch lieber Kohlrouladen, die sind doch eine deiner Spezialitäten. Hatten wir schließlich so lange nicht.“ Er sah einen nach dem anderen frohsinnig an. Und da Edward Erster und die Henriette schwiegen, ließ wenigstens ich ihn nicht ohne Anerkennung. Ich lächelte unbefangen und gab mich nicht minder erwartungsvoll. „Freue ich mich echt, dass du Kohlrouladen gemacht hast. Gehört absolut mit zu meinen Lieblingsspeisen. Wenn du wüsstest, wie lange ich keine zu sehen, geschweige denn zu essen bekommen habe. Hm. Und wie appetitlich das riecht.“
   Prompt hatte ich das erste Bündel auf dem Teller. „Kriegst auch die größte Roulade, Erasmus. Die hast du dir verdient. Nach dieser anstrengenden Tagestour und nach dem, was sonst so alles hinter dir liegt.“  

Folge 75 vom 13. Juni 2020  

Was lag hinter mir? Was ahnte, wusste er? Keine Antwort. Er deutete auf die Schale mit den Kartoffeln. „Die habe ich auch vom Markt. Unbehandelt. Von meinem Lieblingsbiobauern. Er liefert direkt vom Acker an. So richtig mehlige, so wie wir sie bei uns in der Streusandbüchse immer angebaut und geerntet haben.“ Er blickte die Henriette an und versicherte: „Es muss ja nicht immer dieser Clements sein. Und sowieso haben wir im nächsten Jahr um diese Zeit eigene Erdäpfel. Henni hat mir erklärt, wo sie im Garten am besten gedeihen. Ich habe vor zwei Wochen schon mal das verwilderte Stück Acker gerodet. Das geht ganz schön auf die Pumpe.“ Er stöhnte angestrengt, als habe er jetzt noch Muskelkater. Wie ein alter Mann, dachte ich. Doch er schwärmte wie ein ganz junger: „Und ein Kräuterbeet und Blumen und anderes Gemüse wird’s auch geben. Vor allem werden wir auch Baldrian anbauen. Und Johanniskraut. Das dürfte auf einige Leute wohltuend beruhigend wirken. Nicht wahr?“ Er tat Edward Erster die Kohlroulade auf den Teller und bedachte ihn mit einem verschmitzten Blick.    Edward Erster reagierte nicht auf die Anspielung. Umständlich begann er, die lange Schnur zu entwirren, mit der das Hackfleisch und die Wirsinghülle umwickelt waren, wobei sich, nicht nur bildlich gesprochen, heillose Verwicklungen und neuer Unmut anzubahnen drohten. Jonathan, als er es sah, half ihm, noch bevor er sich selbst den Teller voll lud. „Das ist halt der Nachteil, wenn man diese Teile selber macht. Die meterlange Schnur.“ Er setzte eine gewichtige Miene auf. „Eine regelrechte Entbindung. Das Auspacken nervt.“ Sein Arm fuhr weit in die Höhe und entdeckte uns einen Bindfaden von mindestens einem halben Meter Länge. „Manche Leute nehmen ja Nadeln zum Festmachen. Ich nicht. Keine Fremdkörper ins Essen. Da war ich auch mit Zintchen immer einer Meinung. Metall ist schon bei den kleinsten Mengen in der Lage, das Essen elektrisch aufzuladen. Kraftfelder, Strahlungen. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Von Verunreinigungen und chemischen Reaktionen gar nicht zu reden. Ihr wisst, was ich meine?“ Edward Erster überging die Sorge um Strahlungen, Kraftfelder und Vergiftungen. Er nahm das andere Stichwort sofort auf. „Tineke, deine Verlobte. Wie geht’s ihr denn?“ Und er führte den Gedankenzug fort. „Hast du ihr von deiner Reise erzählt? Von dem Treffen?“ Er richtete seinen Blick nicht auf mich, sondern auf sein Besteck, mit dem er vorsichtig die entbundene Kohlroulade zersägte. Die beiden anderen sahen mich dafür mit riesigen Augen an. „Ja“, schwärmte Jonathan. „Der Bericht über deine Reise, das würde uns auch brennend interessieren. Nicht wahr, Henni?“
   Die Henriette nickte gewaltig. Sie erzählte etwas von einem Schneemann, der mit dem Kabelkran abgefahren sei. Ins Mondfeld. Irgendwas musste also selbst sie von dem Raumkreuzer, von meinem Ausflug erfahren haben. Und endlich sprach ausgerechnet sie aus, was die beiden anderen dachten: „Das Buch. Dein neues. Wie weit ist das denn?“ Es war, seit ich aus der Hauptstadt zurückgekommen war, die erste tiefgehende Äußerung ohne Wortverwechslungen.
   Ich ärgerte mich über das Vorauswissen und Vorausahnen, wiewohl ich die drei am Tisch schon ganz selbstverständlich als Lesepublikum eingeplant hatte. Drei, fünf oder wie viele Leser hatte ich mir eingebildet? Für das andere Buch. Diese sizilianische Verlobung. Oder nicht? Egal, ich wollte nicht antworten. Ich lenkte mich mit einer Attacke auf meine Kohlroulade ab. Voller Schwung stach ich mit Messer und Gabel zwischen die Wirsingblätter, um den harten Bindfaden mit einem Rissschnitt nach oben zu durchtrennen und mir damit die umständliche Entbindung zu ersparen. Es spritzte, weit und wirkungsvoll, und es folgten laute Aufschreie des Entsetzens. Edward Ersters Gesicht, meines übrigens auch, und Jonathans Oberhemd sahen sich augenblicklich von diversen braunen Pünktchen gemustert. Jonathan jammerte. Er war untröstlich. „Hilfe! Das ist Soße, die mit Vollkornmehl angedickt ist. Da ist Soja drin und kostbarstes kalt gepresstes Olivenöl. Die Spritzer kriege ich im Leben nicht rausge­wa­schen!“ Er plumpste ratlos traurig auf seinen Stuhl. „Mein einziges gutes Hemd. Hatte ich extra wegen dir angezogen.“
   Wegen mir. Ich war betreten und ebenfalls untröstlich. Ich entschuldigte mich umständlich. Ich versprach, ihm einen Ersatz zu besorgen. Welchen? Ich besaß ja selbst kein einziges brauchbares Zweitkleidungsstück. Nur das Hemd, das mir Tineke geschenkt hatte. So was gab man nicht weiter. Nicht mal an seinen besten Männer-Freund.
   Und der Raumanzug? Den hatte ich eingepackt. Kantemus-Klinik, Hantschuloko. Ein Erinnerungsstück in zweifacher Hinsicht: Meine wunderbare Reise mit Tonya und Lurtz, meine Unglaubwürdigkeit bei Tineke. Die zweite Erinnerung gab den Ausschlag, sie sagte mir, trenne dich von dem Stück, dann trennst du dich von weiteren Vorwürfen. Ich stand auf, ging ins Wohnzimmer und nahm den Anzug aus der Reisetasche. Ich legte ihn wortlos auf Jonathans Schoß. Er starrte ungläubig auf mich, auf das gefaltete Stück. Betastete den Stoff. Er war angetan. Wortlos. Endlich stammelte er: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. ... Dieser Stoff, der fühlt sich so fremd an. ... Aber auch so vertraut und so angenehm. … Erasmus.“ Er legte die Hände mit ihren ausgebreiteten Flächen auf das gefaltete Kleidungsstück, und er schloss die Augen. Er wirkte andächtig und versunken, als würde er spiritistisch Kontakt aufnehmen. Zu jener anderen Welt, die nur ich erlebt hatte. Oder zu mir. Oder zu beiden. „Du weißt nicht, was mir dieses Stück bedeutet, du guter Freund.“ Ich schwieg. Ich fragte mich, ob ich den Anzug nicht besser hätte behalten sollen. Nicht, weil mir plötzlich doch sehr viel daran liegen könnte, sondern weil ich Jonathan zu auffällig in eine totale Verwirrung gebracht hatte.
   Edward Erster mischte sich ein. „Ich weiß nicht, was du an dem Fetzen findest, Honsa. Ich finde ihn langweilig. Fast schäbig. Er sieht eher aus wie ein Blaumann in undefinierbarer Färbung.“ Jonathan hörte nicht auf ihn. Nicht ein Wort registrierte er. Schon gar nicht, dass Edward Erster, er jedoch in einer gewissen Absicht, den Namen Jonathan verfremdete. So wie es Clements mit meinem Namen tat; er jedoch in Ermangelung passender Artikulationsfähigkeit. Jonathan, genannt Honsa, sah mich so sehr dankbar an, so dass ich – nun doch – vollends glücklich war, ihm diesen Anzug geschenkt zu haben. „Hast du was dagegen, wenn ich ihn gleich mal anziehe?“
   Ich schwieg immer noch, wiewohl ich nichts dagegen hatte und es ohnehin keiner Zusage bedurfte, denn er sauste ins Schlafzimmer und kehrte ganz schnell wieder zurück. In den Anzug gehüllt. Als ein anderer Mensch.

Folge 76 vom 14. Juni 2020  

Wirklich ein anderer?
   „Diesen Stoff, den spürt man fast nicht. Er ist so leicht. Er passt sich wunderbar an.“ Tatsächlich. Der Anzug hatte sich ihm angepasst. Körpergerecht. Dabei war Jonathan kleiner als ich. Andererseits korpulenter. „Sieht tatsächlich aus wie ein Raumfahrerdress“, staunte Edward Erster. „Fehlt bloß ein Helm.“ Ich schüttelte den Kopf. Ich sagte, ohne das überlegt zu haben: „Die Zeiten, in denen Raumfahrer Helme getragen haben, sind vorbei. Heute bewegt man sich dort oben kaum anders als hier unten.“
   Ich bereute die Auskunft gleich wieder, denn Edward Erster hakte unversehens nach. „Na mein, lieber Neffe, das kam ja jetzt wie aus der Pistole geschossen. Das klang, als seiest du kürzlich erst im All gewesen und konntest dort praktische Erfahrungen sammeln. Nicht nur, was die Kleidung angeht. Also für mich wäre es jetzt an der Zeit, dass du die Karten auf den Tisch legst und erzählst, wie deine Reise verlaufen ist. Oder du hältst dich an deine Zusage und gibst uns den schriftlichen Bericht, in dem du alles erklären wolltest.“ Am Tisch war eine spürbare Spannung entstanden. Selbst die Henriette hatte aufgehört zu kauen. Sie schaute zu Edward, danach zu mir. Und zu Jonathan natürlich auch. Der stand fassungslos, wie versteinert. Plauzte auf seinen Stuhl und strich unbewusst über den Stoff des Anzuges. Endlich entfuhr es ihm stotternd: „Mensch, Erasmus, was dein Enkel Odward da sagt … du, wenn da was dran ist … du, dann wäre das unfair, wenn du’s nicht erzählen würdest. Gemein wäre das. Bitte, lass uns nicht im Unklaren!“ Seine Augen waren so was von glühbrennend auf mich gerichtet, dass ich Mitleid empfand und mich beinahe schämte. Durfte ich noch länger schweigen? Ich hielt diesen Blick nicht lange aus. Ich verbesserte Jonathan mühsam scherzend, indem ich ihn imitierte: „Das ist nicht mein Enkel Odward, sondern mein Onkel Edward.“ Ich wollte ablenken, auflockern, lustig stimmen. Ich schaffte es nicht. Keiner sagte mehr etwas. Ich schon gar nicht. Ich schaute starr auf meinen Teller. Ich arbeitete stumm und irgendwie verbissen an der Kohlroulade weiter. Die Verwirrung war vollkommen, das Schweigen zwischen uns vieren schien unendlich.  

Ich rechnete zurück, ich zählte Tage zu Wochen zusammen und Wochen zu Monaten. Ich studierte den Kalender. Das Limit, das mir sozusagen gesetzt worden war, betrug zwölf Wochen. Oder etwa nicht? Ich gab mich der entlastenden Versuchung neuerlicher Zweifel hin. Selbstzweifel und Allzweifel. Allzweifel, das waren Zweifel an meiner Fahrt, dem Flug ins All. Aber auch Zweifel an allem. War ich wirklich dort gewesen? In den Gestirnen. Oder anders betrachtet: War das ich, der dorthin gereist war? Hatte ich das nicht vielleicht nur im Kino gesehen? Im Fernsehen? Oder in einem wenig originellen Schmöker gelesen? Mein Gott, ich las keine Schmöker, ich besaß keinen Fernsehapparat, ich hatte – ausgenommen der Kinobesuch mit Tineke, bei dem ich vom Film nichts mitbekommen hatte – vor drei Jahren letztmalig in einem Kinosaal gesessen. Ich zog mich, da ich nun total unter Druck geraten war, von meinen Mitbewohnern zurück. Ich wollte ihnen den Bericht geben. Es war versprochen. Ich wollte mir auch selbst den Wahrheitsgehalt der Aufzeichnungen vergegenwärtigen.
   Ich arbeitete daher an den nächsten Tagen wie besessen an diesem Text, dem Bericht. Meinem vielleicht ersten Buch. Wie beargwöhnt ich auch wurde. Ich schrieb einen Schluss, und ich ging das gesamte Werk, das inzwischen einen beträchtlichen Umfang angenommen hatte, mehrfach durch. Änderungen, neue Formulierungen, Ergänzungen und zuweilen Streichungen. Ich war kaum ansprechbar, ich reagierte nicht auf Fragen und Anspielungen, ich nahm wenig von der Welt um mich herum wahr. Diese Welt mit ihren Figuren, Kleindramen und Konflikten, sie existierte irgendwie nicht. Lediglich als Tineke anrief und mir mitteilte, es ginge ihr nicht so gut, sie sei mal wieder am Rande des Zusammenbruchs, merkte ich auf. Brach ich ab. Ich saß bereits im Auto, um in die Hauptstadt zu fahren, als das Telefönchen erneut schnapperte. „Falls du jetzt das Steuer in der Hand haben solltest, so muss ich dich warnen, Doktor Jerominus! Ich habe morgen Vormittag frei. Ich schlafe aus, frühstücke genüsslich und spaziere dann durch die Alleen.“ Sie kicherte. Es ging wirklich wieder bergauf. „Hier liegen überall Blätter. Glaub mal, ich wäre viel lieber am Deich. Mit dir.“ Sie schmatzte dicke akustische Küsse durch die drahtlose Leitung. Danach erkundigte sie sich nach allen und allem. Und sie gähnte. Ja, ich hätte gern noch lange mit ihr telefoniert. Wäre nicht ihre Müdigkeit gewesen. Und ich hätte genauso gern von den Veränderungen, die auf dem Nachbarplatz in fast rasender Geschwindigkeit ihren Lauf nahmen, erzählt. Allein, dies unterlag der Geheimheit, die man anderswo Geheimhaltung nannte. Und der Überraschungspflicht. Wenn sie ihren irgendwann fälligen Besuch auch nur um ein paar Tage hinauszögerte, würde es bei ihrem Eintreffen nicht mal nur zu einer Überraschung, sondern zu einem Wunder kommen. Sie reiste dann hier an und das Bauwerk erwies sich als bezugsfertig. Mehrgenerationenwohnhaus des Doktor Jerominus und der hochbegabten Fach- und Einschneiderin Tineke Tollwin, genannt Verlobte. Nun, ich schmatzte Küsse zurück und fragte nach dem Schild. „Welches Schild?“ Es ging nur um das eine, das sie vor die Tür des Badezimmers hängen sollte. Für Spanner verboten. Sie kicherte erneut, und es war, als würde sie den nassen Waschlappen, einen Schwamm oder eine Ladung Duschgel nach mir schmeißen. 

Folge 77 vom 15.  Juni 2020  

Ich lachte. Ziemlich lange. Noch, als ich gleich wieder vor dem Notebook saß. Im Wohnzimmer, an diesem Tisch, an dem man eine so ungesunde Sitzpose einnehmen musste. Ich kämpfte wie wahnsinnig mit dem Text. Ich spürte, ich hatte die Endphase erreicht. Immer weniger blieb zu korrigieren, nichts war mehr hinzuzufügen, schon gar nichts durfte gestrichen werden. Nur mit dem Schluss haderte ich ein wenig. Ich hatte geschildert, wie ich mich in der Hauptstadt von Tineke verabschiedete und in Richtung Küste aufbrach. Ein bisschen Sentimentalität, sehr viel Hoffnung, noch mehr Liebe. Ich schrieb: Hinter mir lagen Erlebnisse, die sich mir tief eingeprägt hatten. Ich hatte sie bewältigt und fuhr nun mit gutem Gefühl der rotgoldenen Sonne entgegen … Ich sagte mir, irgendwann müsse der Schlussstrich gezogen werden. Mit Konsequenz. Ich hatte es mit diesem letzten Satz getan. Und doch fand ich nun nicht diese Traute, das entscheidende Wort zu sagen. Fertig. Nicht einmal mit einer Sicherheitsklausel. Ich glaube, ich bin. Fertig. Da ging ich also nochmals drüber. Ich scrollte. Scrolling the screen. Blatt für Blatt, Zeile für Zeile. Wort für Wort. Alles noch mal. Den Text.
   Und dann?
   Dann ging es, dann wollte ich nicht mehr. Sie sahen es mir wohl an. Meine drei First-Minute-Leser. „Ich glaub, jetzt hat er’s“, summte, sang, tirilierte Edward Erster. Ein an ihm bisher kaum wahrgenommener Zug. Das extrovertierte Musische. Von welcher Platte jedoch stammte dieser intonierte Satz?   
   Die anderen beiden stimmten munter ein. Honsa und Henni. „Mein Gott, jetzt hat er’s.“ In der Tat, selbst unsere Henriette schnabbelte ohne Aphasie-Störung mit. „Bei Gott, jetzt hat er’s.“ Da gab ich mich, zumal es Abend und ich müde war, geschlagen. „Vollbracht.“ Nach wie vielen Tagen, die ich nun wieder im Hause der Henriette weilte, nach wie vielen Wochen seit meiner Rückkehr aus dem All?  

Die Freude währte kurz. Es stellte sich heraus, dass die Druckerkartusche des alten Druckers leer war. Bis zum letzten Krümel. Einen zweiten Drucker gab es nicht in diesem Haus. Ich konnte das frisch vollendete Manuskript nicht abziehen, und somit konnten es die anderen drei nicht lesen. Der Text ließ sich allein auf dem Bildschirm ansehen. Prompt setzte die Diskussion ein. Wer darf zuerst vor dem Notebook sitzen und lesen? Jonathan hielt sich für berechtigt. Er würde die Geschichte auch der Henriette vortragen. Die brenne nicht minder als der Chef und Jonathan selbst auf den Inhalt. Das bedeutete: Der Anspruch zweier Leser zählte mehr als der eines Einzelnen. Jonathan beeindruckte nicht nur mich mit seiner ungekannten Resolutheit. Wo er sich sonst so freundlich und zuvorkommend gegenüber meinem Onkel verhielt. Egal, Edward Erster widersprach vehement. Er sei mein nächster Verwandter. Er habe sich seit Langem, wenn auch im Hintergrund, dafür eingesetzt, dass das unentdeckte Schriftstellertalent des Neffen gefördert werde. Dies sei im Übrigen nur ein Argument. Zum Zweiten: Es käme ja ganz bestimmt sein Bruder in der Erzählung vor. Den habe er nun schon seit Ewigkeiten nicht gesehen. Er wolle nun wissen, welches Schicksal Ernesto erlitten habe. Daraus leite sich doch das überdeutliche Recht ab, dass er als erster und als Erster vor dem Notebook sitzen und lesen dürfe. „Kann nicht jemand einen anderen Drucker besorgen? Oder eine neue Kartusche?“ Meine Frage wurde abgewehrt. Weggefegt. Von wem denn, wo denn, wie lange das wohl dauert? Es war inzwischen zehn Uhr abends. Da präsentierte Jonathan jenen Vorschlag, der uns dreien zunächst die Lösung verhieß: „Wir setzen uns zu viert an den Esstisch und Erasmus liest seine Erzählung vor.“ Sechs Augen sahen mich erwartungsvoll an. Eine Autorenlesung. Die erste mit Erasmus Erster. Eine rein private Veranstaltung. „Nein!“, erwiderte ich. „Nicht, dass ich mich ziere. Es ist aber alles noch zu frisch. Zu frisch geschrieben. Zu frisch erlebt.“ Sie akzeptierten das. Sie meinten, es solle dann halt abwechselnd gelesen werden. Jonathan, Edward. Jonathan, Edward. Jeder drei Seiten. Oder fünf. Oder zwei. Nein, doch nicht. Diese Anstrengung, diese Ermüdung. „Wenn ich vorlese, kann ich den Text, den ich lese, nicht selbst aufnehmen.“ So spricht Edward Erster. Und so saß ich mit denen dreien ratlos da. Mit klein werdenden Augen. Ich gähnte. Es steckte an. Die Henriette gähnte ebenfalls. Sie blickte in Richtung Schlafzimmer. Sie schlief nun ein. Jonathan seufzte bedauernd. „Noch eine ganze Nacht warten. Und bis wir diese blöde Kartusche hier haben und das Manuskript dann ausgedruckt ist. Das dauert noch Ewigkeiten.“ Edward Erster kannte kein Mitleid. Er winkte ab. „Wir haben so lange auf seine Geschichte gewartet, wir werden auch diese eine Nacht überstehen.“ Seine unaufhörliche Nüchternheit. Er ging zur Tür. Er war bereits draußen auf der Treppe. Jonathan flüsterte: „Kannst du mir dein Notebook nicht geben? Ich lese allein im Bett.“ Sekunden später ging die Tür auf. Edward Erster war wieder da. Gehört hatte er nichts. Aber geahnt. „Es wäre höchst unkameradschaftlich und gegen alle Spielregeln, sollte sich jemand heimlich zum Lesen an den Computer setzen. Nicht wahr?“ Woher er den Ausdruck kameradschaftlich kannte. Warum er ihn benutzte. Wir stimmten ihm zu. Eifrig, mit Unschuldsmiene – Jonathan. Ich nur achselzuckend, allerdings auch erleichtert. Noch mal eine Nacht drüber schlafen, dachte ich, und dann vielleicht doch am Schluss etwas ändern. Aber was?
   Der Onkel noch mal: „Morgen früh besorgen wir diese Kartusche. Am besten zwei. Wer weiß, wie lange eines von den Dingern reicht. Gleich nach dem Frühstück fahre ich zum Händler.“
   Oder? 

Folge 78 vom 16. Juni 2020  

Oder? Er kratzte sich nachdenklich, er sah auf einmal unfroh aus. „Geht ja nicht. Um halb sieben sind die Heizungsmonteure da. Die Maler fangen auch so früh an. Die Elektriker kommen. Auf dem Bau passiert jetzt alles auf einmal. Da möchte ich sicherheitshalber vor Ort sein. Nicht, dass wir nachher ein anderes Haus bekommen, als der Architekt geplant hat. Als ich es mir vorstelle. Also wird einer von euch beiden fahren.“ Einer von euch beiden. Er sah nur Jonathan an. Er nickte, das galt nun uns beiden. Er ging. Wir hatten verstanden. Wegen morgen. Und wegen jetzt. Jonathan sah voller Respekt zur Tür. Für das Notebook hatte er keinen Blick. Er sagte: „Gegen den Chef kommen wir nicht an. Ich schon mal gar nicht. So ein Machtmensch. Wenn er sich so in Szene setzt, kommt bei ihm total der Kapitalist durch. Der Imperialist.“ Es klang leicht traurig. Ein bisschen empört. „Na gut, ich fahre nach dem Frühstück. Um neun geht ein Bus in die Stadt.“ Ach ja, er fuhr nicht gern Auto, wo wir doch seine Klapperkiste vor der Tür hatten und er auch einen Führerschein, den ich selbst gesehen hatte, besaß. Nein, er wollte, traute sich nicht. Ich wusste nicht, warum. „Du musst nicht mit dem Bus fahren“, sagte ich. „Wir haben ja mehrere Autos hier. Entweder ich fahre die Kartuschen allein kaufen oder ich bringe dich hin. Und dass er so ist, wie er ist, mein Onkel, so resolut, das stimmt. Aber er musste so werden. Anders hätte er nicht das geschaffen, was er geschaffen hat. Dieses Schokoladenimperium. Ich staune eher, weil er neuerdings nichts mehr gegen meine Schriftstellerei hat. Er interessiert sich sogar für meine Manuskripte.“ Jonathan seufzte. „Wahrscheinlich habe ich das mit meiner Schwärmerei bewirkt. Ich habe ihm immerzu in den Ohren gelegen und ihm versichert, dass du tolle Sachen schreibst. Und nun ist es noch soweit gekommen, dass wir uns gegenseitig ausstechen. Um deine Manuskripte lesen zu können.“ Er sah jetzt total traurig aus.
   Ich tröstete ihn: „Und wenn sie diese Zankerei gar nicht wert ist? Meine Geschichte. Wenn ihr nachher alle drüber lacht und sie schlecht findet, wenn keiner glaubt, was ich geschrieben habe?“
   Er schüttelte entschieden und bei empörter Miene den Kopf. „Von Zankerei kann ja keine Rede sein. Höchstens von einer Art Wetteiferei, bei der es um die Lösung eines schwierigen Problems ging. Und das wiederum rührte aus dem gemeinsamen Drang, dein neues Buch kennen zu lernen. Das sind alles positive Aspekte. Leider hat es einen enttäuschenden Ausgang gegeben. Alle wollten das Gleiche, nämlich lesen, aber keiner hat dem anderen den Vortritt lassen wollen. Wie üblich in dieser Gesellschaft.“ Er stand schon an der Schlafzimmertür. Ich dachte, er würde mir in seiner umständlichen Art eine gute Nacht wünschen und verschwinden. Enttäuscht, unzufrieden. Ärgerlich. Trotzdem mit einer gefürchteten Umarmung. Stattdessen füllte sich seine Miene mit Wärme und Wohlwollen. „Bitte sage nie wieder, dass deine Story nichts wert sei. Sie ist was wert. Mehr noch, sie ist sogar wertvoll. Weil du dich so sehr bemüht hast. Und weil du sie für uns geschrieben und erlebt hast, und weil du bei alldem so bescheiden und ausgeglichen und ein guter Freund geblieben bist.“ Er half der Henriette, die nun aufgewacht war, aus dem Stuhl. Sie stand schwindelig, verschlafen. Sie taumelte leicht. Er fasste sie gekonnt am Arm und führte sie ins Schlafzimmer. Ich hörte seine Stimme, als er noch mit ihr redete. Ich verstand jedoch nicht, was er zu ihr, vielleicht auch zu sich selbst, sagte. Was er eben zu mir gesagt hatte, das hatte ich indessen sehr gut verstanden. Und das hatte mich zutiefst gerührt. Ich starrte noch mindestens eine halbe Minute auf die Tür. Ich hatte das Bedürfnis, anzuklopfen und ihm zu danken. Wenn nicht sogar, ihn zu umarmen. Jetzt also ich ihn.  

Ich machte das Notebook, als alles ruhig geworden war, noch einmal auf. Ich dachte, wenn es so etwas wie eine Erleuchtung gibt, dann hast du sie soeben bekommen. Der Schluss, mit dem ich bislang immer noch gehadert hatte, ergab sich auf einmal wie von selbst. Ich öffnete die Datei mit der Bezeichnung Tonya-001 und scrollte zum letzten Abschnitt. Und ich schrieb. Ohne Mühe und ohne lange nachdenken zu müssen. Ich schilderte die Szene, die sich vor ein paar Minuten im Wohnesshalbauchküchenzimmer des kleinen Küstenhauses abgespielt hatte: Mehrere Leute wollten das Manuskript, mein Manuskript, lesen, aber es blieb allen verwehrt. Aus jenen tatsächlichen Gründen. Druckpatrone leer. Druckpatrone auch Kartusche genannt. Ich beschrieb mit Leichtigkeit und einfachen Sätzen die Situation. Ihren Verlauf, ihr Ende. Ich zitierte Jonathans letzte Bemerkung, zitierte sein hohes, inniges Lob. Seine ungeheuchelte Verbindlichkeit. Ich schilderte auch, wie glücklich mich das machte, und ich flocht endlich im letzten Absatz die Frage ein: Kann sich ein Autor mehr Anerkennung für sein Buch wünschen als einen solchen Erst-Lese-Streit?   
   Ich strich jene vermeintlich guten zwei Schlusssätze, um die ich mich gequält hatte und ließ die Story nicht mehr mit dem Aufbruch in die rotgoldene Morgensonne enden. Welch ein Kitsch, dachte ich, Morgensonne, Szenen dieser Art waren nicht bloß zwanzig oder hundert Mal benutzt worden. In Büchern und Filmen. 

Folge 79 vom 17. Juni 2020  

Ich war glücklich, ich war erleichtert. Ich saß bis vier Uhr morgens an dem unbequemen Tisch, auf einem buckligen Altpolsterstuhl und schaute, nachdem ich die Datei geschlossen und das Notebook nach unten gefahren hatte, auf die Fensterscheibe. Ich versuchte, wenn ich schon nicht über den Sonnenaufgang schrieb, einen solchen abzuwarten. Einfach so. Ein nicht zu bewältigendes Unterfangen. Müdigkeit überfiel mich. Mit heilloser Macht. Ich lag alsbald in meinen Sachen auf der Couch. Ich lächelte. Ganz glücklich und ein bisschen eitel. Und ich schlief und lächelte immer noch. Bis halb sieben, bis zur Ankunft der ersten Baufahrzeuge und der diversen Fuzzys. Nein, sie hinderten mich nicht am Weiterschlafen, wiewohl ich sie wahrnahm. Das Aufheulen der Motoren, die polternden Ladegeräusche, die hörbar kompetenten Stimmen der Bauleute. Kompetent bis hin zum Hilfsarbeiter. Kompetent für jeden Handgriff und jeden Arbeitsgang. Baufachleute. Facharbeiter. Ich lächelte weiter, denn ich für meinen Teil hatte meine Arbeit bereits vor den aktuellen Morgenstunden getan, während die Baubrigade in dieser Zeit selige Nachtruhe hatte halten können.
   Gegen acht Uhr hörte ich Stimmen, die ich nicht gleich einordnen konnte. Ein Mann, eine Frau. Naja, dazu Jonathan, die Henriette. Jonathans Organ dominierte. „Erasmus schläft. Und dabei soll es bleiben. Er hat mindestens bis vier Uhr gearbeitet. Er hat einen anderen Rhythmus als du mit deinen Hühnern, Kaninchen und Kalbsjacken. Und solange ich hier stehe, wird also niemand die Schwelle übertreten. Vor allem wirst du erst mal beweisen, dass du seinen Namen richtig aussprechen kannst. E – Ras – Mus.“ Der Besucher gab sich keine Mühe. „Ich hab mich jetzt schon so dran gewöhnt, dass ich Jerominus sage. Dieses andere Wort, wie sagst du gleich?, das bringe ich einfach nicht raus.“
   „Hast es ja nicht mal probiert!“
   „Er freut sich auch so. Wir sind Freunde. Ich muss ihm wenigstens Guten Tag sagen.“
   „Aber nicht, wenn er schläft. Hättest ja längst gekommen sein können. E – Ras – Mus ist schon seit Ewigkeiten wieder hier. Er vollendet gerade sein neuestes Werk. Genauer: Er hat es gestern vollendet und heute Nacht noch mal mächtig dran rumgeschuftet.“
   Ich hatte Kopfschmerzen. Mir fehlten mindestens drei Stunden Schlaf. Wenn nicht sogar sechs oder acht. Oder eine ganze Woche. Und dann das Gequassel. Clements, dachte ich schwerfällig, wer lässt dich zu dieser frühen Stunde auf die Menschheit los? Ich drehte mich auf die Seite. Ich zog die Decke über die Ohren. Natürlich schlief ich nicht mehr ein. Bei dieser Unruhe. Mir wurde klar, dass Jonathan ja auch nicht länger als ich geschlafen haben konnte. In dieser letzten Nacht. Wahrscheinlich war er stundenlang vor meiner Tür hin und her geschlichen und hatte das Licht unter dem Türblatt gesehen. Er hatte sogar kapiert, warum ich wach blieb. Und er hatte mich nicht gestört. Wie rührend, wie – ich wusste nicht, wie man das anders ausdrücken sollte – mütterlich lieb. Nun schlug er also diesen Clements in die Flucht. Meinen selbsternannten Freund. Einen leibhaftigen Eiermann vom Lande. Eigentlich ein Netter. Nur trat er wie üblich zur unpassenden Zeit an. Jonathan vertrieb ihn auf spezielle Weise. Er gab ihm einen Auftrag. „Du kannst mal eben in die Stadt fahren und eine Kartusche kaufen.“ Er ließ Clements gar nicht erst eine zu erwartende naive Frage stellen. Was eine Kartusche sei. „Das ist kein Geschoss, sondern ein wichtiges Teil, das man für einen Drucker braucht. Ich schreibe dir die genaue Bezeichnung auf, und du fährst mit dem Zettel zum Fachhandel. E – Ras – Mus soll uns einen Probeabzug des neuen Manuskripts ausdrucken.“ Jonathan ließ auch keinen Protest zu. „Wenn du diesen wichtigen Auftrag nicht erfüllen willst, wird das erstens negativen Einfluss auf die Entwicklung der nationalen und internationalen Literaturszene haben, und zweitens wirst du selbst ganz unmittelbar auch Probleme kriegen. Mit dem Mann, der da draußen einen Bauarbeiter nach dem anderen zur Sau macht.“ Edward Erster. Nun gut, die Drucker-Kartusche war gesichert. Ich hörte, trotz Decke über den Ohren, Clements’ Auto davonjackern. Und ich hörte abermals Jonathans Stimme. Sie folgte einem Klopfen, das an meiner Tür war. „Erasmus, hast bestimmt mitgekriegt, was hier eben los war. Mit diesem Clements. Also, er ist weg. Holt die Druckerkartusche. Gut, nicht? So, nun schlaf noch zwei, drei Stunden. Wirst müde sein.“ Ich seufzte. Ich stieß mühevoll ein Ja und ein Danke hervor. Ich war nun endgültig wach. „Du, Erasmus, ich freu mich wahnsinnig auf das neue Buch. Bin gespannt wie nur was.“ Ich richtete mich ein bisschen auf, schaute zur Tür. Er hatte nur das Gesicht durch den geöffneten Spalt gesteckt. Strahlend und irgendwie kein bisschen müde. Und auf seine spezielle Art so anhänglich. Ich quälte mir ein Lächeln ab, denn ich vermochte ihm nicht zu sagen, wie wenig ich im Moment an jedweder Gesellschaft interessiert war.
   „Du, Erasmus, ich hab das voll gemerkt, dass du heute Nacht noch gearbeitet hast. Am Licht hab ich’s gesehen.“ Er sah mich erwartungsvoll an. „Du, das macht für mich die Qualität eines guten Autors aus, dass er nicht aufgibt und zu jeder Zeit an seinen Texten arbeiten kann. Und will.“

Folge 80 vom 18. Juni 2020  

Er setzte eine äußerst bedeutungsvolle Miene auf. „Dir ist bestimmt was super Wichtiges eingefallen, weil du dich noch mal an das Notebook gesetzt hast.“ Seine Feststellung war eigentlich eine Frage. Er rechnete vielleicht mit einer ausführlichen Antwort. Nur, ich war nicht in der Lage, sie zu geben. Ich brummte ein seelenerfülltes „Ja“ und ließ meinen Kopf ostentativ angestrengt in die Tiefe des Kissens fallen. Da er nicht wich, sagte ich mit äußerst belegter Stimme: „Wirst ja alles lesen, wenn dieser Clements zurück ist.“
   „Klar, dann drucken wir sofort. Du, ob wir vorsichtshalber zwei Exemplare ausdrucken?“
   „Von mir aus“, stieß ich hervor. Ich schloss schon mal die Augen.
   „Dann könnten wir’s parallel lesen, der Chef und ich. Und Henni. Also, der lese ich das vor. Du, sie ist genauso gespannt wie ich. Und sie kriegt auch alles mit. Nicht, dass jemand denken sollte, sie versteht nicht, was auf sie zukommt. Im Gegenteil. Sie hat nur die Schwierigkeiten mit der Sprache. Mit dem Sprechen.“
   „Ja, ich weiß.“  
   „Du“, er stieß plötzlich die Tür weiter auf und kam in die Stube. „Da kommt jemand. Ein Auto. Du, da sitzt eine Frau drin. Glaub ich. Ja, tatsächlich.“ Er stand Sekunden später vor dem Fenster meines Wohnschlafzimmers. Er zog die Gardine ein Stück zur Seite. „Du, so was hat mich schon immer beeindruckt. Wenn Frauen so’n bisschen ältere, schwedische Autos fahren. Und wenn sie selbst auch schon nicht mehr ganz so jung sind.“ Soso und naja, dachte ich, da offenbarten sich nun endlich seine Vorlieben und Neigungen. Ältere schwedische Autos, nicht mehr so ganz junge Frauen. Etwa auch Schwedinnen? Beides passte ja zu seinem Wesen. „Du, sie fährt direkt vor unser Grundstück, und da parkt sie auch. Bin mal gespannt, ob sie wirklich zu uns will.“ Ich fand das anstrengend, ihn. Für mich. Ich wusste, ich konnte nicht mehr einschlafen, doch ich konnte ebenso wenig richtig wach sein. Aufmerksam, aufnahmefähig. Ich versuchte ihn abermals abzuwimmeln. Ich empfahl: „Geh doch mal gucken. Draußen. Kann ja sein, dass sie eine Ferienwohnung sucht.“  
   „Glaub ich nicht. Zu dieser Jahreszeit. Und wenn doch, bei uns ist doch nichts frei. Oder?“ Ja. Was heißt: nein. Nichts frei. Wo denn? „Du“, fing er wieder an, „die ist super schick. Chic. Eine Dame. Und sie ist ausgestiegen und kommt auf unser Haus zu. Was die wohl hier will.“ Er stürmte aus dem Zimmer. Ich dachte: endlich. Aber er hatte die Tür nicht zugemacht. Es zog unangenehm. Und beobachtet fühlte ich mich auch. Der Türspalt eröffnete vom Flur aus einen direkten Blick auf mich. Erasmus Erster liegt im Bett, unordentlich auf einem buckligen Sofa, kommt Leute, seht euch das an. Diesen Faulpelz. Das ist situatives Theater. Zum Anfassen, zum Mitspielen. Impro.   
   Mach bloß das Brett zu, dachte ich. Ein Sprung, vier Schritte, ein Handgriff. Ich zögerte. Ich vermochte mich nicht aufzuraffen. Womöglich war alles ein Missverständnis. Die schicke, nicht mehr ganz junge Frau hatte gehalten, um nach dem Weg zu fragen. Oder sie suchte den Deich, der sich nur fünfzig Meter entfernt befand. Vielleicht war ihr Auto nicht mehr in Ordnung. Eben auf der Höhe unseres Häuschens war der Keilriemen gerissen oder die Kupplungspedalrückholfeder hatte sich beim Durchfahren einer Straßendelle ausgehakt. Und wenn es nicht das war: Sie suchte diesen Clements, meinen Freund, weil sie mal echt frische Landeier konsumieren, vielleicht sogar mit nach Schweden nehmen wollte. Denn: Bestimmt war sie Schwedin. Ich hoffte es für Jonathan. Leider, es war zu spät. Für mich, für das Schließen der Tür. Schritte näherten sich. Die Stimme, die denn nach Clements’ die zweite dieses Morgens war, die nicht unserem Haus anstammte, und die Person. Sie kam im Gefolge Jonathans. Auch auf dessen Hofierung. „Bei uns sind Gäste immer herzlich willkommen. Auch schon zum Frühstück. Solche netten alle mal. Sie müssten nur erst sagen, welchen Herrn Erster Sie meinen. Den mit dem Doktortitel oder den mit den tollen Manuskripten. Den Schriftsteller.“ Die Dame blieb sehr gelassen, sehr damenhaft. „Hauptsächlich bin ich an dem an zweiter Stelle Genannten interessiert. Eben weil er ein Schriftsteller ist. Oder ein solcher werden will. Soll. Kann.“ Ich spürte, obwohl ich sie nicht sah, dass sie lächelte. Und ich wusste prompt: Schwedin war sie nicht. Helene jedenfalls war Deutsche. Helene. Ich erschrak. Ich war überrascht. Ich war ratlos. Ich war jetzt auch vollwertiger wach. Mit flexibleren Gedanken. Daher riss ich mir in einer Spontanreaktion die Decke über den Kopf und legte mich vollkommen flach auf den Rücken. Keiner sah mich. Mich, mein Antlitz. Dann jedoch dachte ich, aus welchem Grund sollte ich mich schämen und verstecken müssen? Dass jemand, der bis zum Morgen geschuftet hatte, um acht Uhr noch im Bett lag, bedurfte keiner Entschuldigung. Dumm war eher, dass ich nun diese alberne Pose gewählt hatte. Nicht nur dumm, sondern peinlich. Ich wagte es nicht, die Decke wieder wegzuschlagen und hervorzukriechen. Was aber dann? Nichts, total vertrackt. Ich lag und schwitzte und fror und litt Sauerstoffmangel. Sollte ich mich über die Sofakante auf den Boden rollen, dort liegen, kauern? Die Stimmen kamen so nahe, als wollten sie gleich meinen Schlafraum ausfüllen. Doch überraschend entfernten sie sich wieder. Ich hörte Jonathan deutlich sagen: „Erasmus hat heute Nacht noch mal richtig lange gesessen und an seinem Text gefeilt. Er wird eine Weile brauchen, um wach zu werden. Er ist so was von verbissen, wenn es um die Perfektionierung seiner Bücher geht. Ich bin da immer neu beeindruckt. Wie wär’s, wenn Sie vorerst mit mir Vorlieb nehmen? Ich bin der Jonathan. Der Frühstücksverantwortliche im Haus.“  

Folge 81 vom 19. Juni 2020  

Donnerwetter, dachte ich, wie das klingt, wie der sich da ranmacht; ein Charmeur mit bislang sorgsam verborgenen Qualitäten und Neigungen, der womöglich in Edward Erster das motivierende Feuer der Eifersucht entfachen wird. Edward wird sich für Helene entscheiden. Ganz unversehens. Oder wird das Unerwartete passieren: Jonathan nähert sich der Helene, er verlässt uns. Mich und Tineke. Wie komisch. Ich war mittlerweile von einem Leben zu dritt ausgegangen. Tineke und ich als Paar; und Jonathan. Er als eine Art Kind. Oder als Bruder. Mein Schwager. Zuerst hatte ich den Gedanken schrecklich gefunden. Und nun bedauerte ich es irgendwie, sollte er uns verlassen. Wie sich das Leben, die Lebenseinstellung doch änderte. Innerhalb kurzer Zeit. Ich warf die Decke zurück und peilte den Türspalt an. Ich atmete tief durch. Wegen des frischen Sauerstoffs und wegen der Erleichterung. Ich fand mich unbeobachtet. Ich konnte vom Küchentisch aus nicht bestaunt, beargwöhnt werden. Nichtsdestotrotz entging mir das Gespräch der beiden nicht.
   „Wenn Sie Jonathan sind, dann kenne ich Sie.“
   Er schwieg, doch ich konnte mir seine Miene gut vorstellen. Überrascht, beglückt. Und ängstlich. Auf jeden Fall voller Fragen. „Dann habe ich schon von Ihnen gelesen. In Erasmus’ Manuskript.“
   „Och“, entfuhr es ihm prompt. „Sie kennen das Manuskript schon?!“ Er hörte sich enttäuscht, auch aufgebracht, fast weinerlich an. „Wie find ich das denn! Unsereiner giert regelecht danach, den Text lesen zu dürfen, und dann hat es dieser Bursche, dieser Super-Autor, der sich auch noch mein Freund nennt, schon längst unter die Menschheit gebracht.“
   „Nein“, beschwichtigte sie ihn. „Das heißt, ja. Das heißt, es stimmt nicht ganz. Ich kenne das Manuskript, nur ich. Und sowieso nur zum Teil. Nur bis zu der Stelle, an der der Held und Handlungsträger zurückkehrt von seiner Reise. Vom Fortgang weiß ich nichts. Schon gar nicht vom Schluss.“ Sie wusste nicht weiter. Schwieg. Er schwieg gleichfalls. Ich war sicher, er hatte den Mund weit aufgesperrt, staunte, gab abrupt den Eingeschnappten. Vielleicht heulte er wirklich. Ganz sicher würde er gleich nach Einzelheiten fragen. Die Reise, die Begleitumstände, die Beteiligten. Alle, alles. Und Helene würde ihm in ihrer Ahnungslosigkeit alle Fragen beantworten. Ich stieß meine Decke zurück und schwang mich aus dem Bett. Barfuß und in meinen Bettsachen stürmte ich in die Küche. Jonathan stand mit dem Rücken zur Kühlschranktür. Er sah bedeppert aus. Helene saß am Tisch. Sie lächelte mich an. War nicht verlegen, auch nicht überrascht, mich zu sehen. So, in der Schlaftracht. „Da bin ich“, begrüßte sie mich, und ich erwiderte: „Ich auch.“  

Es entwickelte sich. Zunächst meldete sich aus dem Schlafzimmer die Henriette. Eigentlich das Signal für Jonathan, sich um sie zu kümmern. Nein, sie war auch allein in der Lage, aus dem Bett und auf die Beine und in unsere Nähe zu kommen. Befriedigung der Neugier. Gut so, denn Jonathan verharrte ungeachtet ihres Rufes an seinem Platz. Beobachtete. Wartete und erwartete. Ich sagte: „Helene versteht was von Büchern. Nicht nur schlechthin, sie hat einen Verlag. Und in diesem Verlag will sie ihr erstes Buch veröffentlichen.“ Jonathan zwinkerte nervös, ungläubig. „Heißt das, du arbeitest hier nicht an deinem, sondern an ihrem Manuskript? Du hast uns quasi getäuscht?“ In seiner Stimme schwang alles Leiden dieser Welt mit. Alle Verzweiflung. Alles Unvermögen, diesem Leiden begegnen zu können. Ich stöhnte, die Henriette schnabbelte unverständliches Zeug dazwischen. Eine gewisse Aufregung entstand. Zudem ging plötzlich die Türklingel. Helene lachte schrill. Sie fasste sich aber gleich und bot an: „Geh du mal zur Tür, Erasmus, dann erkläre ich deinem Freund die Zusammenhänge.“ Da sie mich nun duzte, geriet ich selbst in eine bedenkliche Schräglage. Sie bemerkte es, sie sagte: „Bei so viel Familienverwicklungen kann ich einfach nicht mehr Sie zu dir sagen.“ Ihr Blick wanderte zu Jonathan. „Zu dir auch nicht.“ Ich nahm das Du an. Ich erwiderte prompt: „Nein, geh du zur Tür. Ich kann ihm das besser erklären.“ Sie akzeptierte es, sie stand auf, ging zur Tür. Die Henriette schaltete sich ebenfalls ein. Sie war in Socken und klagte: „Hubert, meine Mülltonnen.“ Wir sahen uns an, Jonathan und ich. Wir lachten. „Mit Hubert kann sie nur mich meinen, und die Mülltonnen sind ihre Hausschuhe.“ Jonathan stieß sich vom Kühlschrank ab. „So einfach ist das erklärt.“ Ich hielt ihn am Arm fest. „Mit dem Manuskript, das ist noch einfacher. Helene hat den ersten Teil auf Korrektur gelesen. Es ist das erste Buch, das in ihrem Verlag erscheint.“
   Er hatte es sofort kapiert. Er entschuldigte sich bei einer Miene der Untröstlichkeit. „Hätte ich auch selbst drauf kommen können. Schon, weil ich weiß, du würdest mich nie hintergehen.“ Eine gewisse Peinlichkeit war ihm anzusehen. Er verschwand schnell, ich drehte mich um, da stand Clements in der Küche. „Jerominus.“ Ich fasste nach meiner Stirn. Der fehlte jetzt noch. Helene erklärte: „Er hat gesagt, er heißt Clements und gehört zu euch. Zu uns. Und er sucht einen Typ, der Jeronimus heißt.“
   „Jerominus!“, verbesserten Jonathan und ich sie wie aus einem Mund. Und die Henriette hallte es nach: „Jerominus.“ Sie nahm dankbar ihre Hausschuhe in Empfang. „Deine Mülltonnen lagen unter dem Bett, Henni. Wie immer“, erklärte ihr Jonathan. Im selben Moment entdeckte er Clements, er bekam Anblick riesige Augen.

Folge 82 vom 20. Juni 2020  

Clements sah etwas verwirrt aus. Zugleich war er um Versöhnlichkeit bemüht. „Bin wieder da“, sagte er vorbeugend. „Hab Brötchen geholt. Wollte mit euch frühstücken.“
   „Und die Kartusche?“, fauchte Jonathan. Er schüttete seinen gesamten Frust über Clements aus. „Mit deinem Backzeug können wir nicht drucken.“ Clements hob erklärend die Hände, wobei sich eine Tüte öffnete und zwei Brötchen auf den Boden fielen. Flugs bückten er und Helene sich nach unten. Es war wie im Theater, sie stießen prompt mit den Köpfen zusammen, verloren fast das Gleichgewicht und hielten sich aneinander fest. Die Brötchen erwischte keiner von beiden. Ich bückte mich rasch und hob sie auf. Ich legte sie vorsichtig auf Clements’ Tüte. Ich sagte: „Besser, du stellst die Brötchen erst mal weg und erledigst deinen Hauptauftrag. Kartusche holen. Sofort. Bei Jonathan hast du ziemlich schlechte Karten, er ist insgesamt ziemlich schräg drauf.“ Clements hatte einen knallroten Kopf bekommen. Vom Bücken und wegen der Aufregung. Nur die Lippen waren total blass. Ich heizte trotzdem nach. „Jonathan bringt’s fertig und haut dir eine rein, so sauer ist der.“ Clements erschrak, er sperrte den Mund weit auf. Er erat­mete sich mit japsenden Lungenzügen Sauerstoff. Und er presste die Brötchentüte fest gegen die Brust. Endlich entrang sich ihm die Erklärung: „Mein Nachbar ist in die Stadt. Holt neues Hühnerfutter. Ich hab ihm den Zettel mitgegeben, wo das mit der Kratusche drauf steht. Spätestens Mittag ist er zurück.“ Jonathan stöhnte qualvoll. „Wenn das gut geht, heiße ich Hubert. Oder Matula. Hubert Matula. Dann wirklich.“
   „Ja“, wisperte die Henriette in die sekundenkurze Stille hinein. „Ich hab’s verwechselt. Hubert ist falsch. Emil ist richtig. Oder Honsa.“ Sie merkte im selben Moment ihren neuerlichen Irrtum und zischelte unzufrieden unverständliche Laute der Bestürzung. Mehrstimmig wurde sie korrigiert. „Hubert heißt nicht Emil, sondern Jonathan! Und Honsa nennt ihn nur der Chef.“ Aber alle sagten auch: „Es ist nicht schlimm, Henriette. Wir wissen, was du meinst. Und wen.“  

Die Frühstücksrunde. Es hatte sich geglättet. Mit Clements, mit der Henriette und mit Jonathan. Helene hatte ihm die Lage nochmals erklärt. Und versichert: „Ich weiß ja auch nicht, wie Erasmus das mit dem Schluss gelöst hat. Bin selber gespannt. Und von dem, was ich gelesen habe, werde ich nichts verraten. Ich hatte ja auch ein paar Korrekturvorschläge.“ Sie litten und trösteten sich also gemeinsam. Diese beiden, die mit Henriette sowieso zu dritt waren. Clements litt indessen nicht mit. Das Leid war gar nicht mal allzu dicht an ihn herangekommen. Es ging ihm gut. Er sah glücklich aus. Es war ihm gelungen, sich zwischen mich und Helene zu setzen. Der Freund und die schicke Besucherin, an der auch Jonathan Gefallen fand. Clements redete nicht viel, wiewohl er auch nicht schwieg. Dauernd gab er zustimmende Kurzbemerkungen von sich. „Ach ja.“ „Stimmt.“ „Sowieso.“ „Tatsächlich“. Wohl fühlen nannte man seinen Zustand. Heimisch, gemütlich. Nicht mal Jonathans leicht giftige, durchaus auch von Eifersucht geschwängerte Blicke, die ihn in kurzen Abständen trafen, vermochten seine Laune zu trüben. Oder die Bemerkungen. „Ich will bloß für dich hoffen, dass dieser Nachbar nachher nicht mit dem falschen Teil hier aufläuft. Mit einer Kratusche. Dann kriegt er echt Ärger. Und du erst!“
   Es beeindruckte ihn nicht, es prallte schlicht von ihm ab. Er lächelte ungerührt, und einmal erwiderte er lammfromm: „Ach, Jonathan, Jungchen, du wirst bestimmt keinem was tun. Schon gar nicht, wenn es sich um einen Freund handelt. Um mich.“ Helene pflichtete ihm bei. „Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der freundlicher und umgänglicher ist als Jonathan. Er ist in Erasmus’ Manuskript so ausgesprochen sympathisch beschrieben, und so erlebe ich ihn hier.“ Die Henriette murmelte sofort ihre Zustimmung. „Hubert, Emil, Honsa. Matula.“ Alle lachten, und Helene hob ihre Tasse. „Schade, ich hab keinen Sekt mit, sonst würde ich mit euch allen anstoßen. Weil’s so schön ist. Mit euch, mit uns.“
   Ja, Sekt. Alle fanden, ein Gläschen würde zur Stimmung passen. Da sich aber auch im Kühlschrank keine Flasche befand, griffen wir wenigstens auf ein Angebot zurück, das uns Clements machte. „Ich hab noch ’nen Schnäpsken in der Jacke. Zum Nippen für alle.“ Die Jacke, in der die Flasche steckte, hing im Flur. Er stand auf und holte sie. Sie war nicht allzu groß und bereits angebrochen war. Ein Modell namens Flachmann. Und als ihn Jonathan anschimpfte: „Das passt mal wieder total zu dir, heimlich einen kippen und dann offiziell von Nippen sprechen und vor uns allen den harmlosen Kleinbauern mimen“, schmunzelte er ein bisschen hämisch und goss jedem einen Schluck in die Kaffeetasse. Selbst die Henriette erbat sich ein paar Tröpfchen. Kaffee mit Weinbrand. Lecker.
   Wir saßen und saßen. Lachten und erzählten. Oder hörten zu. Es gab noch mal frischen Kaffee aus dem altmodischen Filter, und Clements’ heimliche Flasche beglückte uns mit immer neuen Schlückchen seines speziellen Weinbrands. Nippen statt kippen. Schön, wie viel Alkohol in den besagten Flachmann passte. Wie er sich im Kaffee angenehm verteilte.
   Ich glaube, es war bereits elf Uhr. Es hatte zu regnen angefangen.

Folge 83 vom 21. Juni 2020  

Da kam Edward Erster, mein Onkel. Und mit ihm geradezu ein Schwall von Herbstfrische und Sauerstofffülle. Edward hatte eine exemplarisch vitale Gesichtsfarbe. Dieser Mann wirkte gesundfrisch wie in den besten Jahren. Regennass kernig, die Ärmel seiner deftigen Joppe aufgekrempelt, die Scheiben der Goldrandbrille beschlagen. Einer, der mit der Bauerei noch mal sein eigentliches Element gefunden hat. Einer für draußen. Ein Macher, ein Organisator, der zupackt, dem nichts entgeht. Im zweiten oder wievielten Beruf. Vielleicht in der Berufung. Oder schon im nächsten Leben. Er schaute in unsere Küche, wischte sich ungläubig mit der flachen Hand die Feuchtigkeit aus den Haaren und putzte flüchtig über die Brillengläser. Fragte poltrig: „Wie sieht’s mit ’nem Happen zu essen aus, Honsa? Jetzt gleich?“ Er verschwand und meldete uns mit schweren Tritten seinen Weg über die Treppe. „Der zieht sich nur um und wäscht sich die Hände, dann ist er schon wieder hier und will was Handfestes mampfen“, prophezeite Jonathan. Es klang bange, schon leicht jämmerlich. „Ich hab gar nichts Richtiges, was ich ihm herrichten könnte. Schon gar nicht auf die Schnelle. Ich wollte heute Vormittag einkaufen. Stattdessen sitze ich hier. Mit euch. Auweia.“ Er steckte uns mit seiner Angst an. Sogar Helene wurde blass. Edward hatte sie nicht mal bemerkt. Wegen seiner beschlagenen Brillengläser und weil sie mit dem Rücken zu ihm gesessen hatte. Vom Stress, den er auf seinem Bauvorhaben hatte, ganz abgesehen. Sie flüsterte: „Am besten ich mache mich dünne. Ich verschwinde in irgendeinen Gasthof.“ Sie verwarf die Idee. „Geht ja nicht, hab ja Alkohol getrunken.“
   Clements schüttelte den Kopf. „Unser Gasthof hat im Herbst geschlossen.“
   Ich bot an, zu Edward in die Wohnung hochzugehen und ihm in groben Zügen die Neuigkeiten zu erklären. Ich war der Schutzpatron von Honsa. Und natürlich: Ich war sein Neffe. Brudersohn. Sein Erbe. Brudervater Ernesto stand nun nicht mehr zwischen uns. Oder wie war das rechtlich? Egal, ich würde sowieso alles Versäumnis und die Leichtlebigkeit des schönen Vormittags auf mich nehmen, zumal ich mich ja auch als Verursacher der improvisierten Frühstücksrunde sah. Da hakte Clements wiederum dazwischen. „Lass doch mal, Jerominus. Essen ist kein Problem. Ich hab mehrere Paletten Eier im Auto. Und Speck und Kartoffeln. Und Zwiebeln. Ich wollte eigentlich auf Verkaufstour gehen.“ Alle atmeten auf. Vor allem Jonathan. Egal, dass er spitz anmerkte: „Da werden deine sonstigen Abnehmer ja heute nichts zu essen haben. Einfach so blau machen.“ Wir sprangen von den Stühlen und stürmten zu den Utensilien, die Clements hereinholte. Wir arbeiteten Hand in Hand. Das Koch- und Küchenteam. Wir schnippelten und schälten, rührten und brieten. Speck, Eier, Zwiebeln; und Bratkartoffeln aus rohen, in feine Scheiben geschnittenen Knollen. Räumten den Tisch ab und deckten neu ein. Die Henriette gab von ihrem Lieblingsplatz aus ein paar überflüssige Anweisungen und Ratschläge, alles in ihrem Aphasie-Deutsch, wir lachten, wir meisterten unsere Aufgabe hervorragend.
   Vor allem gemeinsam.
   Edward Erster kam etwas später als er es angekündigt hatte. Er stand erst einige Augenblicke im Eingang der Küche, unbemerkt von uns. Bis die Henriette, die ihn natürlich stehen sah, wisperte: „Da ist schon Enkel Oddo.“ Für einen Augenblick hielten wir mit dem Arbeiten inne. Wir drehten uns fast gleichzeitig zum Eingang. Enkel Oddo. Und wir mussten uns gleich wieder wegdrehen, weil wir sonst losgeprustet hätten. Schöner, göttlicher Name. „Riecht ja schon lecker“, sagte Edward. Ein anderer an seiner Stelle hätte sich unbeholfen, unsicher benommen. Hätte sich ausgegrenzt gefühlt. Wäre vielleicht wieder gegangen. Seine Art war das nicht. Er wurde prompt initiativ. Tat vier Schritte voran und stand hinter Helene. Umfasste sie an der Schulter, zog sie zu sich herum. So standen sie sich gegenüber. Er sagte lässig, charmant: „Schön, dass man dich wieder sieht, Helene. Dass du hier bist.“ Er beugte sich zu ihrem Gesicht hinunter und küsste nacheinander ihre Wangen.
   Helene brachte kein Wort heraus.
   „Dachtest du, ich hätte dich nicht bemerkt?“, fragte Edward Erster und lachte unecht. „Immerhin kenne ich dein Auto von der Kur her. Überleg mal, wer dich auf der Straße aufgelesen und dir bei deinem verfrühten Abschied hinterhergewunken hat.“ Er hielt sie jetzt noch bei den Händen. Gar nicht so zur Freude von Jonathan. Auch nicht von Clements. Und die Helene selbst? Sie lächelte angestrengt. Höflich. Entzog sich ihm mit sanftem Geschick. „Mein Auto kennst du. Und meine Adresse, kanntest du die nicht auch?“, erwiderte sie leise. „Und die Telefonnummer?“
   Edward Erster reckte sich zu seiner ganzen Größe und Breite empor. Er sah auch jetzt, da er die Bauarbeitskluft nicht mehr trug, vital und starkmännlich aus. „Stimmt schon, ich hätte mich melden können. Müssen. Aber siehst ja. Inzwischen habe ich unverhofft eine Aufgabe bekommen, die mich voll und ganz in Anspruch nimmt. Eine Herausforderung, mit der ich gar nicht mehr gerechnet hatte.“ Seine Entschuldigung klang selbstbewusst, nichtsdestotrotz nach Fadenschein. „Momentan geht es auf dem Bau besonders zur Sache. Wenn man da nicht aufpasst und rechtzeitig dazwischen haut, kommt nachher ein anderes Haus als geplant heraus.“ Er hatte jetzt endgültig das Oberwasser. Er drehte den Kopf und redete so mit uns allen. „Stellt euch vor, bringen diese Nachtjacken von Tischlern heute früh acht Türzargen angeschleppt, bei denen keine Oberlichter aufgesetzt waren. Dabei war das klar und deutlich auf der Bauzeichnung markiert. Na, ich hab sie auf der Stelle zurückgejagt.“

Folge 84 vom 22. Juni 2020  

Wir kommentierten seine Siegesmeldung mit pflichtgemäßer Anerkennung und deuteten damit an, dass wir seine Empörung teilten. Was ja nicht gelogen, aber derzeit, während der Vorbereitung des Essens und der Klärung seines Verhältnisses zu Helene, nicht vorrangig war. Gewiss registrierte er diese Zurückhaltung. Er intonierte mit einer Floskel den Schlussstrich unter seine Versäumnisse. „Na, nun hast du den ersten Schritt gemacht und bist gekommen. Zu mir.“
   „Irrtum!“ Es war nicht Helene, die widersprach. Es war Jonathan. Seine Miene erging sich in weiser Resolutheit. Und neben ihm positionierte sich Clements, er verstärkte den Widerspruch kopfnickend und fungierte mit einem „totaler Irrtum!“ quasi als erweitertes Echo. Jonathan übersah und überhörte ihn. Er klärte endgültig auf: „Helene kommt nicht zu dir, Chef, sie kommt zu Erasmus. Wegen seines Buches. Sie hat einen neuen Verlag gegründet. Dort soll es erscheinen.“ Edward Erster staunte, jetzt wirklich, er nickte anerkennend. „Das sind die starken Frauen, wie ich sie liebe.“ Er versuchte Helene ins Gesicht zu blicken. Sie wandte sich rasch ab. „Diese Bratkartoffeln, wenn man sie roh in die Pfanne gibt, braucht man mehr Fett als üblich. Und man muss ständig rühren und sie wenden.“
   Wieder übernahm Jonathan ihr Mandat. „Das Thema Liebe wird vor dem Essen sowieso nicht mehr diskutiert. Da wird womöglich überhaupt nicht mehr drüber geredet.“ Und wieder verstärkte Clements diese Aussage: „Eben!“
   Edward Erster grinste. Ganz sicher hatte er kapiert, dass Jonathan für Helene eine hervorragende Sympathie entwickelt hatte. Und Clements. Er schien sogar Spaß an dieser Entdeckung zu haben.  

Es duftete, es brutzelte. Es schmeckte. „Das muss man deinen Hühnern lassen, dass sie gute Eier legen“, lobte Jonathan. Er rieb sich zur Bestätigung den Bauch. Clements wollte sich bedanken. Aber Jonathan schränkte auch sofort ein. Jetzt an Helene gewandt. „Wichtiger ist natürlich die gute Köchin. Da nützen die besten Zutaten nichts, wenn beim Kochen nicht auch eine geschickte Frauenhand im Spiel ist.“ Helene wich seinem Blick aus. Sie schwieg. Edward Erster meldete sich. Kauend noch, was sonst wegen der Einhaltung der Benimm-Regeln nie seine Art war. Immerhin hatte er problemlos die Hälfte des Mahls allein vertilgt. „Stimmt. Gute Spiegeleier mit Bratkartoffeln, das sieht zwar nach außen einfach aus und gilt als klassisches Junggesellenfutter. Man muss es aber auch erst zustande bringen.“ Jetzt lächelte Helene. Sie hatte eine angenehme, eigentlich schüchterne Art, das zu tun. Mit diesem niedergeschlagenen Blick, diesen leicht geröteten Wangen. Beinahe noch mädchenhaft.
   Hallo, Herr Dr. Erster, dachte ich.
   Jonathan dachte anders, er dachte für und an sich. Offenbar jedoch auch an uns. Er sagte: „Hast du schon eine Idee, was du morgen kochst?“ Helene erschrak fast. Schließlich erwiderte sie: „Bin ich denn morgen noch hier?“ Ehe jemand verneinen oder bejahen konnte, erhaschte Clements das Wort. „Also für morgen hätte ich ein gut bepacktes Suppenhuhn anzubieten. Wir müssten es heute Abend schon aufsetzen. Es sind auch selbst gemachte Nudeln da. Von Ella noch. Die sind keine drei Tage alt. Und Gemüse hab ich sowieso. Eingefroren, getrocknet, einiges noch frisch.“ Er blickte erwartungsvoll in die Runde. Mich bewegten augenblicklich zwei Fragen. Nein, nicht nur mich. Jonathan ging es nicht anders. Er hielt mit der ersten Frage auch keine Sekunde hinterm Berg. „Was soll das heißen von Ella noch? Ist sie –?“ Er vermochte nicht auszusprechen, was wir dachten. Er, ich, vielleicht auch Edward Erster und die Henriette, die große Augen bekommen hatten. Natürlich, es war unvorstellbar, was wir dachten, assoziierten: sie sei ge- oder verstorben. Unbemerkt. Clements hob abwehrend die Hände. „Neinnein, nicht, was du denkst oder meinst. Ella lebt, ziemlich gut sogar. Sie hat es mir am Telefon versichert. Sie ist zur Kur. Im Süden, in den Bergen. Da, wo schöne warme Quellen sind. Thermen. Seit gestern. Für vier Wochen. Mit der Aussicht, dass ihr danach noch zwei Wochen bewilligt werden. Oder vier.“ Er lächelte und sah glücklich aus. Jonathan stichelte: „Manchmal sind schon Leute nur noch für einen Tag aus der Kur nach Hause zurückgekehrt. Nur um ihre Sachen zu holen und dann zum Kurschatten zu verschwinden.“ Clements’ Lächeln breitete sich über das ganze Gesicht. Es zeugte von Unerschütterlichkeit. „Traust du Ella das zu?“ In der Gegenfrage klang auch so etwas wie Hoffung. Oder doch nicht? Die zweite Frage beantwortete sich demnach von selbst. „Kaum ist seine Ella weg, nistet er sich bei uns ein.“ Es war eine eher geflüsterte Randbemerkung Jonathans. Sie erreichte mein linkes Ohr gerade so, Clements’ Ohren allerdings nicht. Clements hatte ja selbst seine Frage: „Also das Suppenhuhn? Es hat dicke vier Pfund.“
   Und wieder Jonathan: „Von mir aus ja. Aber nur unter der Bedingung, dass Helene die Suppe zubereitet.“ Helene willigte ein. Mit einer grundsätzlichen Einschränkung. „Das Zubereiten soll nicht das Problem sein. Ich weiß bloß nicht, wo ich wohnen werde. In ein Hotel möchte ich nicht. Falls es hier überhaupt eines gibt. Und in diesem Häuschen ist ja wohl kein Bett mehr frei.“
   Jonathan widersprach. „Hier existiert mindestens eine unbelegte Luftmatratze. Da würde ich drauf schlafen. Dann könntest du in meinem Bett übernachten." 

Folge 85 vom 23. Juni 2020  

Sein Bett, Helene wusste es noch nicht, befand sich direkt neben dem der Henriette. Nur um die Breite eines altmodischen Nachttischs abgetrennt. Doch, jetzt erfuhr sie es. Die Henriette erklärte es, wenn auch umständlich und mit den üblichen Wortverfehlungen. Und in derselben Erklärung protestierte sie vehement. Neben ihr durfte nur einer schlafen: „Der Kellner. Matula. Hubert, Emil. Der Honsa.“ Helene, für einen Moment erschrocken, war erleichtert. Im Doppelbett und Doppelpack. Henriette, Helene, lieber nicht. Edward Erster machte sein Angebot: „Du schläfst bei mir oben. Ich hab die Couch und ein Bett. Kannst dir eines davon aussuchen. Es ist ruhig, die Sonne scheint morgens ins Fenster, und ein brauchbares Bad, das allerdings mal wieder geputzt werden müsste, ist auch da.“ Die Anspielung auf das zu putzende Bad richtete sich an Jonathan. Der Honsa hatte sich in Edwards Schatten zu einer Art Butler entwickelt. Offenbar erhielt er von Edward Geld. Für den Haushalt, für das Putzen, für die Betreuung der Henriette. Für die Bereitung des Essens. Beide, weder Edward noch Jonathan, sprachen darüber. Dieses Geld war jedoch für Jonathan kein Grund, vor dem großen Mann zu kuschen. Nicht, wenn es um unseren charmanten Gast ging. Ganz unumwunden äußerte er zu Edward Ersters Angebot Bedenken. Mit ihm Clements. Helene sollte keinesfalls zu Edward in die Wohnung ziehen. Jonathan begründete es in der eleganten, durchaus auch scheinheiligen Art: „Wir können dir das nicht zumuten, Edward. Du rackerst den ganzen Tag, du regst dich über vieles auf, du musst den gesamten Neubau überwachen. Wie willst du das durchstehen, wenn du keine ungestörte Nachtruhe hast?“ Edward Erster grinste verstohlen. Er hatte den wahren Grund begriffen: Jonathan und Clements ahnten, wussten, was er mit Helene vorhatte. Dass er sie sich angeln wollte. Vielleicht. Ungesehen und ohne wesentliche Mühe. Für wie lange allerdings? Sie würden ihm Helene nicht überlassen, Jonathan und selbst Clements, nicht so kampflos. Allerdings vertrat Helene ihre Interessen selbst. Sie lehnte, lächelnd, ab. Sie seufzte. „Wenn’s gar nicht geht, muss ich halt doch in den Gasthof. Bisschen Geld ist ja noch da. Und wie es aussieht, wird demnächst auch das große Haus nebenan bezugsfertig sein."
   Neinnein. Der nächste Widerspruch, der nächste Bewerber. Clements: „Helene kann mit zu mir kommen. Ella ist ja nicht da. Es ist Platz. Mehr als genug.“   
   Helene bekam große, erschrockene Augen. Dann vielleicht doch lieber zu Edward Erster ins Apartment? Oder gar zur Henriette in die abgerückte Ehebetthälfte. Jonathan lachte auf. „Wer weiß denn, ob sie bei dir sicher ist.“ Clements setzte schon zu einer Erklärung an. Helene ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Also, wenn sich sonst keine andere Lösung findet, schlafe ich auch gern selbst auf der Luftmatratze. Hier in der Küche. Oder bei Erasmus im Wohnzimmer.“ Der letzte Satz ließ uns aufhorchen. Mich mindestens noch mehr als die anderen. Fragende Mienen, denen Helene einen scheinbar unschuldigen Blick entgegensetzte. Und ohne weiteres Zögern Jonathans Einwand. „Das ist die schlechteste aller Lösungen. Erasmus arbeitet auch nachts. Da brennt dann das Licht, er hat das Fenster offen, und es ist kalt. Manchmal läuft er auch hin und her und redet. Da kommst du nicht zur Ruhe, und er findet keine Konzentration.“ Ich staunte. Was dieser Jonathan alles über mich wusste. Ich entgegnete: „Manchmal kommen auch andere Mitbewohner und unterhalten sich nachts mit mir.“ Jonathan wollte etwas erwidern, aber alle redeten auf einmal durcheinander. Selbst die Henriette wollte ihre Meinung loswerden. Das Gequassel dauerte durchaus eine Minute. Bis wir akzeptierten, dass einer den anderen nicht verstand. Es zog Ruhe ein, Stille. Edward Erster räusperte sich. Er wandte sich an Helene: „Wenn du das für das Beste hältst, kannst du im Wohnzimmer schlafen. Vielleicht tritt dir mein Neffe sogar die Couch ab und begibt sich selbst auf die Luftmatratze.“ Ich verneinte. „Die Luftmatratze ist deutlich bequemer als die Couch.“ Prompt mischte sich Clements ein, er hätte zu Hause ein brauchbares Reisebett. Sehr bequem zum Liegen und leicht aufzustellen. Er bot nicht nur an, das Bett zu holen, sondern versprach es. Und er setzte noch eins drauf: „Wäre ja sinnvoll, wenn ich meinen Schlafanzug mitbringe und dann auch hier schlafe. Auch im Wohnzimmer. Wenn Jerominus dann zu geräuschvoll und bei zu viel Licht arbeitet, ist gleich einer da, der ihn bremsen kann.“

Die Dinge nahmen weiter ihren Lauf, und ich nahm das Gesagte nicht übermäßig ernst. Ich telefonierte mit Tineke, die ich in der Spätmittagspause erwischte. „Hab heute wieder eine höllische OP hinter mir. Schwierig, sehr schwierig; und so was von langwierig. Aber erfolgreich. Erzähle ich dir alles mal in Ruhe. Was ansonsten hier los ist, du glaubst es kaum.“ Sie atmete tief durch. „Heute Nachmittag wird der Arbeitsplan für die nächsten vier Wochen aufgestellt. Ich habe dem Kurz-Franzl gesagt, dass ich künftig mehr freie Tage kriegen möchte, damit ich euch besuchen kann. Ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Wie sieht’s denn bei euch überhaupt aus?“

Folge 86 vom 24. Juni 2020  

Ich hütete mich, ihr jene wesentliche Nachricht zu übermitteln: Edward Erster hat auf dem Nachbargrundstück der Henriette einen Neubau angefangen. Genauer: Das Gebäude befindet sich eigentlich unmittelbar vor der Bezugsfertigkeit. Mit Zimmern und Appartements. Für uns. Wer aber ist das: uns, wir? Fast hättest du dort auch eine Arztpraxis bekommen. Fast. Nein, kein Wort sagte ich davon. Sie würde es nicht fassen können. Oder hatte Edward Erster ihr gegenüber nicht schon längst geplaudert? Hatten er und Tineke heimlich telefoniert? Ich sagte eher oberflächlich. „Es passiert fast nichts. Außer dass Jonathan von meinem Onkel neuerdings mit Honsa und von deiner Henriette mit Hubert angeredet wird. Das Zweite kann ich mir noch gut erklären, das Erste nicht so ganz. Egal, dieser Honsa alias Hubert hat nun einen Teil des Gartens umgegraben. Er will im nächsten Frühjahr biologisches Gemüse anbauen. Hätte gar nicht gedacht, dass er so loslegen kann.“ Sie stieß einen Laut des Erschreckens aus. Und sie sagte aufgeregt: „Das soll er nicht noch mal machen. Das kann ganz gemein danebengehen. Für ihn, für uns alle. Wenn er zu starker Belastung ausgesetzt ist, spielt womöglich sein Herz nicht mehr mit. Bitte, Erasmus, achte drauf, dass er sich nicht übernimmt. Er hat doch den Herzfehler, von dem ich dir erzählt habe. Keiner weiß genau, wie belastbar er ist. Ob überhaupt.“ Ich begriff es nicht. „Für mich ist er normal. Er kann laufen, sprechen, denken und fährt Fahrrad. Seine einzigen Absonderlichkeiten sind, dass er keinen geregelten Job machen will und keine feste Freundin hat. Vielleicht nie hatte.“  
   „Eben darum nicht. Wegen dieser Herzprobleme. Er darf sich nicht übernehmen. Schon gar nicht bei solch riskanten Hauruckaktionen. Er braucht eine regelmäßige Nachtruhe und sollte sich auch am Tag öfter hinlegen. Und alle psychischen Belastungen müssen von ihm ferngehalten werden. Er darf nicht unter Druck gesetzt werden.“ Ich sortierte in Gedanken die letzten Tage. Was hatte Jonathan gemacht, was war auf ihn eingestürzt, worüber hatte er sich aufgeregt? Vieles. Er hatte die Henriette bemuttert und für sie schwere Wäschekörbe herumgeschleppt, in der Küche und im Haushalt hatte er mit hochgekrempelten Ärmeln gearbeitet. Er war einkaufen gewesen. Mit dem Fahrrad. Er hatte im Garten gewühlt, wobei das meiste bereits bei meinem Eintreffen erledigt gewesen war. Er hatte ganz wenig geschlafen. Er hatte sich mit Clements gefetzt und wegen Helene einen deutlich höheren Pulsschlag erfahren. Er hatte vor Edward Erster so was wie Angst, nachher aber auch Courage gezeigt. Er war immerzu aktiv gewesen. Körperlich, geistig, nervlich. Und das mit einem Herzfehler. Du übertreibst, Kleine, dachte ich. Jonathan ist vielleicht nicht unbedingt ein Simulant. Aber ein schwerer Krankheitsfall kann er denn doch nicht sein. Nein, ich offenbarte Tineke meine Gedanken nicht. Sie hätte energisch protestiert. Ich fragte also nur: „Warum redet er mit mir nicht darüber? Er tut immer, als sei seine Konstitution einwandfrei.“ Sie atmete schnell, etwas ärgerlich. Und so redete sie auch. „Weil er nicht will, dass man auf ihn Rücksicht nimmt. Das sind die Folgen dieser übertriebenen Fürsorge in seinem Elternhaus. Er will nicht von Leuten, die er mag, bedauert werden. Solche wie du. Er würde sich dauernd bemitleidet und beobachtet fühlen. Und minderwertig. Das ist für ihn keine Freundschaft, keine wirkliche. Ich weiß von seinem Herzfehler auch nur, weil er einen Infarkt bekommen hat. Es ist in dieser komischen Tier-Handlung passiert, wo er einmal in der Woche gejobbt hat. Es herrschte an dem Tag fürchterlicher Betrieb. Er hat beraten, verkauft und mit allen möglichen Viechern hantiert, ohne sich eine halbe Minute Ruhe zu gönnen. Plötzlich ist er zusammengebrochen und kam von diesem Laden aus direkt ins Krankenhaus, ohne dass ich davon wusste. Ich hab es erst erfahren, als der Ladenbesitzer bei uns in der Wohnung anrief und wissen wollte, ob Jonathan schon wieder zu Hause ist und ob er sich für dauerhaft eine neue Arbeitskraft suchen soll.“ Sie holte tief Luft. „Bitte Erasmus, sag ihm nicht, dass du etwas von der Geschichte weißt. Es würde ihn fürchterlich bedrücken. Und bitte achte auf ihn! Ich hab ihn dir genauso anvertraut wie meine Henriette.“ Ich war fast sicher, dass sie jetzt weinte. Ein paar Tränen, die sie, wie Jonathan seinen Herzfehler, ebenfalls zu verbergen suchte und die womöglich gleich zu einem richtigen Sturzbach werden konnte. Ich dachte daher, sie würde sich unter einem Vorwand verabschieden und das Gespräch beenden. Nein, sie sagte etwas anderes. „Du, Erasmus. Ich hab was vor. Bei der Planung für unsere kommenden Arbeitszeiten. Mein Chefarzt, der Kurz-Franzl, kennt den Chefarzt von der Klinik in unserer Kreisstadt. Ziemlich gut. Du erinnerst dich an das Gespräch, das ich dort im Sommer hatte?“   
   Was für eine Frage. Ja, natürlich. Nichts hatte gepasst. 
   „Er will die Voraussetzungen schaffen, dass ich dort einen Teil meiner Vorbereitung auf den Facharzt absolvieren kann. Jeweils ein paar Wochen. Damit wäre ich dann bei euch. Bei dir. Wie findest du das?“ Ich fand es gut, hervorragend. Aber ich dachte nicht, dass es schon in naher Zukunft geschehen würde. Nicht schon jetzt. Sie plante, dachte, erhoffte es sich anders. Unmittelbar. „Vielleicht schon bald. Mal sehen.“ Sie kicherte, lachte. Es war geheimnisvoll. Und es machte mich froh, denn sie hatte damit ihre Sorge um Jonathan gemildert. Ich meinte das. 

Folge 87 vom 25. Juni 2020  

Abends meldete sich Tineke jedoch erneut. Sie entschuldigte sich, sie erklärte, sie fügte hinzu. „Du konntest es wirklich nicht wissen oder ahnen, wie schlimm es mit Jonathan tatsächlich ist. Aber versteh mal andererseits meine Situation. Und seine. Und deine.“ Ich bejahte ohne Zusatz. Ich verstand. Obwohl ich Tinekes Meinung nicht unbedingt teilte. Ich hätte sicher besser auf Jonathan Acht gegeben, hätte ich von diesem Infarkt gewusst. In der Tat wären jedoch in der aktuellen Situation alle weiteren Erläuterungen unpassend, vor allem verräterisch gewesen. Jonathan stand nämlich nicht weit von mir entfernt. Wir waren in der Küche. Er kämpfte mit einem Kilogramm Zwiebeln, aus dem er einen großflächigen Zwiebelkuchen zaubern wollte. Den Teig hatte er bereits ausgerollt und zum Gehen in den Backofen geschoben, die Zutaten lagen auf dem Tisch.
   Jonathan heulte. Wegen der Zwiebeln, ganz bestimmt auch aus einem anderen Grund: Ich hatte das Manuskript immer noch nicht ausdrucken können. Clements’ Nachbar, der mit dem Kauf beauftragt worden war, hatte sich für die Erledigung als unfähig erwiesen. Er kam mit dem Hühnerfutter und ansonsten mit leeren Händen zurück. Er hatte sich in dem nur mittelgroßen Elektronik-Markt nicht zurechtgefunden. Als Clements uns diese Nachricht überbrachte, zusammen mit dem Reisebett übrigens, dafür ohne ein Anzeichen des Bedauerns, erlitt Jonathan einen Anfall von Wut und Verzweiflung. Ich erschrak, als ich ihn erlebte. Er wurde blass und knallrot, eigentlich blau. Er presste wie einer mit einem Steckschuss seine flache Hand gegen die Brust. Er keuchte. Er brachte kein Wort heraus. Er brach zusammen. Er musste sich hinlegen. Nein, er musste hingelegt werden, von mir. Dann hielt ich seine Hand, Helene machte ihm nasskalte Umschläge, mit denen sie seine Stirn betupfte und die Waden kühlte. Auch sie sah sehr besorgt aus. „Kreislaufkollaps oder Epilepsie. Garantiert kriegt er das öfter. Man sollte ihn in eine Kur schicken. Auf jeden Fall behandeln. Sonst ist das mal plötzlich vorbei mit ihm.“ Als sie das sagte, schlief er bereits. Ohne meine Hand losgelassen zu haben, so dass ich vorerst nichts in Sachen Drucker-Kartuschen-Beschaffung unternehmen konnte. Als er wach geworden war, heulte er leise. Jetzt erst gab er meine Hand frei. Er stand mühevoll und umständlich auf, er umarmte mich heftig, wobei er sich überhaupt auch an mir festhielt. Er sagte: „Es ist nicht nur, weil wir immer noch nicht drucken und dein Manuskript lesen konnten, dass ich so ausgetickt bin. Es ist auch, weil dieser Stiesel von Eier-Clements kein bisschen begreifen will, was er mir angetan hat mit seiner Schlamperei. Mit seiner stoischen Gleichgültigkeit. Mit seinem bäurischen Stumpfsinn.“
   Ich erwiderte: „Auch wenn er einen anderen Horizont hat als du, ist er trotzdem ein guter Mensch. Er mag dich, uns. Er sucht sehr intensiv deine, unsere Nähe. Außerdem wird auch ohne ihn alles gut. Ich verspreche dir, morgen um die Zeit hältst du das ausgedruckte Manuskript in den Händen. Vielleicht schon eher.“ Er nickte traurig. Er sagte: „Es bedeutet mir so viel. Weil ich weiß, es ist von dir, und weil es ein ganz tolles Buch wird. Und weil ich darin vorkomme. Niemand hat mir bisher mal mehr freiwillige Aufmerksamkeit als nötig gewidmet. Außer Zintchen.“ Er erhob sich und ging für eine Weile ins Bad. Als er herauskam, sah er einigermaßen geordnet aus. Er beschloss, er werde etwas Hervorragendes zu essen machen. Erstens um sich abzulenken und um sich zu trösten, zweitens um uns zu beweisen, dass er kein nutzloses Individuum sei. Und nun Tineke am Telefon, dann auch Jonathan neben mir. Sie war wegen meiner Einsilbigkeit sofort misstrauisch. „Es stimmt was nicht. Stimmt’s?“ Er hingegen spitzte luchshaft die Ohren. Hielt mit dem Zwiebelschneiden inne. Was sollte ich Tineke erwidern? Außer: „Du irrst total! Es stimmt alles.“ Damit brachte ich sie noch viel mehr auf. „Ich merk’s doch, du bist so still. So ernst. So gestresst. So sorgenvoll. So hilflos.“ Ich verneinte. Ich sagte endlich: „Wir machen gerade Zwiebelkuchen. Das erfordert Konzentration. Ich muss mich erst auf deine Fragen einstellen.“
   Jonathan drehte sich um, sprühte einen fürchterlichen Blick über mich. Dazu erklang Tinekes Aufschrei. „Wenn Jonathan Zwiebelkuchen macht, dann geht’s ihm ganz schlecht. Dann ist das Schlimmste zu befürchten. Das hatten wir mehr als dreimal. Komm, sag, was los ist. Hatte er einen Zusammenbruch?“ Jonathan richtete den Blick zur Decke. Er war auch aufgeregt. Schon wieder. Er hantierte und gestikulierte mit einem monströsen Haumesser, seinem Zwiebelschneideinstrument. „Das ist Zintchen. Ich hab‘s gleich bemerkt. Wehe, Erasmus, du erzählst ihr, was los war.“ Die Tränen liefen in dicken Bächen über sein Gesicht. Er schwang das Haumesser wie ein Scharfrichter.

Folge 88 vom 26. Juni 2020  

Ich war völlig durcheinander. Mir fiel nichts anderes ein, als dass ich unversehens fragte: „Warum sagt er eigentlich immer Zintchen zu dir?“ Die Frage verursachte einen Bruch. Tineke war still, Jonathan starrte mich an, und prompt hörte das Heulen auf. Beide sagten zugleich: „Es hat sich so ergeben.“ Und dann fügte Tineke hämisch hinzu: „Dich nennen ja gewisse Leute auch Jerominus. Manche sogar Doktor.“ Ich lachte. Ich sagte mit starker Stimme: „Es ist alles in Ordnung. Jonathan hat versprochen, dass er sich fortan zurücknimmt. Er wird mich in Zukunft um Erlaubnis fragen, wenn er den Garten umwühlen oder sich wegen einer Nichtigkeit emotional hochfahren will.“ Ich hatte das wirklich resolut verkündet. Für sie, für ihn. Für mich. Tineke seufzte, es klang nach Erleichterung. „Danke.“ Sie zögerte, sie sagte dann noch: „Jerominus.“ Und: „Du bist ein guter Mensch. Und ein Doktor.“    „Ja“, erwiderte ich. „Und ein Freund. Niemand kann sich einen besseren vorstellen.“ Wir lachten. Auch Jonathan. Er bestellte Grüße und fragte, wann sie endlich käme. Zintchen. Die Henriette und uns alle besuchen. Ich gab die Frage weiter. Ich verschärfte sie. Ich erzählte Tineke von meiner großen Sehnsucht nach ihr. Sie kicherte. „Ich sag ja, sobald der neue Arbeitsplan fertig ist, weiß ich mehr. Und wenn dann immer noch kein freies Wochenende für mich rausspringt, werde ich nach Hantschuloko fahren und es dort der Verlobtheitskontrollbehörde melden. Ich würde dort den Status des Trennungsopfers beantragen. Kannst ja auch dorthin kommen.“
   Sollte, wollte ich nach Hantschuloko? Ich mochte den Namen nicht nennen. Wegen Jonathan. „Wir treffen uns hier“, bestimmte ich. „Schon wegen des Zwiebelkuchens.“ Jonathan lachte. Tineke ebenfalls. Es war schön. Wieder.  

Die Schlafplatzkonstellation wurde nachher nicht mehr diskutiert. „Wir nehmen’s, wie’s kommt. Dann wird’s wird kein Problem geben.“ Jonathan beschloss das so. Er sagte das zunächst nur zu mir. Ich stimmte zu. Ich war müde, nach dieser vorangegangenen kurzen Nacht, den Aufregungen des Tages. Er ebenfalls. Wir waren gerade dabei, den Zwiebelkuchen aus dem Ofen zu nehmen. „Wenn Zint­chen eine Stunde eher angerufen hätte, wäre es gar nicht zu einem Zwiebelkuchen gekommen“, gestand er. „Wir hätten uns ausgesprochen, und vorbei.“ Ich sagte, ich wüsste, was er meinte. Ich wüsste, dass er seinen großen Kummer mit einer Back-Arie abreagierte. Und ich wüsste auch, woher dieser Kummer rührte. Gesundheitlich. Und ich schimpfte mild: „Hättest mir das sagen sollen, können, müssen. Wirklich.“ Er lächelte beschämt, unsicher. „Ich wollte dich damit nicht belasten. Ich wollte dich zum Freund, ohne die Mitleidmasche einzusetzen.“
   „Quatsch“, erwiderte ich. Und ich forderte: „Für dein Misstrauen steht mir jetzt eine Entschädigung zu. Ich verlange ein besonders großes Stück Zwiebelkuchen.“ Er strahlte. Er setzte bereits zu einer neuerlichen Umarmung an. Ging aber nicht, denn die Mannschaft rückte ganz massiv an. Helene, Clements, die Henriette sowieso. Wenigstens verkündete er es sofort bei Tisch: „Erasmus bekommt das Hauptstück. Grund unterliegt der Geheimhaltung.“ Da lag also mein Anteil auf meinem Teller. Löwenanteil. Und ich gebe zu, der Zwiebelkuchen war nicht die schlechteste Folge von Jonathans Selbstrehabilitationsmaßnahme. Nicht nur ich meinte das. Sie aßen alle gut. Es gab jungen Wein. Und Bier. Gespräche. Gelächter. Verstohlene Blicke. Allgemeine und spezielle Versöhnungen. Freundlichkeit. Das stumpfe Kriegsbeil, das Jonathan zuweilen über Clements hatte kreisen lassen, ruhte nun in der Erde. Vielleicht würden es die Bauarbeiter einbetonieren. Morgen. Falls Edward Erster, der über allem und über alle herrschte und der nach dem Mahl in unangefochtener Selbstverständlichkeit allein in das obere Geschoss zog, dies gestattete. Er konnte es ansonsten auch anordnen.
   Erst mal zog er sich zurück. Für diesen Abend. Ohne das Thema Schlafordnung noch mal anzusprechen. „Mein Gott, das war wieder ein Tag. Aber viel geschafft. Einbauschränke, Lampen. Und morgen wieder. Morgen kommt schon vormittags der TÜV, um den Fahrstuhl abzunehmen. Ich sag euch, das war ein Tanz mit dem Architekten und nachher mit dem Bauleiter, damit das Gebäude einen Fahrstuhl kriegen konnte. Ewiges Gejammer: ‚Wieso denn für drei mickrige Etagen und einen Keller einen Aufzug?’ Als ob er das Geld dafür geben müsste. Naja, nachher ging’s halt doch problemlos.“ Er blinzelte stolz, blieb stattlich in Mannespose an der Tür stehen. Sagte: „Noch ein paar Tage, dann hat jeder von euch in der Villa ein komfortableres Bett als jetzt. Ein eigenes Zimmer mindestens. Schlaft mal alle gut.“ Treppe rauf. Der Kerl, der Athlet. Der Bauherr. Was für Verkündungen: Jeder hat ein eigenes Zimmer. Min­destens. Vielleicht ein Apartment. Also würden, durften wir dort wohnen. Neues Heim. Glück allein? Nein, nicht allein, sondern zu mehreren. Das Nähere würden wir erfahren.
   Und die andere Verheißung? Schlaft mal alle gut. Heute ein schwer einlösbares Ansinnen. Werwiewo? Mit und bei wem. Die Henriette hatte es am einfachsten von uns Zurückbleibenden. Sie ließ sich von Jonathan wegpacken. Bildlich gesprochen. Rein in das Uralt-Erbstück namens halbe Ehe-Kiste. Ein Gebet, das Lauschen auf die Brandung, auf den Wind. Auf den nächsten Tag. Hoffen, warten, da sein, ge­nießen. Schlafen. Noch ein Tag. Immer noch einer. Vorher bat sie noch in höchsten Säuseltönen, dass Jonathan unbedingt neben ihr liegen möge. In ihrer Nähe. Ein Meter.
   Weiches, gutmütiges Herz. Er versprach es. Und somit war ein weiterer Schlafplatz vergeben.

Folge 89 vom 27. Juni 2020  

Clements traf die nächste Entscheidung. Und er ging kein bisschen zimperlich vor. Er schaffte sein Reisebett in das Wohnzimmer und klappte es auseinander. Direkt unter dem Fenster stellte er es auf. „Ich sehe so gern in den Sternenhimmel, bevor ich einschlafe und auch wenn ich nachts aufwache.“ Seine Miene erstrahlte in einer kindlich naiven Glückserwartung. Was er aber wohl erwartete, von wem? Er wühlte in der Reisetasche, die er gleichfalls angeschleppt hatte. Entnahm ihr mit pedantischen Gesten verschiedene Utensilien. „Rasch noch ins Bad. Man will ja keine Geruchs- und Hygienebelästigung für seine Umwelt darstellen.“ Er blickte erst mich, dann Helene an. Wie ein Heilsbringer. Er verschwand. Helene lächelte ihm ratlos milde hinterher. Sie stand etwas unentschlossen da. Auch mutlos. „Ich könnte mit der Luftmatratze in die Küche gehen.“
   Ich schüttelte den Kopf, bot an: „Oder ich.“
   „Von wegen“, protestierte sie. „Ich allein mit diesem Clements. In einem Raum.“ Sie schwieg. Sie sagte dann resignierend: „Es war idiotisch von mir, mich hier einzunisten. Morgen verschwinde ich wieder.“ Ihre Miene spiegelte keineswegs dieselbe Überzeugtheit wie ihre Worte und ihr Tonfall. Ich half ihr daher, sich zu positionieren. „Wenn wir alle gegenseitig Rücksicht aufeinander nehmen, wird das schon gehen. Mit uns. Vielleicht können wir wirklich in ein paar Tagen in das neue Haus ziehen. Ein Bett könnte ja schon mal im Fahrstuhl aufgestellt werden. Wenn der TÜV ihn dann abgenommen hat.“ Mein Scherz stärkte sie. Sie scherzte zurück: „Aber nicht für Clements. Er würde den Sternenhimmel nicht sehen können.“ Wir lachten beide. Über unsere kleinen Witze und dann über Clements, der alsbald aus dem Bad kam. Er trug einen Schlafanzug, um den ihn jeder Filmproduzent beneidet hätte. Streifen an Streifen und jedes Stück mit Überlänge. Ein Zweiteiler, der in früheren Filmen trefflich als Häftlingsuniform hätte Verwendung finden können. Ihm gefiel das Stück. Nein, nicht dass er damit modische Ansprüche verband oder gar eitel sein wollte. Die praktische Seite hatte Vorrang. Warm, weit und sauber. Und bieder. Clements selbst war auch bieder. Er hatte keinerlei Hintergedanken, da er sich nun zum Schlafen hier einnistete. Der Wunsch nach Gemeinschaft hatte ihn und sein Reisebett in dieses Haus, an diese Schlafstätte geführt. Er selbst war ja gleichsam hilfsbereit. Beteiligte sich unaufgefordert am Aufpusten der Luftmatratze. Er lüftete ordentlich das Zimmer. Bot an, das Licht zu löschen, wenn wir alle lägen und fragte sogar, ob jemand fröre und er eine von seinen zwei Decken abgeben solle. Und er erwies sich, auf seine Art, als Gentleman. Er schaute weg, als Helene in ihrer Schlafmontur aus dem Badezimmer kam. Er wünschte höflich eine gute Nacht. Er fragte – auch dies – da sich Helene nicht auf der Luftmatratze, sondern auf der Couch eingebettet hatte, ob er später ihr Nachtlicht ausknipsen solle, falls sie noch lese. Nein, sollte er nicht. So blieb es noch hell, und wir entdeckten ihn nachher, wie er auf dem Reisebett lag, die Augen in der Tat durch einen Spalt zwischen den Gardinen zum Himmel gerichtet, die Hände gefaltet und die Lippen mit der Artikulierung eines Abendgebets beschäftigt. Leicht erlausc­h­bar, so dass selbst Helene ihr Buch, in dem sie jetzt las, weglegte. Das Vaterunser, langsam und andächtig, danach eine Fürbitte, die namentlich alle mit einschloss, die unter diesem Dach schliefen und die für ein glückliches Gelingen des Bauvorhabens unter der Regie von Edward Erster sorgen sollte. Ja und dann, ich traute meinen Ohren nicht, beauftragte Clements den lieben Gott, am nächsten Tag für ein gutes Gelingen beim Kauf einer Drucker-Kratusche zu sorgen.  

Ich schloss mich diesem Wunsch an. Vor allem tat ich das meine dazu, um dem lieben Gott den profanen Teil des Beschaffungsganges abzunehmen. Schon zeitig verließ ich die Luftmatratze, duschte, trank und aß eine Kleinigkeit. Wollte mich unauffällig aus der Wohnung schleichen. Sehr leise, sehr behutsam. Jedoch nicht leise und behutsam genug. Nachdem ich den Autoschlüssel und ausreichend Geld an mich genommen hatte, trat mir ein Mitbewohner nach dem anderen in den Weg. „Willst du etwa abhauen?“ Das war Jonathan. „Zu Zintchen nach Berlin?“
   „Oder womöglich zu deinem Vater in den –.“ Zum Glück bremste sich Helene selbst. Sie hatte vermutlich fragen wollen: in den Raumkreuzer? So wie es in der Geschichte stand, die sie ja zu einem guten Teil gelesen hatte. Erwartete sie, ich würde den Schluss entsprechend anlegen: Der Held stiehlt sich von seinen Mitmenschen davon, er versucht ins Weltall zurückzugelangen. Über Nacht hat er einen Wink bekommen. Ein Zeichen. Von Tonya, von Lurtz. Von einem Computer vielleicht. „Sei heute pünktlich um 8.22.43 Uhr genau 42,5 Meter hinter dem Deich, ein Hubschrauber steht bereit.“ Siehe aber an, es war Clements, der die Zeichen der Morgenstunde erkannt hatte. „Der Elektronikmarkt öffnet erst um halb zehn. Du würdest also sinnlos Zeit vergeuden, wenn du so früh in die Stadt fährst.“
   Eine Information, die mir ziemlich nützlich war. Halb zehn bedeutete, es blieben fast zwei Stunden. Die hätte ich öde in irgendeinem Steh-Café oder im Auto verbringen müssen.    

Folge 90 vom 28. Juni 2020

Na gut, allgemeines Aufatmen. Ich blieb, und alle begriffen, ich floh nicht, weder in die Hauptstadt noch hinter den Deich. Allein Edward Erster, der ebenfalls auf einmal in der Küche stand, empfahl mir, jetzt schon zu fahren. „Du könntest beim Klempner halten und ihm Bescheid stoßen, dass in zwei Badezimmern die Waschbecken nicht hundert Prozent versiegelt sind und ein Spiegel schief hängt.“ Na, danach stand mir nicht der Sinn. Dann doch lieber noch frühstücken, richtig. Jonathan bot sich auch prompt an, er werde Brötchen holen, für uns alle. Auch Aufschnitt. Frischen Kaffee, entkoffeiniert und magenschonend. Ich wies ihn zurecht. „Es regnet, es ist kühl. Von diesem Sturm gar nicht zu reden. Die erste Böe wird dich aus dem Sattel fegen. Besser also, ich fahre.“ Er schüttelte den Kopf. „Bin ich, seit ich hier wohne, vielleicht nicht jeden zweiten Morgen zum Bäcker oder zum Fleischer gefahren?“ Außerdem: „Und du? Willst du behaupten, dir machen Wind, Regen und Kälte nichts aus?“
   Ich fuhr dennoch. Ich nahm das Auto. Ich empfahl Edward Erster vorher, den Klempner telefonisch anzuniesen. Selbst. Besser: anzuschnauzen. Wie viel wirkungsvoller das sei. Tatsächlich, als ich vom Bäcker zurück war, stand das Auto des Klempners vor dem Neubau. Edward kam soeben von der Baustelle zurück. Er sah zornig, aber nicht unfroh, irgendwie abreagiert aus. „Hier schlägt noch der Blitz ein, wenn die Kollegen Bauleute sich nicht am Riemen reißen. Alle. Von den Rechnungsabschlägen gar nicht zu reden.“ Beim Frühstück wurde er ruhiger. Er aß mit gutem Appetit. Er trank mit Genuss. Er lobte mich. „Gut eingekauft, Erasmus.“ Und zu Jonathan: „Guter Kaffee, Honsa.“ Aber Jonathan gab das Lob weiter. Helene hatte gefiltert und aufgegossen. Auch den Tisch gedeckt. Geschmückt. Mit den letzten Blumen und schönen Zweigen, die ihre Herbstfarben zeigten. Geschmückt war sie auch selbst. Frisch geduscht, frisch gekleidet, dezent geschminkt, frechere Frisur. Ein Blickfang, der die Mitglieder unserer Frühstücksrunde wieder um einen Platz an ihrer Seite hatte wetteifern lassen und den Bauherren Edward Erster zu einer Einladung veranlasste: „Komm doch nach­her mal mit, dann zeige ich dir den ganzen Neubau.“
   Wollte sie kommen? Sie zögerte, sie zierte sich. „Müsste eigentlich in die Stadt. Mit Erasmus. Wegen der Patronen. Und eine Hühnersuppe sollte ich auch kochen.“ Clements mischte sich erschrocken ein. „Das Suppenhuhn. Ganz vergessen. Soll ich rasch los und eins bringen?“ Edward Erster entschied: „Nein, wir holen was vom Imbiss. Und was diese Kartuschen angeht, meinst du, der Junge kann die Dinger nicht allein kaufen?“ Er zog ein Bündel Bauzeichnungen aus der Innentasche der dunkelblauen Cordjacke, die er an diesem Morgen trug. „Das hier ist wichtig.“ Er legte die Papiere auf den Tisch, ungeachtet des vollgekrümelten Geschirrs, der Speisereste. „Ich sollte euch endlich informieren, wie ich mir die Aufteilung der Zimmer gedacht habe.“ Die Aufforderung richtete sich an alle. Dennoch blickte er Helene an. Sie reagierte auch als Erste. „Heißt das, ich könnte dort wohnen? Mit euch?“ Ein vorsichtiges, langsam sich vorwagendes, fast kindliches Strahlen überzog ihr ganzes Gesicht. Aufblühen nannte man das. Schon meldeten sich auch Jonathan, Clemens und selbst die Henriette. Es wurde wieder durcheinander geredet. Meinungen, Fragen, Ideen. Man verstand nicht wirklich etwas. Nur, dass es um die eine Auskunft ging: „Ist mit dem Wohnraum auch an mich gedacht? Wenn ja, welcher wird es sein?“ Edward Erster stoppte das Gewirr prompt. „Jeder von euch bekommt ein Zimmer oder ein kleines Apartment.“
   Die Stille, die kurz entstand, wurde Sekunden später schon von Jonathans erstaunt klingender Frage beendet: „Heißt das, du willst sogar Clements hier wohnen lassen? Etwa mit Ella?“ Es schien, als würde er sich schütteln wollen, müssen. Stattdessen beschloss er: „Also, wenn diese Ella hier einzieht, brauchst du nicht auf mich rechnen, Chef. Dann bleiben Henni und ich lieber in unserem alten Haus.“ Die Henriette nickte so kräftig, wie sie es wohl selten in ihrem Leben getan hatte. Doch Clements selbst nahm beiden die Befürchtungen. „Da geh mal nicht davon aus, dass Ella mit hierher zieht. Die bleibt schön auf unserem Hof. Ansonsten ziehe ich zu dir und zu Henriette.“ Er sah ernst aus, entschlossen. Sogar mutig.
   „Und du?“, fragte Edward und schaute mich an. „Und Tineke? Für euch hatte ich das Gebäude ursprünglich geplant, für euch habe ich es aus dem Boden gestampft. Wohnen und arbeiten. Apartment und Arzt­praxis. Na ja, das mit der Praxis wird ja nun nichts.“
   „Aber das mit dem Wohnen schon. Ein Apartment möchten wir auf jeden Fall haben. Meine Verlobte und ich. Wenn Tineke nun öfter frei bekommt oder in der Kreisstadt in der Klinik arbeitet, wird sie auch längere Zeit hier wohnen. Das kriegt dann alles seine Regelmäßigkeit.“  

Ich bekam Schwierigkeiten wegen des Druckers. Und somit wegen des Druckens. Wegen der Patronen, auch Kartuschen oder Kratuschen genannt. Es gab sie nicht. Gut zehn Minuten durchsuchte ich die Regale des Techniksupermarktes, danach wartete ich noch mal so lange, bis endlich der einzige zuständige Verkaufsmitarbeiter, nachdem er dreimal über den Lautsprecher ausgerufen worden war, antrabte. Und durfte erfahren: „Das ist so ziemlich der älteste Drucker, für den Sie da Kartuschen wollen. Für diese vorsintflutlichen Aggregate füh­ren wir seit ewig kein Zubehör mehr. Sie werden auch in anderen Läden keinen Erfolg haben, wenn sie danach fragen, auch nicht in anderen Städten. Die einzige Möglichkeit wäre, sie übers Internet zu bestellen.“
   Internet, das würde gut eine Woche dauern.    

Folge 91 vom 29. Juni 2020  

Und nun? Und jetzt?
   Da ich erst kurz vor dem Mittag bei unserem Küstenhaus losgekommen war, hätte es wenig Sinn gehabt, der selbstzweckdienlichen Weisheit des Verkäufers auf den Grund zu gehen und im nächsten Einkaufscenter nach diesen jämmerlichen Kartuschen zu fragen. Ich verließ den Laden und rannte verstört durch die Stadt, in der an diesem sehr tristen Tag das Leben in der Einkaufszone mit äußerst niedrigem Pulsschlag dahinsiechte. Ich aß voller Unbehagen an einem Imbissstand ein Fischbrötchen, obwohl ich darauf keinerlei Appetit hatte, danach trollte ich mich missmutig zum Computerladen zurück und kaufte einen neuen Drucker. Oder was sonst hätte ich tun sollen? Das Versprechen hatte ich Jonathan gegeben: „Morgen um die Zeit hältst du das ausgedruckte Manuskript in den Händen.“ Morgen war heute. Um diese Zeit war in drei Stunden. Drucken, dachte ich, so schnell wie möglich. Dabei grauste mir ganz und gar bei dem Gedanken, den neuen Drucker an das Notebook anschließen zu müssen und es wirklich so weit zu bringen, dass er meine Datei als gedruckten Text ausspie. Irgendwas, wenn ich in einer Notsituation ein technisches Gerät installieren sollte, ging immer schief. Der Druck wegen des Druckens, fabulierte ich, wäre das nicht der Titel für eine neue Story? Nur, wie sollte es inhaltlich langgehen? Keine Ahnung, ich dachte besser nicht über weitere Schreibprojekte nach. Das war nicht angebracht. Ich gab tüchtig Gas, ich überlegte, wie man einen Drucker anschließt. Wann hatte ich zuletzt vor einer solchen Aufgabe gestanden? Ich konnte mich nicht erinnern. Und über das Anschließen des Druckers, über die einzelnen Schritte, dachte ich nicht wirklich nach. Vielmehr kreisten meine Gedanken um eine Ausrede oder glaubhafte Rechtfertigungen, wenn der Wahrscheinlichkeitsfall eintrat und das Drucken misslang. Ich geriet selbst unter Druck. Drucker-Druck. Und die leicht düsteren Mienen, mit denen ich am Küstenhäuschen empfangen wurde, verschärften den Drucker-Druck-Eindruck. Jonathan stand in der Tür, Clements daneben, die Henriette, die auf ihrem Stuhl saß. Sogar Helene hatte sich postiert. Nur Edward Erster war nicht angetreten. Der reagierte sich ja auf dem Bau ab. Ich stellte den Wagen in die Einfahrt und stieg bei einem gewollt freundlichen Nicken aus. Ich nahm das riesige Paket mit meiner Neuanschaffung vom Rücksitz. „Ist alles OK bei euch?“, fragte ich unangefochten harmlos.
   „Und bei dir?“
„Hab ’ne neue Druckmaschine gekauft“, erwiderte ich sehr lustig. „Stellt euch vor, für den alten Drucker gibt’s schon keine Patronen mehr. Nicht mal Kratuschen. Dabei ist das Ding keine vier Jahre alt.“
   Schweigen. Jonathan sah auf die Uhr. Clements ebenfalls. Und dann auch die Henriette. „Wir stehen schon mindestens eine Stunde an der Tür. Du warst irgendwie überfällig.“
   Ich hantierte mit dem riesigen Karton, in dem sich der Drucker befand. Ich tat, als hätte ich die letzte Bemerkung überhört. „Diese monumentalen Verpackungen sind fürchterlich. Ich werde den Karton hier draußen öffnen. Dann macht das im Haus nicht ein solches Durcheinander. Ist doch auch in eurem Sinn?“ Ich lächelte zuversichtlich. Jonathan achtete nicht auf meine Ausflucht. „Du weißt hoffentlich, dass du genau noch eine halbe Stunde hast. Ja? Du erinnerst dich an gestern. Ja? Es war um drei.“ Er log, das stand fest. Es war um fünf, als ich das verhängnisvolle Versprechen abgegeben hatte. Mir blieben realiter noch genau zweieinhalb Stunden. Doch ich ging auf seinen Vorwurf nicht ein. Ich wollte ihn nicht provozieren. Seinen Kreislauf, seine Herzschläge. Vielleicht sein Leben. Ich riss an dem Karton herum. Hier eine Kante, mit der ich nicht fertig wurde, dort ein Falz, der sich nicht bezwingen ließ. Es war mühsam. Es kostete weitere Zeit. Aber es lenkte ab. Mich. Die Schar der Wartenden, vor allem Jonathan, nicht. „Ich gehe mal davon aus, dass du diesen neuen Drucker auch nicht gleich innerhalb von zehn Minuten zum Laufen bringst. Demnach wirst du dein Versprechen schwerlich halten können. Das ist Wortbruch.“ Seine Stimme klang nicht, wie man vielleicht hätte meinen können, anmaßend oder rechthaberisch. Nicht mal frech. Traurig klang sie, enttäuscht. Sogar zitterte sie spürbar.
   Er tat mir leid, und ich sorgte mich sofort, er werde neuerlich diese Herzprobleme bekommen. Ich sagte daher: „Ich beeile mich. Eine halbe Stunde, in der Zeit schließe ich normalerweise acht Drucker an. Die unterschiedlichsten Typen. Ohne vorher die Anleitungen zu lesen. Allerdings, mit diesem Karton, das macht nun doch Schwierigkeiten.“
   „Clements kann dir beim Auspacken helfen. Er hat ein Taschenmesser. Und was für ein Ding.“ Jonathans Stimme gewann sofort an Festigkeit, an Ruhe. Sogar an Wohlwollen. Er gab Clements einen leichten Stoß. Da stand der Sternengucker auch schon neben mir. Mit eben diesem Taschenmesser. Eine Machete? Vermutlich benutzte er dieses potenzielle Mordinstrument zum Köpfen seiner Hühner. Egal, dass an diesem Vormittag durch unsere Chaotik einem potenziellen Suppenhuhn das Leben gelassen wurde. Ritsch und ratsch, hatte er die Pappkiste an mehreren Kanten aufgeschlitzt. Er würgte die störrischen Seitenwände zur Seite, sodass ich das Innenleben, das abermals aus einer stabilen Verpackung bestand, herausziehen konnte.
   „Ihr müsst noch mal schneiden“, befahl Jonathan. Er wirkte hektisch, aufgeregt.  
   Helene bemühte sich um Ruhe. Durch einen Scherz: „Hoffentlich stoßen wir nach dem Auspacken nicht noch auf eine dritte Verpackung.“ Wir lächelten. Nur Jonathan orakelte mit neuen Sorgen: „Hoffentlich sind da auch alle Teile drin. Kabel, Stecker, die Software.“ 

Folge 92 vom 30. Juni 2020   

Diese Sorge schien unbegründet. Ich zog den Drucker heraus. Zugleich purzelte das komplette Zubehör, das in einer Plastiktüte verstaut war, auf den Boden. Clements bückte sich spontan. Er wollte nach den Sachen greifen, um das Auspacken, das Installieren, das Drucken zu beschleunigen. Im selben Moment schrie er auf. Schmerzen. Und wie. Es war der Rücken. Er wollte sich aufrichten. Vergebens. Er blieb gebückt. Neunzig Grad. Er schrie wieder. Oder immer noch. Er keuchte. Er blickte aus gerötetem Gesicht seltsam verkrümmt von unten zu uns herauf. So hilfesuchend. So hilflos. „Das sieht ja schlimm aus“, stellte Helene besorgt fest. Besorgt und erschrocken. Und erblasst. Jonathan wiegelte ab: „Kein Stück. So schlimm, wie es aussieht, ist es ganz sicher nicht. Einmal einrenken und alles ist vergessen. Er hatte das schon mal.“
   Die Henriette wusste es noch genauer: „Hat er dauernd.“ Sie kicherte schadenfroh.
   „Nee“, stöhnte Clements. „So schlimm hatte ich das noch nie. Ich kann ja nicht mal mehr laufen. Fühlt sich an wie eine Lähmung. Bitte sagt Ella nichts, falls sie anruft.“
   „Lähmung? Wenn nur Zintchen hier wäre, um ihn schnell einzurenken“, barmte Jonathan. „Jetzt müssen wir uns erst um ihn kümmern. Nun können wir nicht drucken.“ Es klang herzzerreißend, verzweifelt. Es ging ihm um das Drucken, nicht um Clements.
   „Wir drucken auf jeden Fall“, versicherte ich ihm. Und den anderen. Wem eigentlich noch? „Es muss allerdings auch was geschehen. Mit Clements.“
   Was sollte geschehen? Jonathan wollte den Verunglückten jetzt selbst retten. Er kam näher. Er packte Clements von hinten an den Schultern. Er drückte ihm sein Knie gegen den Steiß. Er versuchte ihn mit all seiner Kraft aufzurichten. Es misslang. Clements schrie fürchterlich auf. Viel voluminöser als eben noch. Bis hinüber zum Neubau hörten sie sein Wehklagen. Sofort erschienen ein paar neugierige Arbeiter. Endlich auch Edward Erster, mein Onkel. Der Bauherr. Und während die Arbeiter auf seine Anweisung hin schleunigst wieder im Gebäude verschwanden, blieb Edward eine Weile stehen. Er spähte, weil er nicht begriffen hatte, was geschehen war. Ich gab ihm daher ein Zeichen. Er kam zu uns herüber. Er stand kopfschüttelnd vor dem Gebeugten, der nach Jonathans derber Attacke vor Schmerzen wimmerte. Er sagte: „Irgendwo habe ich gelesen, Leute, die auf dem Land leben, sind gegen Krankheiten und Unfälle resistenter als Städter. Hier erlebe ich genau das Gegenteil.“ Und ohne Hast und Hektik nahm er sein chromblitzendes, streichholzschachtelgroßes, durch eine goldene Uhrenkette gesichertes Handy aus der Tasche. Er drückte eine einzige Taste und erhielt prompt einen Rückruf. „Unfall mit vermutlichem Wirbelschaden“, erklärte er nüchtern. Und: „Nein, nicht ich. Einer aus meiner Kolonne. Ein Älterer.“ Er nannte seinen, unseren Standort. Er drückte die Aus-Taste. „So. Schätzungsweise in zehn Minuten ist der Wagen der Ambulanz hier. Das sind geschulte Kräfte, die den Alten dann mitnehmen. Die wissen, wie sie einen Krummen soweit grade kriegen, dass er in den Sanitätswagen passt.“ Er drehte sich um und marschierte in Richtung Neubau. „Danke“, rief ihm Clements gequetscht hinterher. Edward winkte ab, ohne zurückzublicken. Er legte einen Schritt zu, denn zwei von den Monteuren verließen gerade das Gebäude. „He“, rief Edward Erster ärgerlich, „Feierabend wird gemacht, wenn ich das sage.“ Er schwenkte drohend seinen rechten Arm. Ob er auch eine Faust machte, konnte ich nicht sehen. Immerhin, die zwei Stromer kehrten sofort in das Gebäude zurück. Ich dachte an die Meldung, die Edward an den Notfalldienst gegeben hatte: „Ein Älterer.“
   Ich dachte, Clements ist auf jeden Fall einige Jahre jünger als Edward. Und unumwunden gestand ich mir ein, dass ich auf meinen Onkel stolz war.  

Immer noch nahmen die Dinge ihren Lauf. Immer weiter. Es wurde gerettet. Zwei Brechmänner in orangefarbenen Anzügen brachten Clements in die erforderliche Passform, um ihn problemlos im Krankenfahrzeug verstauen zu können. Es bedurfte nicht mal eines Arztes, und es ging auch ohne jeden Schrei und offenbar auch ohne Schmerzen, sogar ohne weiteres wehleidiges Gejammer ab. Lediglich, dass Clements bettelte, einer von uns möge mitfahren. Als Beistand. Seelisch und praktisch. Einer oder eine? Helene gab – nach unvermeidlichem Zögern – nach. Sie ging ins Haus und kam mit Clements’ Tasche zurück. „Ohne seinen wunderbaren Schlafanzug wäre er aufgeschmissen. Im Krankenhaus wären sie tieftraurig, wenn wir ihnen dieses kostbare Stück vorenthielten.“ Sie stieg in das Krankenfahrzeug. Ab ging’s. Ich stand mit Jonathan und der Henriette vor dem Haus. Am Boden lag noch immer die Tüte mit dem Druckerzubehör. Vorsichtig bückte ich mich danach. Als ich den Boden mit der Hand erreicht hatte, schrie ich nun ebenfalls: „Mein Rücken! Verdammt, woran liegt das, dass an dieser unglückseligen Stelle alle verunglücken.“ Jonathan stand sofort neben mir. Erschrocken, fassungslos. Leichenblass. „Sag bloß –?“
   Ich ließ ihn nicht ausreden. Ich schnellte empor. „Nein, es war nur gespielt“, entgegnete ich. „Oder denkst du, ich könnte dir das antun? Wo wir doch versuchen wollen, den Drucker in Gang zu bekommen.“ Er lachte jetzt. Er sah froh aus. Er tanzte direkt um mich herum, und nur knapp entging ich einer Umarmung. Und er korrigierte sich: „Du, Erasmus, ich hatte mich vertan. Es war gestern nicht um drei, als du das mit dem Ausdrucken versprochen hast. Sondern um fünf.“ Die Henriette pflichtete ihm bei. Wie immer, dachte ich. Und ich sagte: „Na also, haben wir sogar noch eine Schonfrist.“ 

Nachdem ich das Notebook und den Drucker per Kabel verbunden, eine CD eingeschoben und den jeweiligen Schritten, die mir nach und nach auf dem Bildschirm angezeigt wurden, Folge geleistet hatte, schaltete ich den Computer wie gefordert aus und wieder an. Man nannte es runter- und hochfahren.

Folge 93 vom 01. Juli 2020

Ich sagte: „In zwei Minuten sind wir soweit.“ Ich versuchte selbstsicher zu klingen. Ohne jedes Zweifeln. Jonathan staunte: „Toll, wie du das drauf hast. Und ich mistiger Kerl habe so blöd rumorakelt, du könntest es vielleicht nicht können.“ Er klopfte mir auf die Schulter. Mir wurde flau, ich dachte, bis jetzt ist keine Druckerfunktion bestätigt. Und ich dachte noch, was machst du, wenn sich hier gleich nichts tut. Wenn keine Druckerbestätigung erscheint. Dann haust du ab. Ins Watt zu den Ofenfischern. Du versuchst, einer von denen zu werden. Klein und haarig. Und hässlich?
   Nein, es geschah ein Wunder. Oder war es einfach mal Glück? Oder Können? Das Notebook benötigte statt der sonst üblichen zwei nun vier Minuten zum Hochfahren, aber es gab eine unerhört verheißungsvolle Meldung ab: Neue Hardware gefunden. In Betrieb nehmen? Ich bejahte mit der Entertaste. Prompt erschienen die Daten des Druckers und die Frage: Möchten Sie eine Probeseite drucken? Ich enterte abermals. Wir legten eine Seite ein, und der Drucker setzte sich mit den Geräuschen, die ansonsten wohl eine per Hand betätigte Schrotsäge verursachte und die zugleich seufzend klagend durch das Häuschen hallten, in Gang. Laut, langsam, schaurig ächzend und hin wieder eine Pause einlegend, das waren seine Erkennungsmerkmale. Und wenn schon. Die Seite sah gut aus. Nein, nicht so sauber und gestochen wie das Layout eines Hochglanzprospekts. Aber: Lesbar, brauchbar, solide.
   Ich öffnete die Datei mit der Geschichte. Tonya-001. Meine Geschichte. Die Geschichte meines Vaters, auch meines Onkels. Und die Geschichte einiger anderer. Tonya, Lurtz, der Computer. Und natürlich: Tineke, Jonathan, die Henriette. Clements. Ab sofort auch Helene. Wirklich, sie alle? Ein Stoßgebet, ein stiller Gruß an Tonya und Lurtz. Drucken. Es klappte. Danke. Hatte ich nicht das Gefühl, dass sie mir geholfen hatten? Nein, kein Gefühl, ich wusste es sogar. Es dauerte eine scheinbare Ewigkeit, ehe sich der Drucker in Gang setzte. Mehrmals stellte Jonathan bangend die Fragen: „Will er jetzt doch nicht? Haben die dich betrogen in diesem lausigen Medien-Schuppen? Werde ich denn niemals erfahren, was du über mich und uns alle geschrieben hast?“ Und natürlich das mitorakelnde Echo der Henriette im Hintergrund. „Sizilianische Verlobung ausgefallen.“
   Demgegenüber mein eisernes Schweigen und weitere Stoßgebete und Grüße in den Weltraum. Nur einmal die Mahnung: „Nun wartet doch mal ab. So ’n Drucker muss sich ja erst mal orientieren.“ Und in Gedanken rechnete ich die Zeit seit meiner Rückkehr nach. Waren die zwölf Wochen herum, die Tonya als Vorbereitungsfrist für den Start prognostiziert hatte? Schwebte, raste der Raumkreuzer jetzt endlich in jene Weiten, aus denen er zu Zeiten meines irdischen Lebens nicht mehr zurückkehren würde? Wenn ja, musste es mit dem Drucken klappen. Richtig, das kleine Druck-Monster gab plötzlich einen besonders schaurigen Sägelaut von sich, auf dem Bildschirm erschien die Meldung Datei wird gedruckt. 223 Seiten. Druckdauer eine Stunde 25 Minuten, und dann verschwand die erste Seite im Druckerschacht. Druckerschacht und Druckerschlacht. Letztere war gewonnen, ungeachtet der Opfer und Wirrnisse, die sie bis zuletzt begleitet hatten. Immerhin auch hatten wir das Zeitlimit nicht überschritten. Ich wurde nicht zum Wortbrüchigen. Hurra.  

Von dem Augenblick, da Jonathan die erste ausgedruckte Seite in den Händen hielt, herrschte eine Stille, die nicht einfach nur Ruhe war. Diese Stille stak voller Anspannung, voller Fresslust. Er verfraß dieses Manuskript. Jonathan, Honsa, Hubert, Matula, der Kellner. Eine Seite nach der anderen ging durch seine Augen in den Kopf. Es war eine ungeheure Gier, die hier waltete. Konzentration, Absenz. Ob der Text in seinem Hirn gleich verdaut oder erst zwischengelagert wurde, konnte ich nicht feststellen. Er saß am Küchentisch, hielt den Kopf zwischen den aufgestützten Armen, hatte Seite um Seite vor sich, las starrend, war nicht bloß versunken, sondern abwesend. Weder die Henriette noch Dominique, das zwischenzeitlich erscheinende und bei seinem Anblick nicht schlecht staunende Mannweib vom Pflegedienst, vermochten ihn von meinem Manuskript wegzulenken. Nur ganz selten, wenn er aus der Leseebene in die Gegenwart auftauchte, um sich ein neues Blatt zurechtzurücken oder sich zu überzeugen, dass der Drucker noch seine geräuschvolle Arbeit tat, nahm er mich als reale Person wahr. Ansonsten existierte ich für ihn nur in meinem Buch. Dem ersten.
   Klar, ich war stolz. Zuversichtlich. Gerührt. Froh. Es hat sich gelohnt, dachte ich. Wenn einer einen Text mit einer solchen Intensität verschlingt, so ist das wie bei einem Essen, das du einem Satten vorsetzt. Es schmeckt ihm so gut, dass er wie ein ausgehungerter Wolf darüber herfällt. Es musste gelungen sein. Gut. Andererseits dauerte mich die Henriette. Sie sah traurig aus. Sie saß auf ihrem Lieblingsstuhl. Wartete. Nickte kurz ein, wachte wieder auf. Wartete. Sie war es gewohnt, dass man ihr vorlas, wenn interessante Schriften auftauchten. Manuskripte von Erasmus Erster beispielsweise. Nun fand sie sich ausgegrenzt, hilflos auch. Blieb aber geduldig. Endlich kam ja auch Edward. Sein dunkelblaues Cord-Jackett hatte Flecken bekommen und am Rücken zeigte sich ein Dreiangel. Die Frage, woher der Verschleiß rührte, prallte von ihm ab. Er starrte gebannt auf den kleinen Stapel Seiten. Sie waren von Jonathan bereits bewältigt. Und er starrte auf den anderen Teil, den der Drucker mittlerweile ausgespuckt hatte. Der Rest.
   „Isses das? Das isses!“, stieß er trocken hervor. „Her damit.“ Aber Jonathan hielt die Seiten fest, ohne mit dem Lesen innezuhalten. Eben auch jene Seiten, deren Inhalt er kannte. „Ich kann dir das nicht geben, Edward. Chef. Ich muss das dann noch mal lesen. Wenn ich das durch habe. Das ist so unglaublich. So unglaublich und unfassbar. Auch wenn es wahr ist.“

Folge 94 vom 02. Juli 2020

Diese Ansage reizte Edward gewaltig. „Ach, noch mal lesen. Und dann vielleicht noch mal?“ Er wischte fahrig über einen Fleck auf seiner Jacke. Erfolglos. „Ich schufte hier wie nur was, ich reg mich auf und schrei mit diesen Nachtjacken vom Bau rum, damit ihr nachher wie auf Rosen gebettet seid und darf dann nicht mal den Bericht lesen, der mich am allermeisten betrifft.“ Jonathan blickte jetzt auf. „Ich bin nicht minder betroffen. Und Tineke.“ Er wurde nachdenklich, rückte mit den Gedanken vom Text ab. Sagte bei gerunzelter Stirn: „Erasmus wollte sowieso ein zweites Exemplar ausdrucken. Das kannst ja du haben.“ Schon folgten seine Augen wieder den Buchstaben auf dem Papier. Ich betrachtete die Packung mit dem Computerpapier und kratzte verlegen meinen Hinterkopf. „Weiß jetzt gar nicht, ob ich noch genug leere Seiten habe.“
   „Wie?“ Beide fragten es zugleich. Wenn nicht sogar auch die Henriette als Dritte.
   Ich fühlte mich unschuldig. „Die Packung war gestern noch mehr als halbvoll. Wer konnte denn wissen, dass ich das Manuskript wirklich doppelt ausdrucken muss?“ Jonathan tat, als ginge ihn das nichts an. Schnöde merkte er, bevor er weiter las, an: „Hier wird doch irgendwo ein Rest Papier aufzutreiben sein. Lächerliche zweihundert Seiten.“ Edward schnaubte ihn an: „Du solltest jetzt nicht unsere Freundschaft und alles andere aufs Spiel setzen, Honsa, nicht wahr?“ Dann kehrte er sich um und stapfte mit festem, schnellem Schritt die Treppe hinauf. Nach nicht mal einer Minute kehrte er mit einem Stapel Papier zurück. Er warf ihn herablassend auf den Tisch. „Bloß gut, dass ich da bin und mich um alles kümmere. Um wirklich alles. Zuletzt noch um das Papier für einen Drucker.“  

Ein ruhiger Abend bahnte sich an. Oder auch nicht. Zumindest wurde wenig, fast gar nicht gesprochen. Edward Erster las während des Abendbrots die ersten Seiten. Nein, es waren nicht jene, die ich in der zweiten Serie ausdruckte. Auf seinem (!) Druckerpapier. Es waren die von Jonathan. Irgendwie hatten wir ihn nun doch zur Herausgabe des Stapels bewegen können. Er bekam dann die neuen Ausdrucke als Ersatz. Und er überprüfte dies trotz des konzentrierten Lesens sehr genau. Denn auch Jonathan las unbeirrt weiter. Sogar während des Essens. Vertiefter, intensiver denn je. Ohne auf die Brote zu sehen, biss er ab, kaute, trank, legte das Brot weg und tastete, ohne hinzusehen, dann wiederum danach. Ein Stück wahres Leben und trotzdem eine Szene wie aus einer billigen Fernsehserie. Die Verwicklungen setzten sich freilich fort. Zwangsläufig. Während wir zu viert bei Tisch saßen und hauptsächlich schwiegen, kehrte Helene aus dem Krankenhaus zurück. Sie lächelte erschöpft. „Nach einem Auftritt, wie ich ihn bis eben erlebt habe, bin ich immer heilfroh, Single zu sein.“ Das klang jetzt ehrlich, ohne jede Koketterie. Ich rückte ihr einen Stuhl zurecht.
   Und ich rückte auch ihr Weltbild wieder etwas gerade: „Zum Glück sind nicht alle Männer wie Clements.“
   Sie erwiderte: „Kann ich mir nicht vorstellen.“ Sie ließ sich auf den Stuhl fallen und beschloss: „Ich brauche jetzt einen Schnaps.“ Wir hatten inzwischen eine Flasche mit friesischem Korn in der Wohnzimmerkommode gebunkert. Den holte ich, davon goss ich ihr ein. Sie kippte mit zackigen Bewegungen nacheinander den Inhalt zweier kleiner Gläser in sich hinein. Danach sah sie besser aus. War sie besser drauf. Ihr Blick wanderte von Jonathan zu Edward, die beide nur kurz aufgeblickt hatten, um dann weiter zu lesen. Sie lächelte erneut. „Andererseits lässt das hoffen, wenn ich sehe, wie hier gelesen wird. Dieses Interesse an deinem Buch ist ja wirklich unfassbar.“ Sie zögerte, fragte plötzlich: „Es ist doch dein Manuskript, die Geschichte von dir und deinem Vater, was sie da vor sich haben?“
   Ich nickte. „Und die Geschichte von Tineke, Edward, Jonathan und ein bisschen jetzt natürlich von dir.“ Die Henriette, die auch noch da war, meldete sich prompt: „Und von mir. Aber ich krieg’s ja nicht.“ Helene lachte. Sie sagte: „Du kriegst es schon. Und wenn ich es dir vorlesen muss. Sie wirkte zufrieden, sie aß, trank Tee und anschließend noch mal zwei Schnäpse. „Vielleicht wird es doch ein kleiner Bestseller“, mutmaßte sie zwischendurch. „Unser erstes Buch, ein Volltreffer.“ Sie lächelte. Danach gähnte sie. „Bin müde. Nach diesem Stress im Krankenhaus. Ich weiß gar nicht, wie ich dazu gekommen bin, für diesen Clements die Mutti zu spielen.“
   Clements, was war mit ihm?
   „Er liegt erst mal dort. Sie haben ihm eine Spritze gegeben. Aber die Schmerzen sind noch da. Morgen soll er untersucht werden. Bandscheibenvorfall. Könnte es sein.“ Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich kam mir ja doch recht komisch vor, als sie mich an der Patientenaufnahme fragten, ob ich die Tochter bin. Oder die Frau.“ Da niemand auf ihre Feststellung antwortete, gähnte sie wieder und sah sich um. „Eine Ruhe wie auf dem Friedhof ist das hier. Es bleibt einem tatsächlich nichts anderes übrig, als ins Bett zu gehen.“
   Auch jetzt reagierte niemand.
   Und ich?

Folge 95 vom 03. Juli 2020  

Ich stand auf und räumte den Tisch ab. Ich tat es absichtlich langsam und umständlich. Es ging um Aufmerksamkeit. Edward fühlte sich als erster und als Erster dadurch gestört. Er rückte unwillig mit seinem Lesestoff zur Seite. Ich rückte ihm mit dem Abwischtuch hinterher, so dass er endlich die Seiten zusammenraffte und aufstand. „Ich gehe nach oben. Gute Nacht.“ So kurz und klar konnte er sich ausdrücken. So unmissverständlich. Die Schule des Lebens. Des Berufs. Des Erfolges. Er verschwand, ohne zu zögern. Lediglich prüfte er mit einem schnellen Blick, ob er das komplette Manuskript zusammengerafft hatte. Ja, er hatte es. Das war Edward. Herr Dr. Erster. Der Onkel. Der Bauherr.
   Und Jonathan? Er blieb einfach sitzen. Las und las. Ich versuchte auch ihn mit dem Wischtuch in die Gegenwart zu stupsen. Nein, er schaute nicht auf. Er sagte allerdings: „Bitte lass das jetzt mal sein. Lass das mal insgesamt. Du gehst mir irgendwie fürchterlich auf die Nerven. Wenn ich das durch habe, können wir über alles reden. Das heißt, wir müssen es sogar.“ Auf seinem Gesicht hatte sich mittlerweile eine merkliche Röte gebildet. Ich dachte, wenn es ihn nur nicht zu sehr mitnimmt, was da geschrieben steht. Wenn es ihn nur nicht aufregt. Sein Blutdruck, dachte ich, sein Kreislauf. Wenn er das nur alles aushält. Prompt fing die Henriette an zu quengeln. Ihre Zeit war gekommen. Ab ins Bett. Ich half ihr. Ich tat das, was sonst Jonathan besorgte, wenngleich sie mit mir nicht richtig zufrieden zu sein schien. Er machte das eben besser. Gekonnter, geübter, wohl mit mehr Zuwendung. Und sie gab keine Ruhe. Als sie lag, moserte sie. Den Grund fand ich schnell heraus. „Vorlesen.“
   Nein, nicht ich. Ich hätte das nicht fertig gebracht.
   Ich erinnerte Helene. Und wenn ich es dir vorlesen muss. Gesagt war gesagt, versprochen war versprochen. Sie gähnte wieder. Aber sie stand zu ihrem Wort. Sie wollte der Henriette die Story vorlesen. Wir mussten nur an den ausgedruckten Text kommen. Wie? Edward hatte seinen Lese-Satz mit hinauf genommen. Blieben die Seiten, die Jonathan sich gegriffen hatte. „Können wir die nicht kurz haben?“, fragte Helene zuckersüß. Und sie versicherte: „Falls ich sie dir nicht zurückbringe, liegen sie am Bett. Sammelst sie einfach auf.“ Sie ahnte wohl, was in Kürze geschehen würde. Dass sie einschlief, beim Vorlesen.
   Jonathan brummte unwillig. Er hätte aber Helene nichts abgeschlagen.
   Helene stand zunächst am Fußende des Bettes. Sie las mit absichtlich lauter Stimme. Es klang eher pädagogisch als unterhaltend. Kein Wunder, dass die Henriette unwillig wurde und auf das freie Bett neben sich zeigte. Ganz sicher kam es Helene nicht ungelegen. Sie folgte dem Wunsche und las von dem Platz aus, auf dem ansonsten Jonathan lag. Und die Henriette war ziemlich zufrieden. Zehn Minuten und sie schlief. Sie und fast im selben Atemzug auch Helene. Sie hatte es vorausgesehen.  

Die Nacht hatte es dann in sich. Bis um drei Uhr hörte man unablässig die Schritte meines Onkels Edward Erster im oberen Geschoss. Aufgeregt lief er hin und her. Mal aufs Klo, mal zum Fenster, mal zu dem Kühlschrank, den er sich inzwischen dort oben hatte aufstellen lassen. Er redete, ich hörte es sehr genau. Mit wem? Mit sich? Mir war, als würde er mehrmals den Namen Ernesto rufen. Und als führe er mit jemandem ein Zwiegespräch. Mit sich. Oder mit seinem Bruder. Nachdem er endlich zur Ruhe gekommen war, begann er zu schnarchen. Laut und sägend, dass man es durchdringend bis in mein Wohn-Schlaf-Zimmer hören konnte. Ein Konzert der schrecklichsten Art. Dazu erlitt ich die optische Beeinträchtigung. Sie wurde vom Licht verursacht, das von der Küche her durch die breiten Türritzen auf mein schlafunwilliges Gesicht fiel. Jonathan saß jenseits der Tür am Küchentisch und las unbeirrt weiter. Auch ihn hörte ich. Wie er laut atmete, hustete, wie er seltsam röchelte; gelegentlich redete. Er also auch. Aber nicht, als hätte er einen Gesprächspartner und setze sich mit jemandem auseinander, sondern als würde er die Geschichte, meine nämlich, miterzählen, mitgestalten. Und miterleben. Er war aufgekratzt. Und ich auch.
   Dennoch machte ich den Schein des Lichts für meine Schlaflosigkeit verantwortlich. Und ich versuchte eben diese Schlaflosigkeit mit der Anti-Licht-Therapie zu überwinden. Ich schob etliche Male die Luftmatratze hin und her. Es nützte nicht. Ich drehte mich auf die dem Licht abgekehrte Seite und kniff die Augen richtig fest zu. Aber ich schlief nicht. Nicht wirklich. Ich plinkerte immer wieder zur Couch hin, wo ich vor dem Eintreffen Helenes meinen obligatorischen Schlafplatz gehabt hatte. Wenn ich dort liegen würde, ich wusste es zu gut, würde ich innerhalb weniger Minuten eingeschlafen sein. Die Couch war ja nicht belegt. Wie lange jedoch? Würde nicht, wenn ich mich endlich darauf bettete, doch noch Helene eintrudeln und sich genau hier zum Schlafen hinlegen wollen? Welch verhängnisvolles Missverständnis konnte, musste daraus erwachsen.
   Um vier Uhr ging ich zur Toilette. Ich warf zunächst nur einen verstohlenen Blick auf Jonathan. Er liest ohnehin noch, dachte ich. Er wird also nicht mit dir sprechen. Und ich war auch nicht zu einem Gespräch aufgelegt.  

Folge 96 vom 04. Juli 2020  

Nein, er las nicht mehr. Er war auch nicht zu sehen. Das heißt, er schon, sein Gesicht war es nicht. Er lag mit eben diesem Gesicht und den vorgeschränkten Armen auf der Tischplatte. Der schläft, dachte ich, gut so; ich werde, wenn ich von der Toilette komme, das Licht löschen. Somit haben wir beide Ruhe. Aber dann machte ich mir Vorwürfe. Er lag, fand ich, als ich das mit dem Klo erledigt hatte, so sehr komisch. So schief, so steif, so aufgegeben. So totenähnlich. Hilfe, ich erschrak gewaltig. Ich stand drei Meter von ihm entfernt und fühlte mich nicht minder steif. Ich brachte es nicht fertig, hinzugehen, ihn zu berühren, zu rütteln. Und zu fragen, was los sei. Bis ich sah, wie er kaum merklich zuckte und ein paar wimmernde Laute ausstieß. Da begriff ich, dass er weder schlief noch tot war. Er schluchzte.
   Natürlich, wenn jemand schluchzt, ein Mann zudem, so fühlt man sich als Zeuge eigentlich immer befremdlich berührt. Heulende Männer gelten als peinlich. Jetzt empfand ich das nicht so. Ich empfand Mitleid. „Was hast du?“, fragte ich ohne nachgedacht zu haben. „Geht’s dir nicht gut, mit dem Herzen, oder ist es wegen der Story?“ Ich tat ein paar Schritte auf ihn zu. Er drückte sich langsam von der Tischplatte hoch. Tränennasses Gesicht, nasse Flecken auf den Seiten des Manuskripts und auf der Tischdecke. Doch er sah nicht unglücklich aus. Er lächelte auf einmal sogar. „Ich bin so tief gerührt, Erasmus. Du hast an mich gedacht und über mich geschrieben. Und du hast Tonya gefragt, ob sie und dein Vater mich nicht mitnehmen wollten. Zu diesem schönen fremden Planeten.“ Er seufzte, er wischte mit einer Hand über das Gesicht. Er strahlte auf einmal. „Weißt du, als ich diese eine Stelle gelesen habe, konnte ich mir das ganz intensiv vorstellen. Dort hinzukommen. Auf den Raumkreuzer. Und teilzunehmen. Fortzugehen. Fortzureisen. In das andere Leben, das so viel schöner und ergiebiger ist als unseres. Viel länger. Irgendwie ewig. Nur mit Freunden, in einer guten, modernen Gesellschaft. Wo alles durchdacht ist. Wo man nur gute Eigenschaften kennt.“ Er seufzte abermals, jetzt zutiefst herzzerreißend. Und er sah doch wunderbar glücklich aus. „Es ist schade, ich wäre so gern dabei gewesen. Ich hätte ja gesagt, wäre ich gefragt worden, ob ich mit will. Klar, am liebsten mit dir und Tineke. Und mit Helene und der Henriette. Und sogar mit Edward und diesem Clements.“ Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen. „Fortan werde ich davon träumen, dort zu sein. Erst in dem Raumkreuzer, danach auf dem fernen Planeten. Es wird mir helfen, mich glücklich machen. Und dein Manuskript, dein Buch, das werde ich sooft lesen, bis ich es auswendig aufsagen kann.“
   Ich schwieg eine Weile, ich dachte über sein Bekenntnis nach. Ich sagte: „Es geht mir auch oft so, wenn ich was Spannendes gelesen oder als Film gesehen habe. Ich denke mich dann tagelang in die Handlung rein. Spiele da mit oder setze mich einfach mit allem auseinander. Irgendwann ist das dann vorbei, dann ist wieder normales Leben angesagt. So wird dir das auch gehen. Mit dieser Geschichte. Ich bin ganz sicher.“ Ich gähnte. Ich sagte ihm, da Helene neben der Henriette schlief, sei im Wohnzimmer die Couch frei. Ein guter Platz, um wenigstens noch zwei oder drei Stunden zu schlafen. Auszuruhen. Ab- oder umzuschalten. Oder den Traum noch einmal in Gedanken auszuleben, um ihn schließlich ausklingen zu lassen. Möglichst für immer.“
   Er lehnte ab. „Ich würde gern spazieren gehen. So durch die Nacht. Mit meinen Gedanken, mit eben diesen Träumen.“
   Ich schüttelte den Kopf. „Es ist ein fürchterliches Mistwetter. Wind, Regen, Kälte. Es ist Herbst. Und finster. Du holst dir schlimm was weg.“
   Er stand auf. „Und wenn schon. Vielleicht hilft mir das. Könnte sein, sie suchen so kurz vor ihrer Abreise in die andere Galaxis plötzlich doch noch nach dir. Weil sie denken, du hast es dir überlegt und wollen dich mitnehmen. Und sie stoßen auf mich. Ich würde ihnen erklären, wie viel mir daran liegt, mit ihnen zu reisen.“ Er lächelte, er wirkte melancholisch hoffnungsvoll. Oder hoffnungslos?
   „Nach meinen Berechnungen haben sie ihren Standort verlassen. Schon vor zwei Wochen unserer Zeitmessung.“ Ich sagte das einfach so. Und ich sagte: „Zwei Wochen, das heißt was bei der Geschwindigkeit, mit der sie durch das All rasen. Das ergibt eine unvorstellbare Entfernung.“
   Er widersprach. „Man muss dran glauben. Das hilft.“
   „Möchtest du, dass ich mitgehe?“ Es war ein Angebot, das mich viel Überwindung kostete. Wegen der Müdigkeit, wegen des elenden Wetters.
   Er lehnte resolut ab. „Falls sie wirklich kommen sollten, würdest du mich nur daran hindern wollen mitzugehen. Mitzureisen. Wegen deiner Gutmütigkeit. Und wegen deiner Freundschaft zu mir. Und weil ihr euch immer um mich sorgt. Du und Tineke. Vor allem, weil du Angst hast, ich könnte es dort nicht schaffen. Du denkst, dort wäre es zu schwer für mich, und hier habe ich es leichter. So leicht wie du es hast.“

Folge 97 vom 05. Juli 2020  

Er lächelte traurig. „Ich beneide dich oft, wie du mit allem fertig wirst. Wie du nicht aufgibst. Für dich ist das Leben auf dieser Erde wie gemacht.“ Er hob die Hand, als ich reden, ihm meine eigene Situation erklären wollte. Es war eine so eindeutige Geste, auf dass ich vor seiner Entschlossenheit kapitulierte. Ich wich zurück. Nicht mal mahnte ich, er solle sich wenigstens warm anziehen. Ich ging auf meine Luftmatratze. Ich hörte drei Minuten später das Klappen der Tür, danach seine Schritte vor dem Haus. Er war gegangen.  

Das Licht war aus, es war still, dennoch empfand ich alles ruhelos. Das Haus, uns Menschen darin, mich. Ich lag wieder wach. Wacher als vorher. Ich lauschte auf die Geräusche außerhalb des Hauses. Der Sturm, der Regen. Das Meer. Nordseeeinöde. Ungetrübte Trübheit. Zwischendurch die Lebenszeichen aus unserem Haus. Innen. Gespenstisch, irgendwie. Die harten Tritte des wieder erwachten Edward Erster auf den knarrenden Dielen der oberen Etage. Die Toilettenspülung. Der Rückweg zur Schlafstätte. Ächzendes Bettgestell. Alsbald das dröhnende Schnarchen. Die Stimme der Henriette aus der anderen Richtung. Wach geworden. Von den knarrenden Dielen, der Spülung. Auch von Edwards Schnarchen? Sie musste sich vergewissern, dass man sie nicht allein gelassen hatte. Helene murmelte etwas Unverständliches. Aber keine Schritte vor der Haustür. Kein Zeichen von Jonathan. Kam er nicht wieder? Ich dachte, noch fünf Minuten bleibst du liegen. Wenn er dann nicht zurück ist, stehst du auf, suchst ihn. Ob er das will oder nicht. Und ob du das willst oder nicht. Du, das war ich. Und auch ob: Ob sich die Boten des Raumkreuzers angekündigt oder ob sie es gelassen hatten. Ich nahm es mir ganz fest vor. Und ich gähnte fürchterlich. Ich schlief ein. Es war halb sechs. Eine Stunde später gab es gewaltigen Lärm. Die ersten Baufahrzeuge durchwühlten den Platz vor unserem Neubau. Ja, unserem. Auch meiner nämlich. Ich hörte Edward Ersters Stimme. Aus dem Flur, rein in die Küche, in die Schlafräume. „Donnerwetter“, posaunte er an diesem trübkühlen Morgen. „Die Einbauschränke. Und so früh. Ist ja mal eine positive Erfahrung.“ Danach klappte die Haustür. Seine schweren Schritte, draußen. Ich lag wie benommen. Müde, zermatscht, ausgepumpt. Leer. Aber nicht leer genug, um nicht schließlich an Jonathan zu denken. Er war nicht zurückgekommen. Oder? Bleib noch fünf Minuten liegen, dachte ich, dann steh auf, geh raus zum Deich, such ihn. Fünf Minuten, noch mal fünf, sollte er verunglückt sein und irgendwo herumliegen, würden ihn diese fünf Minuten nicht retten können. Oder würden gerade diese fünf Minuten das Quäntchen ausmachen, das sein Überleben bedeutete?
   Und wenn ich ihn dort sowieso nicht fand? Wenn ihn Tonya oder Lurtz aufgelesen hatten? So war er nun unterwegs zum Raumkreuzer. Lebenserfüllung. Glück. Glücklich. Oder das andere Schicksal: Er war ahnungslos ins Watt gelaufen, hatte nicht mehr zurückgefunden. Die Flut hatte ihn erwischt. Eiskalt. Hatte sein Leben innerhalb von Minuten beendet. Nicht mal die Ofenfischer hatten ihn retten können. War er dann nicht auch glücklich? Zumindest spielten fünf Minuten dann überhaupt keine Rolle mehr. Ich schlief abermals ein. Eine halbe Stunde diesmal. Und längst nicht so fest wie vordem. Halbschlaf mit Halbtraum. Halbwach?
   Ich wusste es nicht, auf einmal sah ich Tonya in Übergröße. Wie auf einer riesigen Kinoleinwand, sie sprach zu mir, und es war in der Sprache, die ich unterbewusst gelernt, die man mir in der Raumstation eingepflanzt hatte. Tonya sagte: „Erasmus, ich melde mich ein letztes Mal, um mich von dir zu verabschieden. Unser Programm läuft bereits auf Stufe zwei. Wir sind gestartet. Es war gut, dass du bei uns warst. Ich, wir alle nehmen die Erinnerung an dich mit. Und ich melde mich auch wegen Jonathan. Er wollte mit uns kommen. Es geht nicht. Er erfüllt die Anforderungen nicht. Er würde in der neuen Welt nicht glücklich sein. Er könnte dort nicht bestehen. Und er muss nach dem Unfall von heute Morgen erst reanimiert werden. Dort, in eurer Klinik. Wir können uns damit nicht aufhalten. Aber er wird überleben. Leben wird er. Gut leben. Und glücklich. Bei euch. Das genau ist seine Bestimmung.“ Sie lächelte, dabei hätte sie wegen des Abschieds traurig sein müssen. „Leb wohl, Erasmus. Es war gut, noch mal in deiner Nähe gewesen zu sein.“ Ihre Lippen zitterten jetzt. Oder? Nein, die Stabilisatoren schalteten sich ein, das Lächeln kehrte zurück. „Ich werde deinem Vater von diesem Gespräch erzählen. „Mach’s gut …“ Das Bild löste sich auf. Sie, Tonya. Sie verschwand. Ich nahm sekundenlang nichts weiter wahr als ein tiefleeres Nichts.   
   Gab es so etwas? Solche Erscheinungen, Visionen.   
   Ich hörte Geräusche. Im Flur, in der Küche. Die Haustür wurde aufgestoßen, ein Luftzug breitete sich im Haus aus. Morgenluft, Morgendunst. Von der Deichstraße her erklang das aufrührende, aufrüttelnde Heulen von Martinshörnern. Der Notarzt. Oder die Feuerwehr. Vielleicht die Polizei. Vielleicht diese drei Instanzen. Eine herbe, durchaus von männlichen Hormonen mitgesteuerte Frauenstimme hallte durch den Flur. „Erasmus?! Wo bist du?“ Und abermals: „Erasmus, du musst sofort kommen.

Folge 98 vom 06. Juli 2020  

Was ganz Schlimmes ist passiert.“ Ich sprang von der Luftmatratze empor. Ich wusste, dass etwas geschehen war. Tonya hatte es gesagt. Unfall. Reanimieren. Trotzdem wartete ich, was Dominique zu sagen hatte.  

Ich stand vor der Tür des Chefarzt-Zimmers. Ich klopfte. Es war das Klinikum der Kreisstadt. Hier hatte Tineke arbeiten wollen. Nein. Sie hatte sich nur erkundigt, welche Bedingungen sie vorfände, falls. Im Sommer war das. Sie hatte keine passenden Bedingungen vorgefunden. Es war fast ein halbes Jahr her. Ich fragte mich, was anders sein würde, hätte sie in dieser Klinik angefangen, wären sie und ich hier geblieben. Verlobung, neues Haus, Jonathan?
   Jonathan.
   Der Chefarzt ließ mich von seiner Sekretärin hereinbitten. Er empfing mich umgeben von einer zweckmäßig angelegten Möblierung. Er waltete hier über diverse Aktenmappen und hielt die Instrumente für seine Sprechzeiten bereit. Behandlung von Privatpatienten. Jonathan gehörte ganz sicher nicht dazu. Er war bei einer gesetzlichen Kasse versichert. Dass ihn der Chefarzt dennoch behandelte, deutete auf die Schwere seiner Erkrankung, des Unfalls hin. Man hatte ihn in ein Einzelzimmer auf der Intensivstation gelegt. Der Chefarzt redete Klartext: „Wir haben ihn ins künstliche Koma versetzt. Sein Herz. Da Sie sein Bruder sind, muss ich keine Einzelheiten auflisten. Sie wissen ja, wie er dran ist.“
   Ja, in gewisser Weise war ich sein Bruder. Freunde können schließlich auch Brüder sein. Und umgekehrt. Oder auch nicht. „Ich habe seine Krankengeschichte zurückverfolgt. Online ist das kein Problem. Trotz Datenschutzes. Ehrlich gesagt, so einen Fall hatte ich noch nicht. So wenig Eigeninteresse an einer entscheidenden Operation.“ Er schaute mich ernst an. Als Verbündeten. Als Mitwisser. Ich nickte zustimmend, kompetent. Und natürlich als Bruder – es war eine Vorsichtsmaßnahme, um den sich abzeichnenden Informationsfluss nicht aufzuhalten. „Vor einiger Zeit ist bei Ihrem Bruder angefragt worden, ob er sich für eine Transplantation listen lassen möchte. Und wissen Sie was: Er hat keine Entscheidung getroffen. Gar nicht reagiert hat er. Dabei wären seine Aussichten nicht schlecht gewesen. Er ist jung, er hätte eine entsprechende Lebenserwartung. Jetzt noch.“
   Hätte?
   „Das künstliche Koma war unsere letzte Möglichkeit. Es steht wirklich nicht gut.“ Ich zweifelte vorsichtig. „Immerhin konnte er reanimiert werden.“ Der Chefarzt sah mich seltsam fragend an. „Waren Sie dabei, als man ihn fand? Haben Sie mit dem Einsatzarzt gesprochen? Oder woher wissen Sie das? Reanimiert.“ Von Tonya. Ich lenkte von der Frage, von der Antwort ab. „Ich habe erst in diesem Sommer zu Jonathan Kontakt aufgenommen. Daher kann ich wenig sagen, was ein Spenderherz oder andere Maßnahmen angeht. Er hat auch mit mir nicht darüber geredet.“
   Er hörte nicht auf meine Ausflucht. „Wir, Sie können von Glück reden, dass er atmet. Mir ist unverständlich, wie jemand mit dem Handicap Ihres Bruders an einem solch kalten Morgen stundenlang im Freien herumläuft. Warum ihn auch niemand gehindert hat, nach draußen zu gehen. Mit diesem dünnen Anzug auch noch. Nichts drüber und nichts drunter.“ Er schüttelte den Kopf. Er sah direkt fassungslos aus. „Es geht mich ja nichts an, aber ich habe mich ernstlich gefragt, wo es solche Kleidungsstücke gibt. Und dann das übrige Unfassbare: Er hatte keine Papiere bei sich. Nur seinen Pass, mit dem er sich im Falle eines Unfalles als Organspender ausweist.“ Ich zuckte zusammen, und ich zuckte mit den Achseln. Organspender. Auch das noch. Selbst schon halb tot und dann die eigenen Organe für die Nachwelt zur Verfügung stellen wollen.
   Und der Anzug, der Zweiteiler. Kantemus-Klinik zur kühlen Ruhe. In der Rhön. Hatte womöglich jemand das irreführende Wäsche-Etikett weggeschnitten? Bei aller Betroffenheit und der Angst um Jonathan, ich hätte lauthals lachen mögen. „Kann sein, dass er Hitzewallungen hatte“, beschied ich den Chefarzt stattdessen. „Ihm war den Abend vorher schon so heiß. Auch an anderen Abenden. Und dieser Anzug, der ist halt bequem. Der ist dehnbar und hält wärmer als man meinen mag. Jonathan trägt ihn furchtbar gern. Er hat ihn von seinem besten Freund geschenkt bekommen. Und er geht nachts häufig raus. Gerade zu diesen ungewöhnlichen Zeiten. Er kann dann gut nachdenken.“
   Der Chefarzt schüttelte zweifelnd den Kopf. „Fakt ist, eine Lungenentzündung hat er sich noch zusätzlich geholt, und was für eine. Das macht seine Herzgeschichte nicht gerade leichter.“ Es klang vorwurfsvoll, fast angriffslustig. Schließlich beschwor er einen abgegriffenen Satz aus diversen Arztserien und Spielfilmen: „Offen gestanden, seine Aussichten sind nicht rosig. Wir, Sie müssen in jedem Fall mit dem Schlimmsten rechnen.“
   Ich dachte erneut an Tonya. An ihre Abschiedsworte. Ich wiederholte sie, und ich wusste gut genug, dass ich damit gleich wieder Porzellan zerschlug. „Jonathan wird überleben. Es wird ihm gut gehen. Er wird glücklich leben.“
   Der Chefarzt sah mich schräg an. Er lachte, und damit brachte er eine Fülle an Unverständnis zum Ausdruck. „Sie sind also Hellseher. Vielleicht haben Sie für uns Ärzte noch weitere Ratschläge.“ Er erhob sich und ging zur Tür. „Wir werden Sie trotzdem informieren.“

Folge 99 vom 07. Juli 2020  

Auf dem Gang traf ich Clements. Anders gesagt: Ich wurde von ihm getroffen. Zunächst aus der Ferne. Da ich nicht ihn, aber er mich schon sah, gestikulierte er euphorisch und rief. Natürlich: „Jerominus!“ Er saß im Rollstuhl, eine ganz junge Krankenschwester, vielleicht eine Jahrespraktikantin, treidelte ihn an diversen Hindernissen und anderen Mitarbeitern und Patienten vorbei. Bis das Zwei-Personen-Gespann direkt vor mir stoppte. „Jerominus“, wiederholte er beseelt. Es geschah in derselben Lautstärke, mit der er mich soeben aus der Entfernung von zehn Metern geortet hatte. Diverse Köpfe flogen prompt in unsere Richtung. Erstaunte Mienen. Ich lächelte leicht verschämt. Oder sollte ich mich freuen? Vielleicht in gleicher Lautstärke bekennen: „Seht alle her, hier steht der einzige Jerominus dieses Erdballs. Doktor. Ein früherer Raumfahrer! Er ist der Vorbesitzer jenes sagenhaften Kleidungsstückes. Mintfarbener Zweiteiler. Er besucht gerade seinen selbsternannten Freund. Clements.“
   „Dass du dir die Umstände machst, mich zu besuchen.“ Er sah zutiefst gerührt aus, und so vermochte ich ihm nicht zu sagen, dass unser Zusammentreffen im Klinikum eher Zufallscharakter hatte. „Ich werde wohl noch einige Tage bleiben“, ging er nun nahtlos zum Beginn einer langwierigen Krankheitsbeschreibung über. „Ich kann zwar wieder grade sitzen. Aber das ist auch alles.“ Ich gab ein stilles Stoßgebet von mir: Dass mir diese Schilderung erspart bliebe. Ich wurde prompt erhört. Die ganz junge Krankenschwester mahnte zur Weiterfahrt. „Wir können hier nicht ewig stehen.“ Clements sah das ein. Er erklärte: „Ich hab einen wichtigen Untersuchungstermin. Muss gleich in die Röhre.“ Ich atmete auf und klopfte ihm auf die Schultern. Er erwog: „Du könntest ja warten, dann unterhalten wir uns nachher ausführlicher.“ Die Schwester unterbrach den Dialog nun endgültig. „Ich glaube, so viel Zeit wird Ihr Sohn nicht haben. Zu warten, so zwei Stunden rum. Oder länger.“ Sie zwinkerte mir zu und schob den Rollstuhl energisch weiter. Clements auch. Sohn und Vater …  

Während der Rückfahrt vom Krankenhaus brachte ich mich mit dem Auto unnötig in Bedrängnis. Die Müdigkeit, die mich wegen der schlafarmen Nacht verfolgte, überkam mich plötzlich mit Macht. Die Vorstufe eines Sekundenschlafes, in der ich um ein Haar die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hätte und fast aus einer noch nicht mal schwierig zu befahrenden Kurve getragen worden wäre. Ich atmete nach überstandener Gefahr tief durch. Ich beschloss, mich, sobald ich mein Ziel, das Küstenhäuschen, erreicht hatte, gleich hinzulegen, auszuruhen. Niemandem nützte es, wenn ich tragisch verunfallte und im künstlichen Koma gehalten wurde. Ich nun auch noch. Ob mit oder ohne Reanimation. Als dritter Fall aus unserer Gemeinschaft.
   Doch der Traum vom Traum, vom Schlaf, der blieb ein solcher.
   Edward Erster, der gerade vom Neubau zum Küstenhaus kam, hatte mal wieder fürchterlich mit seinen Arbeitern gewütet. Sein Gesicht glühte. Die Selbstgespräche belebten noch die Lippen, als ich aus dem Auto stieg. Ich dachte, ihm geht eine Menge anderes Zeug im Kopf und im Herzen herum. Nicht nur der Bau, der längst in die abschließende Phase des Ausbaus getreten war und ohnehin bald bewältigt sein dürfte. Die Aufregung hatte doch ganz andere Ursachen. Als er mich sah, wurde er ruhiger. Sein Gesicht jedoch blieb ein Spiegel der Gefühle und vieler Fragen. Die Fragen jedoch stellte er nicht. Nicht eine. Also antwortete ich von selbst. Ich sagte: „Jonathan wurde in ein künstliches Koma versetzt. Sie wissen nicht, was mit ihm wird.“ Mir fiel ein, dass er nichts von dem Herzfehler wusste. Ich sagte es ihm. Ich sagte ihm auch, dass Jonathan diese Krankheit weitestgehend verheimlicht hatte. Sogar vor mir.
   Er erschrak. Seine unverschämt gesunde Gesichtsröte wechselte mit Totenblässe. „Mein Gott“, stammelte er. „So ein junger Mensch. So ein netter. Und ich habe ihn immer für ein Weichei gehalten. Wegen seiner Gutmütigkeit und seiner An­hänglichkeit. Ich war manchmal richtig dicht dran, ihm die Leviten zu lesen. Hätte er nur einen Ton gesagt.“
   Ich erklärte ihm, was mir der Chefarzt erklärt hatte. Jonathan wollte keine Transplantation.
   Edward seufzte schwer. Er hatte Tränen in den Augen. Und das hatte ich bei ihm nur erlebt, wenn es um mich gegangen war. Meine Entwicklung, mein Starrsinn, das Starrsein. Ver­bohrtheit. Zuletzt im Zeichen der selbst auferlegten Schriftstelleraskese. Als er an mir zu verzweifeln schien. An jenem Anblick, den ich ihm in meiner spartanischen Hinter­hof­wohnhöhle geboten hatte. An meiner Rolle, in der ich mir mindestens in dem Maße selbst gefiel wie er sie verteufelte. 

Folge 100 vom 08. Juli 2020  

Ich begriff, dass ich ihm Unrecht getan hatte. Ich hatte das Bedürfnis, davon etwas gutzumachen. „Du“, sagte ich daher, „wir müssen nicht hoffnungslos sein. Wegen Jonathan.“
   „Sagen das die Ärzte?“, fragte er missmutig.
   „Nein“, erwiderte ich. „Tonya hat es mir gesagt. Ernestos künftige Partnerin.“ Ein Schein des Zweifelns und ein Schein des Hoffens huschten zugleich über sein Gesicht. „Hat sie es damals schon prophezeit, als du mit ihr in dem Raumkreuzer warst?“ Sein Blick durchbohrte mich beinahe.
   „Nein“, entgegnete ich. „Es war heute Morgen. Sie war da. Tonya. Auf einmal. In meinem Kopf. Aber auch außerhalb. Sie hat es mir versichert. Jonathan kommt durch. Daran glaube, darauf vertraue ich. Nur kann ich mit keinem darüber reden. Nur mit dir.“ Er zweifelte jetzt nicht mehr an der Wahrheit des Gesagten. Er sah sehr erleichtert aus. „Wenn sie es sagt. Die Freundin des großen Ernesto.“ Er seufzte. Er schwieg. Er sah mich an. Er wirkte unbeholfen, klein, trotz seiner Stattlichkeit. Erst, nach langen Sekunden, äußerte er sich zu dem Manuskript. Ein Manuskript, das für ihn zugleich ein wahrer Bericht, ein Dokument, eine Dokumentation war. „Ja“, sagte er schleppend, „ich muss dir danken. Du hast das so offen beschrieben. Transparent. So mutig. Auch über mich. Meinen Anteil an allem. Auch an deinem Leben. Das hat mich beeindruckt. Und gerührt. Ich bin natürlich im Leben oft genug gelobt und gewürdigt worden. Aber es geschah immer, weil eine Menge Leute etwas von mir wollten und von mir abhängig waren. Aus Uneigennützigkeit und mit Wärme hat sich niemals jemand auf meine Seite geschlagen. Diese Art des Lebens hat mich vorsichtig und äußerlich rau gemacht. Es hat mir quasi Röntgenaugen installiert, mit denen ich anderen Leuten in den Kopf und ins Herz blicken kann. Sogar in die Brieftaschen. Und nicht zuletzt bin ich deswegen ledig geblieben, kinderlos.“ Er lächelte jetzt, er strahlte nun selbst eine Wärme und Dankbarkeit aus, die ich an ihm nicht kannte. Er hatte, ich war mir dessen sicher, deren auch nie bedurft, weil er sich alle Erfolge erarbeitet und für seine Freundschaften unzählige Vorleistungen erbracht hatte. „Ich habe die ganze Nacht gelesen. Verschlungen habe ich dein Buch. Weißt ja, dass ich ein schneller Leser bin. Immer sein musste. Und ich hatte nachher noch Zeit genug nachzudenken. Über dieses und jenes. Über Veränderungen.“
   Ich dachte, wer über Veränderungen redet, der begibt sich automatisch in ein Klischee. Wie viele Menschen reden über Veränderungen, und es bleibt beim Reden. „Meinst du damit, dass du mit Helene zusammenziehen willst?“ Ich fand meine Frage irgendwie naiv, sie passte sich dem recht billigen Niveau dieser Vorstellung an. Er und Helene. Mit fast achtzig Jahren dann noch eine Partnerschaft eingehen. Mann alt und Frau erheblich jünger, wenn auch ohne Trauschein. Na gut, diese Frage war gestellt, mir rausgerutscht, ich konnte nicht einfach sagen, ich will gar keine Antwort, ich bin meiner eigenen Naivität auf den Leim gegangen. Er merkte es nicht, er schüttelte den Kopf. Nein. „Wir machen es so, wie ich es geplant habe. Sie kann dort mit wohnen. Helene. In dem neuen Haus. Du und Jonathan und die Henriette und meinetwegen dieser Clements. Und ich. Mal sehen, ob ich auch.“ Er lachte. „Und vielleicht noch jemand, der zu uns passt. Wir werden uns nah sein und Distanz haben. Jung und Alt, Arm und Reich, Schlicht und Intelligent, Anspruchsvoll und Schrullig. Und die Geschäftsräume werden wir auch belegen. Mal sehen wie. Uns drängt niemand.“
   Er sah jetzt zufrieden aus. Er strahlte. Er versicherte: „Ich werde mich auch nicht mehr wegen des Baus und des Bauens aufregen. Wegen der Baubuden- und sonstigen Rülpse. Habe ich gar nicht nötig. Es war eigentlich der Moment, da ich ihm hätte sagen wollen, sollen, müssen, wie sehr ich ihm nahe stehe. Er mir. Ein Moment, eine Situation, in der sich ansonsten Vater und Sohn, auch Ziehvater und Ziehsohn, umarmten. Herzlich und voller Rührung. Mit feuchten Augen. Wie in kitschigen Filmen, bei denen dann glücklicherweise anschließend die Ausblende folgt. Würde sie nicht folgen, hätte man nämlich über die Endlichkeit, die Kurzlebigkeit eben solcher Annäherungen und Kitschigkeiten berichten müssen. Alles Lüge, nur Schauspielerei. Somit war es nahe liegend, dass ich eine Umarmung nicht wagte. Auch oder gerade nach so vielen Jahren, nach so vielen Leben, nach so viel gemeinsamer Zeit voller Distanz und Respekt. Dafür hatte ich die Zuversicht, dass bei uns die Annäherung real blieb und die geplante Gemeinsamkeit nicht zur Farce schrumpfte. Im Übrigen hätte es gar nicht zu einer Umarmung kommen können. Die Haustür wurde aufgestoßen. Helene trat erschrockenen, tränennassen Gesichts heraus. „Schnell, kommt helfen. Der nächste Unglücksfall.“ Sie stob zurück ins Haus. Wir rannten ihr hinterdrein, und es gab kein Raten, wer der Gegenstand des Unglücksfalls sein würde, sondern nur die Frage nach dem Ausmaß.
   Die Henriette lag auf dem Boden. Die Augen waren geschlossen. Aber sie atmete. „Ich habe ihr aus dem Manuskript vorgelesen. Und an der Stelle, wo sich Vater und Sohn auf dem Bildschirm begegnen, ist sie abgekippt. Raus aus dem Stuhl und voll auf den Fußboden. Die Schilderung muss sie so sehr mitgenommen haben.“ Helene war völlig aufgelöst. „Es kam so plötzlich, so unverhofft. Und weil ich dauernd gelesen habe und auf die Seiten gucken musste, konnte ich sie ja nicht ständig im Auge behalten.“ Ich sagte, wir sollten sie sofort mit dem Auto in die Klinik fahren. Auf dem schnellsten Weg. Aber Edward hatte schon sein Handy gezückt. Und er hatte Recht: „Wenn der Notarzt herkommt, kann er sie gleich behandeln. In der Klinik müssen wir erst durch tausend Flure, und man weiß nicht, ob ein Arzt frei ist.“
   Er erledigte das Gespräch wie gehabt, dann leistete er Erste Hilfe. Puls fühlen, Füße hochlegen, Gesicht kalt abwaschen. Und immer wieder laut fragend: „Henriette, kannst du mich hören?! 

Folge 101 vom 09. Juli 2020  

Bitte nicht schlafen!“
   Tatsächlich kam sie wieder zu sich, bevor der Krankenwagen eintraf. Sie lächelte abwesend und murmelte, es sei alles nicht so schlimm, Helene möge bitte weiterlesen. Vorlesen. Wir halfen ihr auf und sagten ihr, dass gleich ein Notarzt käme und sie sicherlich ins Krankenhaus müsse. Sie seufzte beladen, und sie murmelte mit geschlossenen Augen, im gelben Kleiderschrank stünde die Tasche mit ihren Sachen. Gepackt. Für eben diesen Notfall, für die plötzliche Einweisung in ein Krankenhaus. „Mal herholen“, bat sie, dann schloss sie die Augen und schlief erst mal wieder, egal, dass wir nun zu dritt riefen: „Bitte! Henriette, nicht schlafen!“
   Wenigstens aber lächelte sie noch.  

Im Krankenwagen auf der Liege, die erste Infusion hinnehmend, sah die Henriette schon munterer aus. Sie hielt Helene, deren Begleitung sie wegen des Vorlesens und auch sonst verlangt hatte, an der Hand fest. Vielleicht wollte sie Helene eher Halt geben als bei ihr finden. Helene ging es selbst nicht gut. Auch ihr also nicht. Sie saß gebeugt, sie murmelte Selbstvorwürfe und Verzweiflungsbekenntnisse, und sie war blass, schwach, sie heulte wieder. Weil sie sich verantwortlich fühlte. Für den Unfall. Weil sie Angst hatte. Um die Henriette. Wohl auch um sich. Als sich nach schneller Not-Verarztung der Krankenwagen in Bewegung gesetzt hatte, sagte Edward Erster entsprechend: „Sollte mich nicht wundern, wenn wir gleich noch einen weiteren Platz im Krankenhaus belegen werden. Das wären dann vier.“
   Ich schwieg. Ich dachte, wie kann man Helene helfen?
   Offenbar erriet er meine Gedanken. Edward. „Ihr wird das nicht mal schaden, mal drei, vier Tage von allem weg. Von ihren Sorgen zu Hause, dem Rausschmiss bei der Arbeit. Sie hat schon in der Schweiz, als wir zusammen saßen, ewig von allem lamentiert, anstatt nach vorn zu denken, sich zu entspannen und sich für die Zukunft zu rüsten. Ich wollte erwidern, dass für ihn, der immer vorwärts marschierte und sich vor niemandem verbeugen musste, ein solches Reden leicht sei. Da lächelte er schon wissend. Freundlich. Er sagte: „Da sie nun mal zu uns gehört, und ich betone das: zu uns, werden wir schon dafür sorgen, dass sie nicht untergeht. Oder?“ Ich hätte gern etwas Freundliches gesagt, sogar ein Kompliment auf seine Hilfsbereitschaft. Ich glaube, er wollte es gar nicht. Er hielt die Distanz, die wir immer hatten. Äußerlich. Nur äußerlich. „Koch uns am besten einen Kaffee“, schlug er vor. „Wir können den beide brauchen. Nach dieser Nacht. Nach diesem Vormittag. Und bei dem, was uns noch bevorsteht.“
   Was stand uns denn bevor? Was denn noch?
   Er lächelte. Er sagte, nein, er verkündete: „Der nächste Tag ist nicht minder mit Überraschungen gespickt. Wirst sehen.“ Er blickte verschmitzt, geheimnisvoll. „Mach dir aber keine Sorgen. Es wird gut. Es wird sich positiv entwickeln. Ich verspreche es. Diesmal ich und nicht Tonya oder Ernesto.“  

Wir saßen bereits am Küchentisch. Wir schwiegen zunächst. Tranken Kaffee, knabberten Plätzchen. Eine Nähe und eine Familität, wie ich sie immer gewünscht und nie wirklich gehabt hatte. „Ich sag dir nachher Genaueres. Es war ein Anruf, den ich bekommen habe.“ Er spielte den Geheimnisvollen. „Erst erzählst du mir ein bisschen mehr von dem Drumherum. Von dem Raumflug, von den Eindrücken. Was du gefühlt hast. Von den Versuchungen.“
   Welche Versuchungen meinte er, Edward?
   „Hat es dich nicht doch gelockt? Mitzufliegen in diese ferne Galaxie, zu einem bekannten Planeten, auf dem doch alles anders als bei uns ist, anders wird? Ganz was Neues sehen, erleben. Mit aufbauen. Wirtschaftlich, sozial. Menschen finden und erfahren. Das fast ewige Leben ergattern. Die Erfüllung eines Traumes, den jeder lebensfrohe Mensch hat und von dem sich jeder Depressive die Rettung versprechen würde. Sich als Auserwählter fühlen. Und Tonya, sag mal ehrlich, ob du nicht in sie verliebt warst. Oder ob du Eifersucht empfunden hast. Würdest du dir das eingestehen, auf deinen eigenen Vater eifersüchtig gewesen zu sein? Als er auf einmal von seinen Absichten mit Tonya redete? Der eitle Gockel, hoch angesehener Wissenschaftler zwar, im Grunde genommen nur in seine Arbeit verliebt, der schnappt sich ein junges, knuspriges Ding. Das muss dich doch schockiert haben.“ Er nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse. Und er fragte endlich: „Bist du wegen Tineke nicht mitgeflogen?“
   „Wegen ihr. Ganz unbestritten. Und wegen euch. Wegen dir. Und es hat mich nicht mal gereizt, von hier abzuhauen. Ich habe angefangen, in dem Leben auf dieser Erde meine Erfüllung zu suchen, zu finden. Mit der Schriftstellerei.“ Ich überlegte. Weswegen war ich ansonsten zurückgekommen? „Wegen allem irgendwie. Weil es mir gefällt. Auf der Erde.“  

Wir saßen lange. Ich erzählte. Manchmal stellte er Fragen. Meistens hörte er zu. Und mir fiel immer mehr ein. Von der Reise in das Weltall. Von meinem Vater, von Tonya. Eindrücke, Beobachtungen, die ich in meiner Erzählung nicht aufgeführt hatte. 

Folge 102 vom10. Juli 2020

Erst jetzt tauchten sie in der Erinnerung auf.
Edward war so ruhig wie eigentlich noch nie vorher. Andächtig. Nicht mal der Bau, der Ausbau der neuen Wohnstatt trieb ihn zu weiterer Unruhe. Als ich ihn fragte, ob er nicht wenigstens am Nachmittag hinüber müsse, schüttelte er den Kopf. „Sie werden auch ohne mich arbeiten. Und wenn es Unklarheiten gibt, werden sie von allein kommen. Hierher. Sie werden es nicht mal riskieren, etwas falsch zu machen.“ Er saß auf dem alten Küchenstuhl wie der erhabenste König aller Königreiche und aller Epochen. Ein Bild voller Ruhe und voller Una­n­gefochtenheit.
   Er hatte Recht, am Nachmittag kamen sie. Sie stellten Fragen, sie baten, er möge hinüber kommen und ihnen genaue Anleitungen geben. Er zwinkerte mir verstohlen zu und verneinte das gegenüber den Handwerkern. Er versicherte: „Es steht alles in euren Plänen. Haltet euch daran. Dann brauchen wir keine Rücksprachen. Dann wird es keinen Ärger geben. Für euch. Mit mir.“ So zogen sie wieder ab. Tischler, Elektriker, Maler. Etwas ungläubig dreinschauend. Dennoch froh, den Choleriker nicht mehr in ihrer Nähe zu wissen. Er lächelte ihnen hinterher. „Man kann auch ohne offensichtliche Disziplinierungen zu Erfolgen kommen“, sagte er, als wir wieder zu zweit saßen. Und er instruierte stattdessen mich für die nächsten Aufgaben. „Kochst du noch mal Kaffee? Den trinken wir und überlegen, wer von uns beiden ins Krankenhaus fährt.“
   Ach ja, das Krankenhaus. Hinfahren, schon wieder.
   Ich ahnte schon, es würde an mir hängen bleiben.
   „Ja“, sagte Edward Erster, mein Onkel. „Für mich gibt es Gründe, nicht dorthin zu gehen. Ich erkläre sie dir später. Es ist aber nicht wegen Helene. Nein, ich hätte keine Bedenken, sie zu besuchen.“ Und seine Überraschung? Er lächelte. „Freu dich, morgen kommt deine Verlobte. Und voraussichtlich nicht nur für ein oder zwei Tage.“
   Morgen, Tineke? Wirklich, es war eine Überraschung. Vor allem, weil Tineke ihren Besuch nicht bei mir, sondern bei ihm angekündigt hatte. „Klar“, sagte er, „du wunderst dich. Erstens warst du nicht hier, als sie anrief, zweitens hattest du, wie sie sagte, dein Handy nicht eingeschaltet.“ Hatte ich nicht eingeschaltet? Ach ja. Im Krankenhaus. Beim Chefarzt. Vor lauter Respekt hatte ich es abgeschaltet. Hätte sie mich aber nicht später anrufen können? Ich fragte nicht weiter, ich würde diesen Tag, diese Nacht überstehen.
   Und dann sollte, musste mir Tineke alles erklären.  

Ich also wieder in der Klinik. Wenn dir nur der Chefarzt nicht gleich begegnet, dachte ich. Seine Fragen, seine Blicke. Vielleicht die Bemerkung: „Na, welche Voraussage treffen Sie im Fall Ihrer Großmutter? Es handelt sich doch um Ihre Großmutter?“ Irgendwo in den Mauern lauerte auch Clements. Ihn mochte ich ebenso wenig treffen. Ich, Jerominus der Erste. Doktor. Ich lächelte bei dem Gedanken, dass dieser einzigartige Name abermals durch die Gänge posaunt wurde. „Alle mal herhören, mal aufpassen! Bitte in einer halben Stunde im großen OP-Saal versammeln. Auch Rollstuhlfahrer und Einbeinige. Zu einem Vortrag über eine wunderbare Reise ins All. Zu Ihnen wird kein Geringerer sprechen als der jüngste Klinik-Astronaut unserer Epoche, Herr Jerominus E., Doktor. Bitte Stühle oder Unterarmgehstützen selbst mitbringen!“
   Die Dame, die Mitarbeiterin am Einlass nahm mein unun­terdrückbares Lächeln für sich in Anspruch. Sie erklärte mir umso freundlicher, wo ich die Henriette finden würde. Und sie gab mir Aufklärung, als ich mich nach Helene erkundigte.
   Tatsächlich, Helene hatten sie dabehalten. Ich erfuhr es hier. Ich begriff, ich musste demnach beide besuchen.
   Zu wem ging ich also zuerst?
   Ich setzte auf die Priorität des Alters und trat den direkten Weg zur Henriette an. Sie lag in einem Dreibettzimmer. Je eine andere Oma zur Rechten und zur Linken. Alle drei schliefen. Die Henriette schnarchte leise. Die beiden anderen Patientinnen umso lauter. Man hatte der Henriette eine Kanüle in die Armbeuge gepfropft. Über ihr baumelte eine durchsichtige Flasche, genannt Tropf. Die Infusion. Die Flüssigkeit. Ich hatte Blumen mitgebracht. Ich holte vom Flur eine Vase, füllte Wasser ein. Das Geräusch, das beim Aufstellen auf dem Nachttisch entstand, weckte sie. Sie sah mich, sie lächelte. Es war fast kindhaft. Froh und dankbar. Besuch zu kriegen, am Krankenbett, war nun mal ein angenehmes, leicht aufregendes Ereignis. Der Verbindungsstrohhalm zur Außenwelt. Ich sagte das zu ihr, was fast alle Besucher in allen Krankenhäusern zu fast allen Kranken sagten und auch in Zukunft sagen werden: „Na, du machst ja schöne Sachen. Tsisssisss. Ist ja schlimm mit dir.“
   Sie schüttelte den Kopf. Sie erwiderte: „Geht schon wieder. Komme bald nach Hause. Am Wochenende.“ Sie nickte heftig, der Doktor hätte es versichert. Ich glaubte ihr, wiewohl ich auch eine Krankenschwester fragte. Die bestätigte es. „Instabiler Kreislauf. Inzwischen stabilisiert.“ Der Rückkehrtermin Wochenende stimmte.
   Wann war das Wochenende? In zwei Tagen. Sie freute sich. Sollte ich ihr sagen, dass Tineke kommen wollte? Ich sagte es nicht, ich hatte es ja selbst nur aus zweiter Hand, zweitem Mund erfahren. Ach, Tineke, was soll diese Heimlichtuerei?, dachte ich. Und Jonathan? Und Helene? Die waren auf dieses Krankenhaus verteilt. Sie auch. Von Clements gar nicht zu reden.
   Wie sollte ich das Tineke beibringen, dass sich mehr als die Hälfte unserer illustren Hausbelegschaft im Lazarett befand?
   Allein die Henriette erschrak ja heftig, als sie erfuhr, dass nun auch Helene in eben diesem Krankenhaus lag. Krank. Wohl weniger körperlich als vielmehr seelisch. 

Folge 103 vom11. Juli 2020

Sie schickte mich gleich los. „Geh mal hin!“ Mit Grüßen und Wünschen. Und mit den Blumen, die ich für sie gebracht hatte. Ich gehorchte. Allerdings war mir flau. Wie würde ich Helene gegenübertreten?
   Die Frage stellte sich nicht aus dieser Richtung. War es gut so? Als ich Helenes Krankenzimmer betrat, sah ich sofort, dass eher sie sich mit dieser Frage, diesem Problem auseinandersetzte. Sie jammerte. „Ich weiß nicht, wie ich das erklären und entschuldigen soll. Jetzt falle ich euch auch noch als Kranke zur Last. Im Krankenhaus und fern der Heimat. Mit einem Nervenzusammenbruch.“ Sie heulte. Ich zog aus der Tiefe einer Hosentasche ein nicht ganz sauberes Taschentuch hervor. Ich hielt es ihr hin. Gesicht abtrocknen. Ich sagte ihr: „Du bist nicht fern der Heimat. Deine Heimat ist jetzt hier. Wir sind deine Heimat.“ Sie hörte erst nicht hin, sie starrte auf das Taschentuch. „Ihiih!“ Sie stieß es mit der Hand fort. „Da sind doch jede Menge Bazillen dran.“ Sie lachte. Über sich selbst, über meine Geste, über meine verstörte Miene. Ich stopfte das Tuch weg. „Bitte“, sagte sie, „sei nicht beleidigt. Ich habe noch nie Taschentücher benutzt, die mir nicht gehören.“ Ich nickte. Ich war nicht beleidigt. Ich entgegnete: „Du hast Recht, man soll Taschentücher, Zahnbürsten und Ehefrauen nicht anderen Leuten zum Gebrauch zur Verfügung stellen. Nicht mal seinen guten Freunden. Höchstens Blumen.“ Ich reichte ihr den Strauß von der Henriette. „Die sind von uns allen.“ Ich erklärte ihr, was es mit diesen Blumen auf sich hatte. Dass sie ursprünglich für die Henriette gedacht waren. Von mir und von Edward. Ich sagte: „Wir sind der Meinung, du hast sie am nötigsten.“ Sie lachte abermals. Ich lachte mit. Sie gestand: „Wie es aussieht, wirken die Tabletten, die ich vorhin schlucken musste, jetzt endlich. Oder du. Oder ihr alle. Wir. Doch, ja, es ist meine Heimat. Hier. Ihr.“ Sie richtete sich mühsam auf. „Kannst du dich mal rüberbeugen?“, bat sie. Als ich es tat, umarmte sie mich.
   „Der schon wieder, ich sehe wohl nicht recht“, hörte ich es im selben Moment sagen.
   Ich dachte, die Stimme, wem gehört die Stimme? Ich drehte mich um. Der Chefarzt. „Mir ist nicht ganz klar, ob Sie hier sind, um uns Arbeit zu machen oder uns dieselbe abzunehmen.“ Er betrachtete mich skeptisch. Wie jemanden, von dem man nicht weiß, ob er ein gerissener Ganove oder ein verhinderter Wohltäter oder beides in einem ist. „Immerhin“, fuhr er streng fort, „ist dies nun die dritte Patientin in unserem Haus, die Sie besuchen. Oder sagen wir so: Von der ich weiß, dass Sie sie besuchen. Und hier scheint Ihre Anwesenheit direkt von Nutzen zu sein.“
   Ich seufzte. Wäre es nicht besser gewesen, er würde auch von der oder dem vierten wissen? So, wie er sich ausgedrückt hatte, war es für mich offen, ob er von Clements oder von der Henriette redete. Was sollte ich also antworten? Nichts. Oder nur: „Ich wollte sowieso gehen. Mich haben für heute noch drei andere Kliniken gebucht. Quasi als sozialpositiven Sterbebeistand.“ Ich reichte Helene die Hand. Abschied. Ihr Blick pendelte verwirrt zwischen mir und dem Arzt. Als ich aufgestanden war und mich vom Bett wegbewegen wollte, hielt sie mich noch fest. „Schade, dass du gehst. Hier habe ich ein paar Sachen aufgeschrieben, die ich unbedingt bräuchte. Geht das morgen?“
   Ich nahm den Zettel. Morgen. Natürlich, das ging.
   Und der Chefarzt? Ich hätte fragen können, sollen oder wollen: „Ich darf trotz Ihrer Skepsis kommen und die Sachen bringen? Morgen.“ Aber wie der mich ansah. Tendenz Ganove statt Wohltäter. Schließlich warf er einen Blick auf die Akte, die er in der Hand hielt. „Vermutlich wird das nicht nötig sein. Der Besuch morgen. Wir schreiben der Patientin ein paar Medikamente zum Mitnehmen auf, und sie kann am Nachmittag gehen. Sieht inzwischen ganz gut aus bei ihr.“ Er straffte seine Miene. Er blickte mich ziemlich frontal an. „Irgendwann müssten wir nur mal klären, wofür der junge Mann hier steht. Als Verursacher für Ihren Zusammenbruch oder als Heilsbringer für die Besserung.“ Augenblicklich schien das Pendel für meine Bewertung stark in den positiven Sektor der virtuellen Skala auszuschlagen. „Wenn er denn tatsächlich als Heilsbringer agiert, kann er bei uns eine Festanstellung kriegen. Bei seinem Bruder hat sich seine Prognose offenbar bewahrheitet.“
   Ich fühlte mich plötzlich schwach. Ich fragte: „Besteht etwa die Möglichkeit, ihn aus dem Koma zu holen? Morgen?“
   Der Chefarzt bewahrte seine streng straffe Miene. Er gab sich zugeknöpft und zugleich doch nicht ganz unnahbar. „Eigentlich stehen die Zeichen günstig. Wir warten bis morgen Vormittag, ob die Herzfrequenz so stabil bleibt, wie sie ist.“ Und bevor ich weiter fragen konnte, bot er an: „Es könnte durchaus von Nutzen sein, wenn Sie sich mal zu ihm setzen und mit ihm reden. Auch wenn Sie der Meinung sind, er versteht oder er hört sie gar nicht.“  

Folge 104 vom12. Juli 2020  

Ich holte Pizza und nahm sie mit in das Küstenhaus. Aber wir hatten beide nur mäßigen Appetit. Wir nagten lustlos an viel zu großen Stücken, wobei wir die meiste Zeit schwiegen. Wir gähnten uns zwischendurch immer wieder an. Edward schob endlich den Pappteller mit dem Pizza-Rest von sich. Er sagte: „Es ist echt trostlos, wenn all die komischen Leute aus diesem Haus nicht da sind. Hätte ich gar nicht gedacht. Wenn man noch dazu weiß, sie liegen zuhauf im Krankenhaus, schmeckt einem nicht mal mehr das Essen.“
   „Zwei komische Leute sind ja noch dageblieben“, sagte ich. Es sollte witzig klingen. Klang es aber nicht. Er bemühte sich um ein erzwungenes Lachen. Es misslang. Schließlich erhob er sich. „Bin müde. Und in Stimmung schon mal gar nicht, ich geb’s ja zu.“ Ich fragte: „Wirst du das durchstehen, dich für die letzten Tage auf deiner Baustelle nicht mehr wie ein schreihalsiger Despot zu gebärden?“ Er starrte mich an. „Was ist das, ein schreihalsiger Despot? Ich kenne Schreihälse, und ich kenne Despoten. Zu beiden zähle ich mich nicht. Seit heute Vormittag. Und wir hatten ja wohl vereinbart, es soll so bleiben.“ Er nickte mir zu. Er sah freundlich aus. Wie ein väterlicher Großvater. Wieder eine seltsame Bezeichnung. Sie war besser als großväterlicher On­kel oder onkeliger Großvater. Er hörte das nicht. Gut so.
   Im Übrigen klingelte das Telefon, da befand sich Edward bereits auf der Treppe. Ich drückte schnell die Sprechtaste, damit er den Klingelton nicht hörte und nicht zurückkam. „Hallo, mein Lieber, rate, wer hier spricht?“ Es war Tineke. Ich war nicht überrascht. Ich kam aber auch nicht zu Wort. Sie redete schon weiter. „Es gibt extreme Neuigkeiten.“ Ihr Mitteilungsdrang schien sie schier überschäumen zu lassen. Trotzdem machte sie jetzt eine Pause, um festzustellen, ob und wie ich staunte. Da ich aber nicht schnell genug reagierte, fragte sie besorgt: „Ist irgendwas passiert oder interessiert es dich nicht, was bei mir los ist?“ Sie wartete dennoch keine Antwort ab. „Du, ich habe das durch, die freien Tage. Erst mal kriege ich die nach, die mir noch aus dem Vormonat zu­stehen, und dann arbeite ich jetzt innerhalb unseres Einsatzplanes. Wir haben inzwischen wieder Neueinstellungen. Über das andere wird noch entschieden: Ob ich zeitweise in der Klinik in unserer Kreisstadt eingesetzt werden kann.“ Sie atmete tief aus, und ihr gesamtes Glück wurde zu mir auf die andere Seite der Leitung geweht. Es verursachte mir eine Gänsehaut. „Jetzt aber noch das Wichtigste: Ich habe heute die schwerste OP meines Lebens hinter mich gebracht. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Stunden es gedauert hat. Es war eine Kommission da, wie zu einer Prüfung. Sie haben gestaunt, was ich alles drauf habe.“ Sie lachte und sie hörte sich so unglaublich froh und erleichtert an. Ich hätte es im Leben nicht fertig gebracht, ihr von unseren schrecklichen letzten Tagen etwas zu erzählen und ihre Stimmung zu verderben. Von Jonathan, der im Koma lag, ohnedies nicht. „Ich freue mich mit dir“, sagte ich. Klar, das klang keineswegs überschwänglich. Es reizte sie vielleicht sogar. Sie holte tief Atem, und es schien kurz, als würde sie meine mühsam verborgene Erschöpfung, meinen Kummer nicht registrieren. Doch sie schwenkte plötzlich um. Sie sagte ganz besorgt: „Es stimmt etwas nicht, oder?“ Eine leichte Panik schien sie zu erfassen. „Ist was mit der Henriette? Oder mit Jonathan?“ Ich straffte mich. „Nein!“, entgegnete ich standhaft. „Es ist zwar nicht immer leicht hier, aber es ist alles in Ordnung. Sie schlafen. Ich wollte auch grade ins Bett.“ Wir schwiegen jetzt beide, jeder wartete, ob der oder die andere etwas sagen würde. Schließlich schlug sie die Brücke. „Und wenn etwas wäre, würde es ja nichts nützen, wenn du mir das jetzt aufbürdest. Ich könnte von hier aus nicht helfen. Ich würde nachher kein Auge zukriegen.“ Sie seufzte. Eine Art Selbstentlastung, noch mehr ein Ausdruck von Vernunft. „Du“, fuhr sie dann fort, „ich muss dir was sagen. Ich habe im Grunde ein ganz schlechtes Gewissen. Ich schäme mich fast. Weil ich dir so vieles aufgeladen habe. Meinen ganzen Ballast. Und ich ziehe hier ziemlich egoistisch mein Ding durch. Beruflich.“
   Ich unterbrach sie. Ich wollte das nicht. Nicht hören und nicht verinnerlichen. Ich wollte nicht, dass sie sich anklagte. Wir hatten das durch. Und es war meine Entscheidung, so zu leben. Ich fragte abrupt: „Stimmt das, du kommst morgen?“
   Sie stockte erst. Es war wieder ein Umbruch. Ein Umdenken. Ich fürchtete, sie würde schimpfen. Edward Erster hätte es mir vielleicht nicht sagen dürfen. „Ja“, antwortete sie leise. „Ich habe so furchtbare Sehnsucht. Nach dir. Und nach der Henriette. Nach Jonathan. Sogar nach deinem Onkel. Und nach diesem Kaff.“ Sie weinte ein bisschen. Ich dachte, der Tag der Tränen. Sie fuhr fort. „Ich habe so lange gewartet. Und nun geht es endlich. Du, ich möchte so gern deine Geschichte lesen. Edward hat gesagt, sie sei fertig. Er hat sie gelobt wie nur was. Er konnte nicht schlafen, nachdem er sie gelesen hat. Sie hätte ihn umgekrempelt.“   

Folge 105 vom13. Juli 2020  

Ich bekam Herzklopfen. „Für mich ist es am wichtigsten, wie sie bei dir ankommt. Ich habe sie wegen dir geschrieben. Siehst du, und deshalb musst du dir keine Vorwürfe machen, weil du mir die Henriette und Jonathan aufgehalst hättest. Wir haben uns nur ergänzt. Du und ich.“ Sie war ganz still. Ich glaubte fast, die Tränen zu hören, die über ihre Wangen liefen. Endlich sagte sie: „Bis morgen, endlich; ich liebe dich.“  

Nachher saß ich und starrte auf das Telefon. Ich hörte Tinekes letzten Satz. Er klang in meinen Ohren fort. „Bis morgen, endlich; ich liebe dich.“ Ich begriff, dass ich lange nicht so glücklich gewesen war. Oder so gesagt: Ich hatte unser Glück fast vergessen, fast nicht mehr gespürt. Seit wann?
   Und morgen? Ich freute mich und fürchtete mich zugleich. Tineke kam. Meine Verlobte. Aber das Küstenhaus, ihr Heim war fast leer, das Krankenhaus war mit ihren Leuten bevölkert. Ich würde ihr die Situation erklären müssen. Ich musste ihr Hoffnung machen. Mit der Hoffnung, die ich nun selbst hatte. Oder womit sonst? Würde sie dennoch nicht zusammenbrechen?
   Ich saß noch mal fünf Minuten, dann hatte ich eine Idee. Ich kochte Kaffee, öffnete das Notebook und rief die Datei mit dem Manuskript meiner Reise auf. Ich dachte, ich sollte alles noch mal lesen, eventuelle Fehler korrigieren und dieses und jenes hinzufügen, anderes hingegen herausstreichen. Und einen neuen Ausdruck herstellen. Mit der aktuellsten Fassung. Für Tineke.
   Ich begann zu lesen. Trank nebenher immerzu Kaffee. Las immer weiter. Doch ich fand nichts, das ich hätte korrigieren können, wollen. Ein paar Kleinigkeiten, das noch, etwa vergessene Buchstaben oder zweimal ein fehlendes Wort. Inhaltlich jedoch gefiel mir das Manuskript ausnehmend gut. Ich hielt das nicht für ein positives Zeichen. Ich fand mich unkritisch, voreingenommen. Irgendwie bequem, fast faul. Das hat nichts mehr mit Arbeit, mit harter Schriftstellerei zu tun, dachte ich. Ich las einige Seiten noch mal. Es änderte nichts an meiner Sicht. Also las ich weiter. Zwanzig, dreißig, vierzig Seiten. Da fühlte ich schon die Schwere der Müdigkeit auf und in mir. Ich dachte an die letzte Nacht. Kaum geschlafen. Und ich dachte: noch ein Stückchen, noch ein paar Zeilen, zwing dich einfach. Arbeite, ackere, andere müssen es auch. Andere, gute Schriftsteller. Endlich sackte mein Kopf nach vorn. Auf die Unterarme, auf die Tischplatte.
   Gegen zwei Uhr wurde ich wach. Das Notebook lief nur im Sparmodus. Hilfe, dachte ich, geh ins Nest, hau dich hin. Ich gehorchte mir, legte mich, so wie ich war, im Wohnzimmer auf die Couch. Ich schlief bis um sechs Uhr. Fest und ohne jede Unterbrechung. Um halb sieben waren dann die ersten Baufahrzeuge da. Auch Edward war wach. Er rumorte in der Küche. Er kochte Kaffee. Für unser Frühstück in der Glaskanne. Er füllte aber auch welchen in einen großen Isolierkrug. Er grinste ein bisschen, als ich kam. „Nachtschicht gemacht?“ Ich nickte. Ich war etwas benommen, aber ich hätte ab sofort keine Sekunde mehr geschlafen.
   Der Tag lag vor mir. Was für ein Tag. Ein Tag voller Aufgaben. Mal wieder.
   Er zeigte auf die Thermoskanne. „Mal sehen, wie die Kollegen Handwerker staunen, wenn ich sie heute mit einem Frühstück überrasche.“
   „Gute Idee“, sagte ich. „Vor allem bestätigst du deinen Trend. Freundlichkeit, Gelassenheit.“
   „Und du?“, fragte er.
   „Ja, ich.“ Ich saß auf dem Stuhl, auf dem ich am Abend vor dem Notebook gesessen hatte. „Ich werde gleich nach dem Frühstück in die Klinik fahren. Vielleicht kann ich die Henriette und Helene noch nach Hause schaffen, bevor Tineke kommt. Ansonsten wird sie sauer auf mich sein.“
   Er schüttelte den Kopf. „Du solltest sie nicht falsch einschätzen. Sie weiß, dass du nichts dafür kannst. Gib ihr dein Buch zu lesen. Das Manuskript. Das bringt euch näher.“
   „Wir sind uns nahe.“ Ich erzählte von dem Anruf. „Ich habe ihr nicht gesagt, was hier gelaufen ist. Bestimmt hat sie aber was gemerkt.“
   Ich machte mich über das Notebook her, begann mit dem Drucken. Die Manuskript-Fassung für Tineke.
   „Hast du noch was geändert?“, fragte Edward. Es war eine halbe Stunde vergangen, er kam gerade vom Bäcker zurück.
   Ich hielt einen dicken Stapel Seiten in der Hand. Ich verneinte. „Ich hätte dir natürlich den Manuskript-Ausdruck geben können, den du für mich gemacht hast.“ Er lachte. „Ich hätte. Aber ich behalte ihn lieber. Falls ich ihn noch mal lesen möchte. Und weil mir der Inhalt was bedeutet. Viel.“ Wir frühstückten in Eile, danach machte er mehrere Tabletts an Brötchen mit Wurst und Käse zurecht. Seine Miene war von enormer Vorfreude gezeichnet. „Die werden Augen machen, diese Baubudenrülpse.“
   Ich sortierte die restlichen Seiten und legte den fertigen Stapel auf den Nachttisch der Henriette. Ich sagte Edward, wo Tineke, wenn sie einträfe, alles fände. Er nickte. Er erwiderte: „Wer weiß, wann sie kommt und wo sie zuerst hinfährt.“ Ich verstand ihn nicht. Und jetzt erst stieß ich auf mein Versäumnis: Ich hatte am Telefon nicht gefragt, ob ich sie vom Zug abholen sollte. Wann. Edward konnte ich jetzt nicht mehr fragen. „Die Handwerker, das Frühstück. Ruf mich an, wenn es was Neues im Krankenhaus gibt.“ 

Folge 106 vom14. Juli 2020

In der Klinik ging ich zur Intensivstation. Ich musste Plastiktüten auf die Füße ziehen und bekam eine Art Schutzkleidung. Steril sein, hieß es. Ich lächelte in mich hinein, denn ich dachte an die Basisstation, von der aus ich mit Tonya zum Raumkreuzer gestartet war. Wie dilettantisch kamen mir die Maßnahmen der Klinik im Vergleich zur Basisstation vor.    Egal.    Ich wurde durch einen Flur geführt. Ich stand dann vor einem Raum, der von Glaswänden umgeben war. Durch die Scheiben erkannte ich technisch-elektronische Instrumente, Metallschränke und Vorhänge. Vor dem Eingang stand der Chefarzt. Er lächelte ein zerknirschtes Lächeln. „Ich weiß nicht, ob Sie über höhere Sinneskräfte verfügen. Aber im Moment sieht es tatsächlich so aus, als würden Sie mit der Weissagung Recht haben. Es sieht so aus, als würde Ihr Bruder durchkommen.“ Ich lächelte zurück. Etwas süffisant nämlich. Ich schwieg jedoch. „Er ist vorhin wach geworden. Wir mussten ihn nicht mal zurückholen. Und er hat eine stabile Herzfrequenz. Allerdings belastet ihn die Lungenentzündung sehr. Wir müssen warten, bis die Medikamente wirken, die er bekommt.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. Danach nickte er. Und er sah mich mit starrem Blick an. Er wartete auf eine Erklärung. Ich gab sie ihm nicht. Nicht mehr lange, so würde das Buch veröffentlicht sein. Ich würde ihm einen Flyer zukommen lassen. Mit schriftlichem Hinweis auf tatsächlich stattgefunden habende Ereignisse und wirklich lebende Personen. Er würde es kaufen können, und Helene und ich hatten einen Buchkunden mehr. Einen zahlenden. Ich betrat das Krankenzimmer. Jonathan lag auf seinem Bett wie aufgebahrt. Mag sein, sie hatten ihn bereits aufgegeben und wollten im Falle seines Todes gleich an seine brauchbaren Organe. Mit dem Spenderausweis als einzigem Personaldokument hatte er sie quasi eingenordet. Er sah blass und kraftlos aus. Die Augen jedoch lebten wie nur was. Sie kullerten unruhig hin und her und hatten mich erfasst, kaum dass er mich bemerkt hatte. „Mein Gott“, sagte ich, „du liegst hier, schiebst ’nen lauen Lenz, und unsereins macht sich Sorgen.“ Weiter konnte ich nicht sprechen. Es würgte mich, ich musste heulen. Bäche, Ströme an Tränen. Alles Unglück, auch alles Glück der letzten Monate, dieses und des vorigen Lebens kamen zum Vorschein. Jonathan tastete nach meiner Hand. Er hielt sie locker fest, und er sagte nichts. Es war wie in einem Kitschfilm. Rührend, unwirklich. „Er darf sich nicht anstrengen. Übern Berg ist er nämlich noch lange nicht“, warnte eine Stimme. Ich sah, dass mehrere Leute um das Bett herum standen. Schwestern, Pfleger, der Chefarzt. Ich holte tief Luft. „Doch ist er, es wird ihm nichts passieren“, versicherte ich. Meine Stimme klang brüchig. Die Mediziner sahen mich verständnislos an. Einige lachten über mich wie über einen, der abergläubisch ist. Der Chefarzt allerdings blieb ernst. „Sie können eine Weile bleiben. Zehn Minuten von mir aus.“ Er sagte es, danach verschwand er. Die Miene voller Fragen.
   Nachdem auch die anderen verschwunden waren, setzte ich mich. Ich sagte: „Ich habe Zintchen nicht gesagt, was passiert ist.“ Er lächelte schwach, und er wiederholte mit ebenfalls schwacher Stimme: „Zintchen.“ Ich dachte an das Telefonat am Vorabend. „Sie kommt heute“, sagte ich. „Du musst also schon in den nächsten Stunden zulegen. Sonst erschrickt sie.“ Er deutete ein Nicken an. Er wiederholte: „Zintchen. Endlich. Hier.“ Dabei schloss er die Augen, der Atem ging schnell und rasselnd, seine Hand wurde schlaffer, sie sackte weg. Ich erschrak, ich dachte, bitte, bleib am Leben, egal wie schwach du bist, egal wie lange es dauert, ehe du ins Leben zurückkehrst. Ich dachte es nicht nur, ich betete es.
   Es brachte einen Teilerfolg. Er schlug die Augen wieder auf. Er bewegte die Lippen. „Zintchen kommt von Tintchen und Tintchen kommt von Tineke. Es hat sich einfach so zwischen uns entwick –.“ Er brach mitten im Satz, im Wort ab. Er japste, bekam nicht genug Luft, hustete kläglich. Er schloss wieder die Augen und verlangsamte seine Atemzüge. Seine Hand glitt neben das Bett. Baumelte. Sollte ich um Hilfe schreien? Sollte ich wieder heulen? Ich sagte stattdessen: „Du sollst dich nicht anstrengen. Auch wenn Zintchen nachher kommt. Bleib so, wie du das schaffst. So wie eben war das schon richtig gut.“ Welch alberner Ratschlag, dachte ich, sein Zustand hat ihm die natürlichen Grenzen aufgezeigt. Trotzdem, er öffnete wieder die Augen. Leise sagte er „ja“, wobei seine Hand wieder nach der meinen tastete.
   „Du“, fing ich nun wieder an, „der Chefarzt denkt, du bist mein Bruder.“ Ich lachte scheinbar verschlagen, und er deutete ebenfalls ein Lachen an. Kein verschlagenes, ein ehrliches. Es freute ihn.
   Eine Krankenschwester kam. „Mehr kann er nicht aushalten. Sie können aber den Chef fragen, ob Sie heute am Abend oder morgen wieder kommen dürfen.“

Folge 107 vom15. Juli 2020  

Ich stand auf dem Flur. Benommen. Könntest du doch jetzt nach Hause gehen, dachte ich.
   Ich hatte aber noch die drei anderen Schäfchen, die ich betreuen musste. Ich fing bei Clements an. Er lag in einem Dreibettzimmer, in dem sich, als ich eintrat, acht Leute aufhielten. Zwei davon Patienten, ansonsten Besucher. Welch ein Trubel, dachte ich, hier wird sich Clements wohl fühlen. Ein Trugschluss. Clements lag im hintersten Bett. Direkt unterm Fenster. Nein, er lag nicht, sondern er saß auf der Bettkante, das Gesicht abgewandt. So konnte er nicht sehen, dass ich das Zimmer betrat. Erst nachdem ich mich an den diversen Besuchern seiner Mitpatienten vorbeigeschoben hatte und mich neben ihm befand, nahm er mich wahr. „Fühlst dich sicher so richtig gut bei diesem Rummel. Da vergeht die Zeit, und man hat Abwechslung“, begrüßte ich ihn.
   Doch ich irrte. Er blies Trübsal, Tendenz sogar depressiv, trotzig. „Ach, Jerominus“, klagte er. „Es ist furchtbar. Nicht zum Aushalten. Diese Lautstärke, dieses Geschnatter. Andauernd haben die beiden aus den anderen Betten Besuch. Es geht zu wie auf dem Jahrmarkt.“ Er wühlte ein Taschentuch unter dem Kopfkissen hervor und schnäuzte sich so laut, auf dass für Augenblicke Stille im Raum eintrat.
   „Na bitte“, sagte ich. „Die können direkt auch leise sein.“
   Mich glotzten sie prompt alle an. Noch schweigend, dann flüsternd, schließlich wieder in voller Lautstärke.
   „Kannst du nicht was machen, dass ich hier rauskomme? Nach Hause. Zu euch.“
   Nein, konnte ich nicht. Was hätte ich machen können? Wie? Ich empfahl: „Sieh zu, dass sie dich kurieren, dann schicken sie dich sofort heim.“
   Er wischte sich zwei Tränen aus den Augen; und noch mal zwei. Es half nichts, er heulte dann richtig. Mit dem Gesicht zum Fenster und möglichst ohne Schluchzer, die seinen Körper erschüttern würden. Es sollte keiner mitkriegen. Höchstens ich. Besonders ich.
   Ja, ja, ich sah es doch, wie er litt. Ich klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. Heulen hilft. Diese Lektion hatte ich vor wenigen Minuten erst selbst gelernt. Es erleichtert. Es muss natürlich spontan über einen kommen. Egal wie alt derjenige ist. Der Bedrückte, Geplagte.
   Dass gerade Clements ein solcher war und in Tränen ausbrechen würde, hatte ich allerdings nicht erwartet. Immerhin, bei ihm hatte die Heulerei einen anderen Effekt. Es lockerte ihn, es entkrampfte seine mutmaßliche Verspannung. Er glitt von der Bettkante, um sich mit einer tröstenden Umarmung von mir zu verabschieden. Und er fasste sich in den Rücken und sagte: „Du, ich glaube, auf einmal sind die Rückenschmerzen weg.“  

Ich stand dann wieder auf dem Flur. Sollte ich würfeln, losen oder abzählen, ob ich meinen nächsten Krankenbesuch bei der Henriette oder bei Helene absolvierte? Die Frage blieb unbeantwortet, ich lief los. Ich dachte, geh einfach zu der, deren Station du als nächste siehst.
   So kam ich also zur Henriette.
   Tinekes Großmutter saß aufrecht im Bett, den Rücken gegen das hochgestellte Kopfteil gelehnt. Frisch geputzt, gekämmt und gekleidet. Satt und blank. Die Hände über der Bettdecke gefaltet. Aufgeräumt, aber nicht froh. Sie zeigte auf das Bett links neben sich. Es war leer. Ich ahnte, dass es für das Verschwinden der Mitpatientin keinen erfreulichen Grund gab und wollte die Frage danach übergehen. Da heulte sie schon los. Nun also auch die Henriette. „Tot. Über Nacht. Und ich?“ Klar artikuliert, ohne Aphasie-Symptome. Ich seufzte. Dieses ständige Geflenne. Nicht mal ich war davon ausgenommen gewesen. Ich, der inoffiziell bestimmte Mutmacher und Tröster. Ich verkündete Henriettes halbtauben Gehörgängen mit kräftiger Stimme: „Du bist bei uns, du kannst demnach nicht sterben. Heute bist du noch im Krankenhaus, und morgen kommst du schon nach Hause. Kann sein, dass deine Tine kommt. Also streng dich mal an.“ Danach blieb noch Helene. Das letzte Krankenschäfchen. Helene geht es gut, dachte ich, das hatte mein Besuch am Vor­abend glücklicherweise bewirkt. Ich, mit meinen stichhaltigen Argumenten. Mit meinem einfühlsamen Zuspruch. Da gehst du jetzt unbeschwert hin, es sind keinerlei Komplikationen zu erwarten. Vielleicht kannst du sie auch gleich mit nach Hause nehmen. Irrtum. Sie lag in ihrem Bett, die Decke bis zur Nasenspitze gezogen, trüber Blick, fast reglos. Ein Rückschlag, ich sah es, ich konnte es nicht fassen. „Kannst du mich erkennen, mich hören?“, fragte ich besorgt.
   Sie nickte. Sie sagte: „Ich hatte gestern noch mal einen depressiven Anfall. Spät abends. Lange nachdem du gegangen warst.“ Ihre Stimme ging langsam, irgendwie leiernd. Als würde sie von einem beschädigten Plattenspieler produziert. Die Worte schienen erst am Gaumen zu kleben, bevor sie freigegeben wurden. „Ich komme einfach nicht zurecht. Mit meinem Leben, das einem Scherbenhaufen gleicht. Und ich frage mich immerzu, was schlimmer ist, meine Vergangenheit oder meine Zukunft.“
   Ich dachte, wärst du doch nicht hergekommen. Meinte ich es auch? Nein. Ich sagte: „Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir zwei gestern die Scherben schon zusammengekehrt. Wir hatten über ein neues Leben, über neue Aufgaben gesprochen. Über das neue Heim. Bei uns.“
   Sie blickte furchtbar traurig. „Auf der Basis von Mitleid. Aber so was kann auf Dauer nicht funktionieren. Bald werdet ihr mich über haben. Und dein Onkel, der raubeinige Edward, er will mich sowieso nicht.“  

Folge 108 vom16. Juli 2020  

„Doch“, widersprach ich. „Er will dich. Allerdings nicht als Lebensgefährtin, sondern als Mitglied in unserer Gemeinschaft. Wir brauchen dich mehr als du denkst. Jonathan ist zwar fast übern Berg. Aber er wird ganz sicher nicht so bald wieder voll einsatzfähig sein. Du musst also helfen, die Henriette zu betreuen. Und das Wichtigste: Ich will mich zwar nicht loben, aber so wie unsere Mitbewohner unser erstes Buch, das fertige Manuskript, verschlungen haben, halte ich die vorliegende Fassung für mehr als brauchbar. Der Text muss trotzdem lektoriert werden. Ein Umschlag muss her, der For­ma­litäten-Kram ist zu erledigen. Das soll nächste Woche anlaufen, und in einem halben Jahr möchte ich die erste Lesereise starten. Das alles ist dein Job.“
   „Und wer bezahlt das?“
   Ich seufzte, ich wusste nicht das wievielte Mal an diesem Morgen. „Wir besorgen Geld. Ich. Der Onkel. Für Edward ist das ein Klacks. Ich bin inzwischen von meinem hohen Ross abgestiegen. Ich denke, lass ihn blechen. Diese ganze Verweigerungshaltung, das war eine Weile als Masche gut. Aber man muss wissen, wie weit man es treiben kann. Ich jedenfalls weiß es. Nicht weiter als bis hierher.“
   Ihr Gesicht bekam nun Farbe, Leben.
   „Du solltest jetzt schlafen, am besten bis morgen früh“, empfahl ich. „Dann hole ich dich ab. Damit ist deine Krankschreibung abgegolten, eine längere Auszeit wird nicht genehmigt. Von mir. Du nimmst dir mein Manuskript vor. Du liest es, korrigierst es, du diskutierst es. Mit mir. Du kümmerst dich um die Gründung eines Verlages, du suchst uns eine qualifizierte Druckerei. Und parallel dazu kümmerst du dich um die Henriette. Und du überwachst Jonathan. Wenn du all das schaffst, wird dich von uns garantiert niemand über haben.“
   Sie schob mit Mühe eine Hand unter der Bettdecke hervor und streichelte über meinen Arm. „Danke, Erasmus.“ Es war nicht mehr ganz so schwerfällig gesprochen.
   Ich schob die Hand unter die Decke zurück. Ich entgegnete: „Wenn du willst, kannst du Jerominus zu mir sagen. Doktor Jerominus.“
   Sie lächelte schwach und schloss die Augen. Sie schlief.  

Im Auto schimpfte ich laut. Es waren so allgemein gebräuchliche Floskeln, immerhin in Reimform:  

„Alle Leute brauchen mich
keinen lasse ich im Stich!
Alles wird mir aufgeladen
alle außer mir gehn baden.“  

Ich fand mich erleichtert. Brüllen ist Therapie – hatte ich diese Weisheit im selben Augenblick geprägt, oder war in den letzten Wochen schon mal jemand drauf gekommen?    Konfuzius vielleicht?
   Ich rechnete auf dem letzten Stück des Weges nach, ob womöglich Tineke schon eingetroffen sein konnte. Mit dem Zug, Edward Erster hätte sie – immer noch mit der Absicht, mich zu überraschen – vom Bahnhof abgeholt haben können. 
   Eher nicht. Das Küstenhaus war leer. Welch furchtbarer Zustand. Hatte ich es jemals so erlebt? Wenigstens die Henriette oder Jonathan waren sonst immer drin. Oder Edward Erster.
   Edward Erster? Dass ich ihn nicht fand, besorgte mich prompt. Krankenhausserie, dachte ich. Einer nach dem anderen ist krank geworden. Ich reimte abermals spontan:  

„Fünf kleine Mieterlein schauten hier einst raus
den letzten hat’s nun auch erwischt,
er liegt im Krankenhaus …“  

Halt, war Edward der letzte Mitbewohner, oder war da nicht noch einer? Ein gewisser Erasmus, unter Freunden Jerominus genannt. Doktor. Na ja, da stand Edward Ersters Wagen, vor dem Neubau. Der Silverhawk. Edward konnte nicht fern sein. Ich ging hinüber und fand ihn mit den Handwerkern an einer provisorisch hergerichteten Tafel. Es gab Pizza und Bier. Es herrschte die Laune einer nachmittäglichen Party. „Wir feiern den Einzug“, frohlockte Edward. „Morgen heißt es: Leinen los.“ Er stand auf und bot mir eine Besichtigung an. Erst jetzt bemerkte er, dass ich das Haus bislang nur einmal betreten hatte. „Fällt es dir schwer, das kleine Haus der Henriette aufzugeben?“, fragte Edward. Ich wusste es nicht. Ich fand das Küstenhaus niedlich, es steckte für mich voll der herrlichsten Erinnerungen. Dieses Bild Tineke am Morgen im Schlafanzug Blumen pflückend würde ich in meinem Leben nicht vergessen. Nein, es gab einen anderen Grund: Ich hätte diese Besichtigung gern mit Tineke gemacht. „Hier werden wir wohnen, dort wirst du irgendwann deine Praxis einrichten. Neben uns bekommt die Henriette ihre Wohnstatt, und neben der Henriette, vielleicht mit einer Verbindungstür, wird Jonathan leben. Unser gemeinsamer Freund.“ Nun war ich allein mit Edward im neuen Gemäuer. Es gefiel mir. Hell, groß, schnörkellos. Platz für alle, für alles.
   „Um ehrlich zu sein“, gestand Edward, „habe ich längst eingeteilt, wer in welchem Raum residiert. Ich habe hin und wieder beobachtet, welche Vorlieben die Einzelnen haben, und danach ist meine Planung vonstattengegangen.“ Er kniff ein Auge zu. „Du und Tineke, ihr werdet mit Blick auf den Deich wohnen. Mit Balkon.“ Über seine sonstigen Zuweisungspläne sagte er nichts. Ich fand das jetzt ohnehin nicht wichtig. Aber eher nebenbei erwähnte er, dass seine Baupläne mit der Fertigstellung dieses Gemeinschaftshauses nicht erschöpft seien. „Wenn wir umgezogen sind“, verkündete er, „werde ich mir das Häuschen dort drüben vornehmen. Habe ich vor ein paar Tagen mit deiner Verlobten abgesprochen.“ Er räusperte und korrigierte sich: „Telefonisch. Sie hat versprochen, es vorerst für sich zu behalten.“

Folge 109 vom17. Juli 2020  

Soso, und Tineke hatte mir nichts erzählt. Musste dieses Versäumnis nicht bei der Verlobtheitskontrollbehörde gemeldet und irgendwie geahndet werden? Ich konnte ein herzhaftes Lachen nicht unterdrücken. Ich hörte irgendwie ihre Rechtfertigung: „Was solche Baumaßnahmen angeht, ist die Verlobtheitskontrollbehörde nicht zuständig. Zum Glück!“
   „Warum lachst du?“, fragte Edward.
   Was sollte ich antworten? Verlobtheitskontrollbehörde mit Außenstelle in Hantschuloko, allerdings nicht die in Schwaben – blablabla.  

Ich machte mir dieses und jenes zu essen, räumte im Küstenhaus fürchterlich herum und schaute dauernd aus dem Fenster. Kam nicht meine Verlobte endlich? Nein. Wann denn aber? Der Nachmittag schritt nun voran. Ich wagte nicht, ans Telefon zu gehen und ihre Nummer zu wählen. „Ich werde schon da sein, wenn ich angekommen bin. Will ja erst noch erkunden, ob sie nicht an der Küste eine Außenstelle der Verlobtheitskontrollbehörde einrichten, wo ich mich für die nächsten Tage anmelden muss.“ Das wäre in etwa die Antwort gewesen. Hämisch, lustig, selbstbewusst. Letzteres ganz besonders.
   Warten war ein harter Job. Ich hörte damit auf.
   Ich sagte Edward Erster, er solle sich bereithalten. „Fahre jetzt wieder ins Krankenhaus. Erkrankte Schäfchen zählen und depressive Seelenlöcher stopfen. Wenn Tineke anruft, müsstest du sie eventuell vom Zug abholen.“
   „Vom Zug?“, fragte er erstaunt. Er wollte noch mehr sagen, doch er verkniff es. Wunderte ich mich nicht?
   Auf jeden Fall. Ich fragte jedoch nicht, ich stieg ins Auto. Ich fuhr.
   Der Besucher-Parkplatz des Krankenhauses war gut belegt. Es herrschte Andrang. Immer um diese Zeit. Die Leute besuchten ihre Angehörigen, Freunde, Nachbarn. Redeten, halfen, trösteten, brachten Wäsche und nahmen die restlichen Stullen mit, die die Bettkranken zum Abendbrot nicht geschafft hatten. Ich kurvte dreimal durch die Autoreihen der Parkfläche, weil ich keinen freien Stellplatz fand. Es nervte, weil es früh dunkelte und mit einem Mal ein gewaltiger Regenguss niederging. Endlich verließ ein Wagen die mittlere Reihe und ich konnte einparken. Immerhin, durch den Regen musste ich nun rennen. Gut fünfzig Meter. Ohne Schirm, ohne Mütze, ohne Kapuze. Ich zog mir die Jacke über den Kopf, und ich rannte. Dicht vor dem Eingang kam ich an einer Limousine mit Hauptstadt-Kennzeichen vorbei. Sie sah haargenau wie das große Auto meines Onkels aus. Mit der Schramme. Wirklich mit der Schramme? War es Edward Ersters Limousine? War er damit etwa hergekommen? Schlecht möglich, das Auto stand in seiner Villa in Berlin, in irgendeiner seiner Garagen. Ich hatte den Beschluss, den er und Tineke diesbezüglich in einem Telefongespräch gefasst hatten, verfolgt. Aus dem All. Oder etwa nicht? Andererseits, man wusste nie, was bei ihm lief. Edward Erster. Konnte ja sein, er hatte sich die Limousine bringen lassen. War er heimlich in die Klinik gefahren? Ich schalt mich einen misstrauischen Grübler. Ich rief, während ich durch den Eingang des Krankenhauses sauste: „Es gibt in der Hauptstadt mindestens noch drei Limousinen, die genauso aussehen und die gleiche Schramme im Blech haben.“
   Die Dame hinter der großen Glasscheibe nickte kräftig. Also hatte ich Recht. Und ich musste mich auf meine Krankenbesuche einstellen. Bei wem schneite ich zuerst rein? Ich ging nach dem Rückwärtsprinzip vor und fing bei Helene an. Sie lag noch fast so wie beim Verlassen am Vormittag. Ich hatte die Sachen, die sie am Vortag aufgeschrieben hatte, dabei und legte sie auf den Nachttisch. Sie wurde wach. Und gleich mit dem Augenaufschlag sagte sie: „Stell dir vor, ich habe geträumt, deine Verlobte war hier. Tineke.“
   Ich lächelte. „Wo du sie noch nicht mal kennst?“
   „Ja, stimmt. Vielleicht war es nur ein Halbschlaf, und sie war wirklich hier und hat mit mir geredet und gesagt, wer sie ist.“ Sie richtete sich etwas auf. „Es geht mir besser. Diesmal ist es nicht nur vorübergehend. Ich werde jetzt aufstehen und duschen. Spätestens morgen werde ich das Krankenhaus verlassen. Holst du mich ab?“
   Ich versprach es und steuerte die nächste Station an. Die Henriette saß im Flur. In einer Nische vor den verschiedenen Türen war eine Sitzecke mit Sesseln und Tischchen hergerichtet. Sie strahlte. Es ging ihr besser. Auch ihr. Sie lachte. „Morgen gehen wir nach Hause.“
   Ich freute mich mit ihr. Ich dachte, hast du das Auto schon mit zwei Patienten-Schäfchen ausgelastet. Ich wandte jedoch ein: „Wollen erst mal sehen, was die Ärzte so sagen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hat er schon gesagt. Sogar der richtige Arzt war hier. Der Alte. Und mein Tinchen war auch dabei.“ Ich fand das ganz lustig. Nach Helene nun auch die Henriette. Tineke. Die Kleine geisterte mittlerweile nicht nur mir im Kopf herum. Ganz klar, die Trennung dauerte einfach zu lange. Und wären meine Gespräche an diesem Nachmittag Gegenstand einer Story gewesen, so hätte ich diese mit Träumen von Tineke betitelt. Offensichtlich hing nicht nur ich allein an der hübschen Kleinen, die meine Verlobte war.
   Demnach fand ich es nicht mehr sonderlich aufregend, als ein paar Minuten später Clements mit denselben Visionen aufwartete. „Stell dir vor, Jerominus, meine Rückenschmerzen sind fast weg, ich kann morgen heim. Zu euch, zu uns. Es muss passiert sein, als du mich zuletzt besucht hast und wir beide so durch den Wind waren. Erinnerst du dich? Zack, war es vorbei damit. Ohne äußere Behandlung, ohne Operation. Es war tatsächlich psychosoldatisch, also nicht körperlich, sondern eher so von innen. Ausgerechnet deine Tina hat das herausgefunden. Und der andere Arzt hat’s bestätigt.“
   Ich fragte ihn nicht, wie und wann er Tineke gesehen haben wollte. Ich nahm das jetzt so hin. Ich dachte, warum tust du nicht selbst so, als wäre sie da? Schon.
   Vielleicht kommt sie dann auch. 

Folge 110 vom18. Juli 2020 

Ich saß bei Jonathan. Seine Augen kullerten, er sah aber noch immer bleich und kraftlos aus. Wir redeten. Nein, ich redete nur. Zunächst. „Dass jemand bei diesem Mistwetter stundenlang im Freien herumläuft. Sich irgendwo ins nasskalte Gras setzt, bis es quasi mit ihm vorbei ist. Das muss mir mal jemand erklären, warum er das tut.“ Es waren inhaltlich die gleichen Vorwürfe und Fragen, die bereits der Chefarzt losgelassen hatte. Sie stimmten nun mal. Und sie stimmten mit meiner eigenen Meinung überein. Obschon ich den anderen Teil des Vorwurfs nun verschwieg: Warum hat diesen Menschen niemand an dem selbstmordversuchähnlichen Unterfangen gehindert? Warum nicht du, Erasmus Erster? Oder du, Jerominus? Doktor.
   Er redete jetzt. Jonathan. Die Stimme war weiterhin sehr schwach. Dafür beharrlicher. „Ich habe Tonya gesehen. Ernestos Partnerin. Ihr Gesicht war als Bild in die Luft projiziert. Hinterm Deich. Sie hat mich getröstet. ‚Bleib bei Erasmus’, hat sie gesagt. ‚Und bei Tineke. In unseren Raumkreuzer können wir dich nicht mehr aufnehmen. Wir sind zu weit weg. Kämen wir zurück, wäre die vorausberechnete Route nicht mehr nutzbar.’ Mehr hat sie nicht gesagt. Leider. Doch. Sie sagte noch: ‚Du wirst leben, Jonathan. Du wirst diesen Unfall überstehen und glücklich sein.’ Darum bin ich so froh. Darum macht es mir nichts aus, hier zu liegen. Halb tot. Weil wir zusammenbleiben. Wir.“ Er schwieg. Er röchelte. Er kämpfte um Luft, um Leben. Er schloss die Augen. Schlief er, sollte ich mich entfernen? Ich wollte es tun, jedoch spürte ich seine Hand. Sie tastete nach mir wie die Hand eines Sterbenden. Nein, er würde nicht sterben. Wir hatten es beide gehört, beide erfahren. Getrennt. Es musste stimmen. Oder stimmte es nicht? Bildeten wir uns das Schauspiel des Morgens nur ein? Jeder für sich, vom anderen angesteckt. Eine Vision aus dem Kopf heraus. Spinnerei.
   Plötzlich redete er wieder. Noch leiser, dafür schneller. Als würde er sich letzter Worte entledigen müssen. „Ich habe Tineke gesehen. Sie war hier. Vorhin. Über meinem Gesicht. Ihr Gesicht. Sie wird hier bleiben. Ein paar Tage. Erasmus, wenn ich doch sterben sollte, bitte vergesst mich nicht. Und vergesst auch nicht: Ich will meine Organe weitergeben. Ich möchte andere Menschen retten. Ich werde auf diese Weise in ihnen weiter leben. In ganz vielen Körpern und Gehirnen. Gute Menschen werden dadurch noch besser und schlechte vielleicht gut.“ Er brach ab. Er riss die Augen auf. Er pumpte mit schnellen, flachen Atemzügen nach Sauerstoff. Die Brust, die eben noch völlig eingefallen schien, hob und senkte sich wie ein undichter Blasebalg. Was da rein ging an Sauerstoff, schien durch fremde Kanäle nutzlos zu verpuffen. Es sah gespenstisch aus. Es hörte sich gespenstisch an. Ein Sterbender, dachte ich, so und nicht anders stirbt es sich mit kraftlosem Herzen und ruinierter Lunge. Ich war völlig verzweifelt, aber ich heulte oder jammerte nicht. „Ein Herz“, stieß er noch hervor, „ein Herz von einem anderen wollte ich nicht. Von einem, der sterben musste. Nicht wegen mir, aber zu meinem Vorteil. Und ich wollte es auch keinem anderen wegnehmen. Keinem, der schlimmer dran ist als ich.“ Er brach ab, seine Hand entglitt, die Atemzüge wurden dünn, hinter dem Bett begann plötzlich ein Gerät zu ticken. Tick, tick, tick. Danach wurde aus dem Ticken ein Piepen, ein Pfeifton. So wie ich ihn aus Filmen mit schlimmen Krankenhausszenen oder eben aus diesen unermüdlich gesendeten Ärzte-Folgen kannte.
   Er starb.
   Ich sprang auf. Ich rannte auf den Flur. Ich gestikulierte, ich schrie. „Macht denn hier keiner was? Warum macht denn hier keiner was? Der stirbt hier und keiner macht was!“ Ich glaube, ich schrie gar nicht diese Sätze, sondern etwas anderes. Das klang vielleicht noch schlimmer, noch schriller, noch alarmierender. So laut. Es mochte womöglich bis ans Ende der Welt hallen. Oder bis an den Anfang. Bis ins All.
   Aber es wirkte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen tauchten zwei Krankenschwestern auf. Innerhalb von Sekundenbruchteilen waren sie auch bei Jonathan am Bett. An den Apparaten. Aufgeregt, fahrig. Eine fauchte: „Wer hat Sie überhaupt hier hereingelassen? Hier haben Sie nichts zu suchen!“ Und die andere keifte: „Wenn er stirbt, ist es Ihre Schuld!“
   Ich schrie zurück: „Ihr sollt helfen und nicht durchdrehen, ihr Versager!“ Ich glaube, sie hörten beide nicht, was ich von mir gab. Ich hörte es ja selbst kaum. Sie bastelten und stellten unkontrolliert an den Instrumenten, sie versuchten Jonathan durch Bewegungen und Zurufe zu beleben. „Hallo. Hören Sie mich? Uns! Hallo, nicht einschlafen!“
   Nein, sie konnten ihm nicht helfen, und sie wussten das. Der Pfeifton nämlich blieb unverändert. Das Leben, schwand. Der Mensch, dieser Jonathan, Hubert, Honsa, er entlebte sich. Er war bereits entlebt.
   Dann klappte die Flügeltür. Das war nach ebensolchen wenigen Sekundenbruchteilen. Oder nach Stunden. Vielleicht schon im neuen, im nächsten Leben. Über den Flur näherten sich in einem unglaublichen Tempo Schritte. Oder tatsächlich vom anderen Ende der Welt. Der Erde. Sogar aus dem All. Wie jemand nur so schnell rennen, so rasen, fast fliegen kann, dachte ich, im Krankenhaus auch noch; und schon sah ich die Person an Jonathans Bett stehen. So schnell, so unglaublich schnell war sie tatsächlich herbei geflogen und so schnell hatte sie sich einen Überblick verschafft. Eine schmale Gestalt mit dunklen, jetzt wieder kurzen Haaren, die nicht mal eine Arzt-Montur trug.  

Folge 111 vom 24. Juli 2020  

Die aber handelte.
Die Person war Tineke.
Mit ein paar Handgriffen hatte sie ein anderes Instrument eingeschaltet und Jonathan eine Maske auf das Gesicht gestülpt. In fauchenden Stößen wurde Sauerstoff in den scheinbar dahinschwindenden Körper gepumpt, gepresst. Und Flüssigkeit, die aus einer neuen Infusionsflasche kam. In diesen entlebten Körper hinein. Und natürlich: Herzdruckmassage. Langsam ebbte der Pfeifton ab. Oder schwand er schnell dahin? Ein rhythmisch auftretendes Kontrollsignal, das ich sonst aus düsteren Krimi-Szenarien kannte, stelle sich ein. Hatte ihn das Leben wieder? Er das Leben? Tineke war noch skeptisch. Sie äugte, horchte und prüfte. Sie schaltete an einem weiteren Gerät herum, bis daran mehrere grüne Lampen nun auch dessen Betrieb anzeigten.
   Jonathan lebte. Sie lächelte. Sie reichte mir ein Taschentuch. Ich hatte geheult und geschwitzt, gefroren und gezittert, ich merkte es jetzt erst. Ganz oberflächlich.
   „Mein erster Patient in diesem Haus, und gleich so ein Volltreffer“, sagte sie. Sie sah stolz aus, aber auch etwas bange, bewegt. „War vielleicht besser, dass alles ganz schnell gehen musste und ich fast automatisch gehandelt habe. Ich habe das ohne jedes Nachdenken getan.“ Ich musste, durfte nichts hinzufügen, denn der Chefarzt stand nun bei uns. Bei Jonathan. Er kontrollierte Tinekes Arbeit. Er sagte aber alsbald: „Alle Achtung, das macht keiner so schnell nach. Der Kollege Kurz aus der Hauptstadt hat mit seiner Empfehlung eher untertrieben. Ich werde jedenfalls alles daran setzen, dass Sie bei uns anfangen.“ Er musterte jetzt mich. Ich hielt das Taschentuch in der Hand und vermochte mein Gesicht nicht trocken zu wischen. Ich war starr.
   „Und Sie natürlich hautnah am Brandherd. Es kann auch gar nicht anders sein. Sie geben mir permanent das Gefühl, als befände ich mich in einer Fernsehserie. Der mit den Geistern redet oder etwas Ähnliches.“ Er schüttelte den Kopf. Er lachte aber auch. „Immerhin schaffen Sie es, uns mit Arbeit zu versorgen. Wo ja meines Wissens noch drei weitere Patienten aus Ihrem Serien-Team unsere Betten bezogen haben. Ist vielleicht in absehbarer Zeit mit Nachschub zu rechnen? Ich frage das, weil wir dann langfristig neues Personal einstellen, uns baulich erweitern und das Kantinenangebot aufstocken könnten. Oder kommt wirklich das Fernsehen?“

Tineke saß neben mir im Auto. „So Chefärzte“, sagte sie, „sind nun mal ein besonderer Menschenschlag. Vor allem sind sie der Adel des gesamten Berufslebens. Vielleicht der ganzen Menschheit. Egal, mit welcher Branche man sie vergleicht, sie sind unangefochten wie kein anderer Stand. Es ist also legitim, wenn dich der hiesige mal ein bisschen launisch derb auf die Schippe nimmt. Ich hatte übrigens den Eindruck, er kann dich trotzdem gut leiden. Er hat halt das Problem, dass er deine Verhältnisse nicht richtig kapiert hat. Clements, Helene und die Henriette. Jonathan. Und das hat ein Chefarzt absolut nicht nötig, sich detailliert zu informieren. Nicht selbst. Das muss dann schon jemand für ihn tun. Kam mir so vor, als hielte er Jonathan auch noch für deinen Bruder. Witzig, oder?“    Ich bestätigte es. „Das ist so, das bleibt so. Bestimmt auch noch, wenn du diesen Posten bekleidest. Frau Chefarzt Tineke. Nein, Chefärztin. Professorin Tollwin. So sehr lange kann das ja nicht dauern. Da ist dann endlich eine Frau unter den Auserwählten. Und über meine Familienverhältnisse wirst ganz sicher du ihn schon bald informieren.“
   Wir standen bereits auf dem Parkplatz. Der Regen hatte nachgelassen. Sie küsste mich. Sie sagte: „Wenn ich Professorin bin, steigst du mit auf. Das weißt du hoffentlich. Professor Jerominus. Leiter des Deich-Teams und Lehrstuhlinhaber für das Fach Akute Zwischenfälle.“ Sie schob mich in die Limousine des Edward Erster, mit der sie tatsächlich gekommen war. Sie beschloss: „Ich lasse dich heute keine einzige Minute allein. Die Klapper-Kiste deines Bruders lassen wir über Nacht einfach auf dem Besucherparkplatz stehen. Die klaut keiner. Und wenn doch, sparen wir die Verschrottungsgebühren.“   

Folge 112 vom 25. Juli 2020  

Es gab zu erzählen. Von dem Leben in der Hauptstadt zunächst. Und es gab zu lesen. Für Tineke, über mich, über uns, über alle. Zu sehen gab es freilich auch eine Menge. Edwards neues Haus. Tineke lächelte, als ich sie warnte. „Du könntest dich erschrecken, wenn wir zu deinem Küstenhäuschen fahren. Es hat Zuwachs gekriegt. Wie es so ist im Leben, sind die Nachkömmlinge bedeutend größer als die Vorfahren.“
   Die Nachricht war keine Überraschung für sie. „Edward hat das schon angedeutet, kurz bevor du die ominöse Reise in die Kantemus-Klinik angetreten hast. Er ist deswegen unterwegs gewesen. Als niemand wusste, was er treibt, hat er den Kauf des Grundstücks und sämtlich Formalitäten erledigt. Es sollte eine Überraschung werden. Für dich. Auch mir hat er es erst vor ein paar Tagen konkret gesagt. Am Telefon.“
   Als wir vorfuhren, war sie dennoch überrascht. Das Gebäude ragte auch in der Nachdämmerung mit beeindruckender Kontur vor uns empor. „Das hatte ich nicht erwartet. Da hat dein Edward mit seinen Andeutungen ja doch echt untertrieben. Würde ich mir gern von innen ansehen.“ Prompt erschien der Bauinitiator höchst persönlich. Er begrüßte Tineke, als gehörte sie seit Ewigkeiten zur Familie.
   War es aber nicht so? Und schon gingen Edward und sie auf das Bauwerk zu.
   Na gut, ich schaffte ihre Taschen ins Häuschen. Sie hatte jede Menge Sachen mitgebracht. Umzug, Auszug, Abzug. Abschied von der Hauptstadt. Für wie lange?
   Tineke meinte es. „Was bin ich froh, wieder da zu sein. Zu Hause. Wie gut allein die Luft und die Stille tun.“ Sie rekelte sich, nachdem sie die Besichtigung des neuen Bauwerks absolviert hatte, in der Wohnküche, sie ging durch die wenigen Räume des kleinen Küstenhauses. Hie und da blieb sie stehen und betrachtete das Inventar oder eines der an der Wand hängenden Bilder. „Wenn keiner da ist, kommt einem selbst das kleine Haus richtig groß vor.“ Sie seufzte schwer. „Ohne meine Henriette ist das alles sowieso nicht vollständig.“ Und sie meinte auf einmal: „Wie wär’s denn, wenn wir den anderen das große Haus überlassen und wir zwei bleiben hier wohnen?“ Ich verneinte. Ich erzählte, was Edward Erster angekündigt hatte. „Kann sein, dass er, wenn wir alle im neuen Haus wohnen, dieses Häuschen sanieren wird. Womöglich zieht er danach selbst dort ein. Wenn auch höchstens für die nächsten zwanzi­g Jahre.“  

Endlich las Tineke mein Manuskript. Wir lagen auf dem Sofa im Wohnzimmer, obwohl wir ebenso in das unbelegte Ehebett hätten ziehen können. „Wenn wir hier liegen, ist es für mich der direkte Anschluss an unsere schöne Zeit vom Sommer. Es wird auf jeden Fall wieder so sein.“ Sie sah sehr glücklich aus. Sie gähnte. Sie schwenkte dennoch mein Werk vor unseren Gesichtern. „Kann sein, dass ich es nur anlese. Kann sein, ich schlafe unversehens ein. Das hat dann nichts mit Desinteresse, sondern mit Totalerschöpfung zu tun. Morgen lese ich es auf jeden Fall zu Ende.“ Sie setzte sich auf und bog ihren Körper weit vor, weit über mich. Und küsste mich auf den Kopf.
   „Und?“, fragte ich betont kühl. „Wolltest du dich deines restlichen Lippenstifts entledigen oder suchst du nach Melanomen?“
   Sie kicherte. „Ein Kantemus-Kuss. Zur kühlen Ruhe. Rhön-Ruhe. Mit Hantschuloko-Geschmack. Du verstehst, was ich meine. Oder?“
   Ich verstand nicht.
   Sie gab sich genervt. „Ich wollte bei dir meine Verständniswellen aktivieren. Interdisziplinarität. Dann habe ich einen besseren Zugang zu deinem Text.“
   „Aha“, sagte ich friedvoll. „Ich will mal hoffen, dass du nicht überrollt wirst. Es könnten Flutwellen dabei sein. Brecher, wie sie hinter dem Deich mitunter ankommen. Oder anderswo.“
   Sie schmiss sich zurück in die Rückenlage. Sie widersprach: „Vor dem Deich.“
   „Ansichtssache“, widersprach wiederum ich.
   „Ewig muss er das letzte Wort haben.“ Sie sagte es gespielt beleidigt zu sich selbst. Und: „Weiß ich wenigstens, dass ich noch verlobt bin.“ Sie straffte das Blattwerk mit einem exemplarischen Ruck und begann mit dem Lesen. Sie las schnell und trotz ihrer Müdigkeit aufmerksam und mit wachsender Spannung.
   Ich schloss die Augen. Nein, sie fielen von selbst zu. Ich war müde, in den letzten zwei Nächten hatte ich kaum geschlafen. Tineke schien hingegen ihre Müdigkeit vergessen, überwunden zu haben. Das machte das Manuskript. Aus meinen tiefsten Schlafgründen heraus registrierte ich, wie sie sich fortan mit kaum unterdrückter Verve durch die aufgehefteten Seiten arbeitete, dieselben hin und her schlug, dabei dieses und jenes murmelte, kommentierte, sich selbst Fragen stellte. Wie sie allmählich in Aufregung geriet und mich gegen vier Uhr anstieß. Nicht nur anstieß, sondern rüttelte. „Hör mal, mein Lieber, das mit dieser Tonya, was du da geschrieben hast, das ist doch garantiert nicht alles?! Du hattest was mit ihr. Gib das zu!“
   Ich war schlaftrunken. Ich war geblendet vom Licht. Ich hatte in dem Moment, da sie mich rüttelte, geträumt, ich sei überfallen worden; jemand schrie mich an: ‚Geld oder Leben! Oder deinen Verlobungsring!’“
   Sie wiederholte es. „Du hattest was mit ihr. Du hast dir diese ganze Story ausgedacht, um die Affäre mit Tonya zu vertuschen. Klar, das ist klasse geschrieben, das werden dir diverse Leute als Wirklichkeit abnehmen. Zumal du alles glaubhaft erklärst. Aber bei mir kommst du damit nicht durch. Mir gehen verschiedene Lichter auf, wenn ich das lese, mit welcher Sorgfalt und Hingabe du Tonya beschreibst. So schildert man nur jemanden, in den man verliebt ist.“ 

Folge 113 vom 26. Juli 2020  

Ich war nun wach, obwohl ich Mühe hatte, ihr zu folgen. „Ich und Tonya. Welchen Sinn soll das bitte schön ergeben?“
   Tineke überlegte nicht lange. „Ganz einfach: Sie ist die Pflegerin deines Vaters. Er liegt in der Klinik, in der du dich die ganze Zeit rumgedrückt hast. Vermutlich ist dein Vater genauso pathologisch krank wie du. Vermutlich noch schlim­mer, weil die Krankheit in seinem Alter erheblich fortgeschritten ist. Die Kantemuseissis. Ihre Hauptsymptome sind Luftblasen, die sich im Kopf des Patienten bilden und schließlich platzen.“ Sie war wieder über mich gebeugt, über mein Gesicht. Ihre Augen waren riesig. Und voller Feuer. Auch voller Ironie? Sie streichelte meinen Kopf und wurde auf einmal lieb. „Wenn ich dir eines nicht zutraue, Doktor Jerominus, Professor in spe, dann dass du in deiner Abwesenheit fremdgegangen bist.“ Sie küsste meine Wangen. Links, rechts. Oder rechts, links. Dann legte sie ihren Kopf auf mein Gesicht. Oder auf den Hals und die Brust. Ihre Haare kitzelten in meiner Nase. „Es ist unglaublich spannend. Ich muss mir immer wieder einreden, das, was da geschrieben steht, hat sich einer ausgedacht, mein späterer Verlobter auch noch, es ist nicht wirklich geschehen. Nur in seiner Birne.“ Sie seufzte. Sie hob den Kopf wieder. Sie rückte ein Stück höher. Sie sah mir wieder in die Augen. Neugierig, zweifelnd, bewundernd.
   „Und wenn doch?“, fragte ich. „Wenn ich tatsächlich im All war und Tonya und Ernesto dort existieren? Und der blinde Lurtz.“
   Sie hakte sich fließend in meine Rede ein: „Und der Raumkreuzer und die Basisstation und das Totalchaos auf dem Bahnhof. Es gibt für alles Beweise, es hat sich alles wirklich zugetra –.“ An dieser Stelle hielt sie inne. Sie überlegte laut. „Das Chaos, bei dem alles zusammengebrochen war, hat es gegeben. Ich weiß davon, ich war an dem Morgen ja selbst unterwegs. Ganz Berlin hat davon gesprochen, das ganze Land. Alle Welt hat gelästert.“
   Sie schwieg unversehens, sie schaute irgendwie in die Weite. Vielleicht ins All. Und sie überlegte eine Weile wortlos. Sie sagte endlich: „Schnauf! Mehr fällt mir dazu im Moment nicht ein. Ich sollte auch erstmal weiter lesen. Nicht?“  

Sie las bis in den Morgen, noch als die verschiedenen Möbeltransporter am Neubau des Onkels eintrafen. Es waren noch zwei oder fünf Seiten, die ihr fehlten. Ihr Gesicht glühte jetzt. Die Füße, mit denen sie aufgeregt über meine Waden strich, waren hingegen kalt. Sie merkte es nicht. Sie hatte während des Lesens die Blätter aus dem Heftrand gezogen. Das, was sie fertig hatte, lag nun über den Boden verstreut. Eine Leseschlacht, die sie geschlagen hatte. Voller Neugierde, voller Eifer. Auch noch voller Zweifel?
   Ich stand auf, weil Edward in der Küche rumorte. Nein, rumorte stimmt nicht. Er bemühte sich, leise zu sein.
   „Wir haben wenig geschlafen“, begrüßte ich ihn.
   Er lächelte hintergründig. „Kann ich mir denken. Nach der langen Trennung.“
   Ich lächelte auch, und ich schüttelte den Kopf. „Nein. Tineke hat gelesen. Mein neues Buch.“
   Er lächelte weiter, jetzt milde, wohlwollend. Und er fragte: „Glaubt sie dir? Uns?“
   Ich nickte sehr vorsichtig. „Sie ist zumindest auf dem Weg dorthin.“
   „Soll ich mit ihr sprechen? Ihr dieses und jenes erklären? Von uns Ersters, von dir, aus der Jugendzeit? Deiner und der deines Vaters.“
   Ich verneinte. „Ich werde die Wahrheit meiner Geschichte vielleicht nie beweisen können. Sie wird sie also nur akzeptieren, wenn sie mir vertraut. Und wenn sie begriffen hat, dass sie ein Teil davon ist. Von uns und von der Geschichte selbst.“
   „Du bist ein kluger Mensch.“ Er sah mich ernst an. „Du wirst einen eigenen Weg finden und dich verwirklichen. Ich traue dir auch eine Karriere zu. Erfolg, Anerkennung. So wie es bei uns Ersters üblich ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass du dich als Schriftsteller durchsetzen wirst.“ Er lächelte wieder. „Du siehst müde aus, Junge. Leg dich noch hin. Es gibt hier im Moment nichts für dich zu tun. Den ganzen Morgen lang nicht. Deine künftigen Hausgenossinnen und Hausgenossen müssen nicht gleich in dieser frühen Stunde abgeholt werden.“
   Ich suchte im Schlafzimmer der Henriette nach dem kleinen Kissen mit den Weizenkörnern und legte es in die Mikrowelle. Ich ging ins Bad. Ich schaute lange in den Spiegel. Leise sagte ich: „So sieht ein glücklicher Mensch aus. Und Glück ist schließlich auch eine Form von Erfolg. Eigentlich die großartigste.“ Ich ging in die Küche zurück und nahm das Kissen aus der Mikrowelle heraus. Es war so heiß, dass ich es nur kurz in den Händen halten konnte. Ich brachte es schnell ins Wohnzimmer und schob es unter die Bettdecke, direkt auf Tinekes Füße. „Ah, das tut gut“, stöhnte sie. „Ich habe gar nicht gemerkt, wie kalt mir geworden ist. Dort unten.“ Sie blickte mich an, nachdenklich, benommen, dennoch erfüllt. „Ich bin fertig mit Lesen.“ Sie schwieg, und ich wollte sie nicht nach ihren Gedanken fragen. Es musste sich setzen. Der Inhalt, alles.  

Folge 114 vom 27. Juli 2020  

Meine Zurückhaltung erwies sich als richtig, denn sie sagte selbst: „Danke, dass du nicht gleich meine Meinung hören willst. Jetzt, wo ich ja auch über uns, über mich und die anderen so viel gelesen habe. Es ist noch zu frisch. Ich muss erst schlafen. Ganz lange nämlich. Danach reden wir. Ich. Vielleicht, hoffentlich bei einem Spaziergang. Auf dem Deich. Nicht davor und nicht dahinter.“ Sie streckte sich. Sie strampelte sich das Wärmekissen zurecht. Sie versicherte nochmals: „Das mit dem schönen heißen Körnerkissen war jetzt wirklich ein super Idee. Überhaupt hast du immer die besten Ideen. Besonders in deinem Buch. Vor allem, dass du Jonathan, deinen Zieh-Bruder, praktisch von Seite zu Seite sympathischer beschrieben hast, das finde ich richtig rührend, das rechne ich dir hoch an. Ein anderer, nicht so guter Autor hätte das mit seinem Herzfehler eiskalt ausgenutzt und ihn sterben lassen. Für einen Abschluss nach Maß. Mit vielen Tränen. Mit Trauer. Mit falscher Phantasie.“ Sie starrte mich an und sagte nachdenklich: „Dabei stand es wirklich schlimm um ihn, richtig knapp war es. Ganz, ganz hochgradig.“ Sie zögerte, fragte: „Oder hast du es noch vor? Betrachtest du die Geschichte noch nicht als beendet und schreibst einen Schluss, in dem er stirbt?“
   Ich verneinte. „Es wird so bleiben. Selbst wenn er gestorben wäre, gestern, heute, ich hätte ihn leben lassen. Vielleicht hätte ich ihn auf den Raumkreuzer geschickt. Irgendwie wäre es gegangen. Sie hätten ihn geholt. Vielleicht wirklich. Lurtz, Tonya. Im Auftrag von Ernesto. In meinem Auftrag. Es wäre seine Erfüllung gewesen. Und unser großer Trost.“
   Sie seufzte erleichtert. „Er soll hier bleiben. Bei uns. Auch in der Geschichte. Und er soll leben, froh sein, glücklich. Mit dem alten oder einem neuen Herzen, egal. Es ist eine wirklich schöne Geschichte. So wie sie ist. Ich bin dir richtig dankbar dafür.“
   Sie hob den Kopf. Sie lächelte. Es sah hell aus. Das Gesicht, dieser Mensch Tineke. Das ganze Leben. Ihres, meines und das meiner Clique. Es war doch eine Clique?
   „Und?“, fragte sie spöttisch. „Soll ich hier allein liegen? Mich ängstigen und dich womöglich wieder ins All fliegen lassen? Zu deiner jungen Schwiegermutti, meiner Konkurrentin?“ Sie kicherte und strampelte ungeduldig mit den Füßen.
   Ich legte mich ungelenk neben sie.
   Sie sagte: „Warum rückst du so weit von mir ab? Hab ich dir etwa was getan? Vor allem: Meinst du nicht, dass auf einmal dieser blinde Lurtz kommen und mich abholen könnte? Für sich, als Partnerin im ewigen Leben. Jerominus, guter Doktor und Professor in spe, also an deiner Stelle hätte ich direkt ein bisschen Angst, dass sich das Zintchen womöglich ins Weltall verkrümeln könnte.“
   Ich rückte näher, hautnah. Ich hielt sie fest. Sie war dünn, aber ganz warm. Sie gähnte, die Atemzüge gingen plötzlich tief und langsam. Sie schlief schon. Ich streckte den Arm aus und knipste am Lichtschalter. Es blieb trotzdem leuchtend hell. Weil ihr Gesicht leuchtete. Sie.
   Ich lächelte. Ich war glücklich. Und ich gähnte ebenfalls. Ich schlief.  

Nach dem Mittag erledigte ich den Sammeltransport. Alle Schäfchen sollten, durften, mussten nach Hause. Alle wollten nach Hause. Es ging ihnen ziemlich gut. Auch Jonathan hatte sich stabilisiert. Sein Zustand, der Kreislauf. Natürlich, er kam nicht mit. Das würde noch seine Zeit dauern, ehe wir ihn holen würden. Bis dahin hatte er noch Tage im Krankenhaus, vielleicht Wochen. Bis dahin würde er eine Kur absolvieren. Keine wie sie Edward Erster zuweilen für sich ausgesucht hatte. Kuren für Wellness, Fitness. Für Polygames(s). Bisher jedenfalls. Und ob Jonathan sich nun doch für ein neues Herz listen lassen würde, darüber müsste man reden. Mit dem Chefarzt, mit Tineke, auch mit mir. Und mit ihm, Jonathan.
   Mit ihm auch?
   Eine schöne Kaffeerunde wurde veranstaltet. Noch im alten Haus. Aber der Umzug lag schon hinter uns. Edward Erster hatte die Möbelpacker innerhalb kurzer Zeit zu Höchstleistungen animiert. Mit materiellem Anreiz. „Eine Sonderprämie bewirkt bei dieser Art Kollegen Wunder. Muskelmasse mal Kohle ergibt Extremleistung. Das ist Bestandteil der hand­werkerlichen Grundrechenarten.“ Allerdings hatte Edward auch für neue Möbel gesorgt. Er war nun einmal ein Mensch mit sozialen Tugenden. Und er sagte: „Es soll nicht wie im Museum aussehen. Mit Staubfängern und verstellten Wegen. Schön und bequem und geräumig soll es sein, darauf legen wir Wert. Ich.“
   Die Kaffeerunde nannte Edward zugleich Mietervollversammlung. Er erklärte uns die Bedingungen. Pflichten, Rechte. Es gab Verträge, die er für notwendig hielt. Sie waren bereits vorbereitet. „In erster Linie sichern sie euch als Mieter ab. Kann ja sein, ich lande über Nacht auf dem Friedhof. Oder ich trete plötzlich eine andere Reise an, von der ich nicht wiederkehre. So was richtig Phantastisches. Dann wird mein Generalerbe die Fäden ziehen. Und der ist vermutlich nicht so milde und spendabel wie ich.“ Alle wussten, was gemeint war. Doch es rechnete niemand mit seinem Verschwinden. Weder mit einer Umsiedlung auf den Friedhof noch mit dem Flug in eine ferne Galaxie.  

Folge 115 (Schluss) vom 31. Juli 2020  

Nicht mal mit einer Fahrt ins Schweizlein?
   Vielleicht eine Kur mit Jonathan zusammen?
   Edward setzte angesichts dieser Frage eine abwehrende Miene auf. Nicht nur wegen des schmachtenden Blickes, mit dem ihn Helene bedachte. Aber sein Rückzug, egal wohin, war kein wirkliches Thema. Für den Fall, dass sich sein Gesundheitszustand wider alle Erwartungen verschlechtern sollte, hatte er ebenfalls gut vorgesorgt. „In die Räume, die ursprünglich für Tinekes Arztpraxis vorgesehen waren, zieht zum einen der demnächst zu gründende Erster Verlag mit einer Geschäftsführerin namens Helene. Und in der anderen Hälfte kommt Dominique mit ihrem Pflegedienst unter.“ Er nickte verschmitzt, auch zuversichtlich. „Wenn man den Teufel unter seinem Dach beherbergt, lässt er einen in Ruhe. Eine alte Hundertjährigen-Weisheit.“ Wir klatschten. Selbst die Henriette bemühte ihre Handflächen. „Dominique“, fuhr Edward Erster fort, „zahlt für die nächste Zeit nur die halbe Miete, dafür kümmert sie sich außer der Reihe auch mal um unsere Seniorin.“
   Dass er selbst zu den Senioren zählen könnte, schloss er mit dieser Feststellung deutlich genug aus. 

„Du wolltest mit mir laufen. Auf dem Deich!“
   „Ja. Stimmt. Hab’s nicht vergessen.“
   Es regnete, es stürmte. Dazu die Kälte. Trübes, letztes Tageslicht. Eigentlich ein Kein-Wetter. Wir hatten dicke Jacken an. Dicke Schuhe, dicke Mützen. Schals. Und Taschentücher hatten wir. Alles bestens. „Na, du siehst ja lustig aus“, stellte Tineke fest. Es stimmte. „Aber du auch.“ Es stimmte. „Du kennst mich eben nur in Arztmontur oder in Jeans.“ „Und im Schlafanzug und unter der Dusche.“ Sie fasste meine Jacke und rüttelte mich. Symbolisch drohend. „Du, eine Ladung Duschgel zum Schmeißen findet sich für solche fürchterlichen Spanner wie dich jederzeit.“ Sie küsste mich. Und sie zog mich an der Jacke nach draußen. Es war bereits das neue Haus, das wir verließen. Das andere, das kleine, das Küstenhäuschen lag abseits. Ungenutzt, abgegeben. Ein Anblick, an den man sich gewöhnen musste. Tineke besonders. „Dort brennt jetzt nicht mal mehr Licht.“ Ihr Gesicht war schon nass vom Regen. Vielleicht auch von ein paar Tränen. „Ach“, tröstete ich. „Bald wird es modernisiert, und somit kommt das kleine Schmuckstück wieder zur Geltung. Und den einstigen Einwohnern geht es inzwischen viel besser. Von der Wohnqualität her. Von den zwei Geschäftseröffnungen ganz abgesehen.“ #    Die zweite Geschäftseröffnung
   „Wird das Buch jetzt veröffentlicht? Ersters Erstes.“ Ich bejahte. „Helene sagt, Anfang nächsten Jahres. Das ist günstig, es wird ein Jahr lang aktuell sein.“
   „Für mich wird es immer aktuell bleiben. Weil es so ungewöhnlich ist.“ Sie machte einen kleinen Schwenk und stand vor mir. Aus unseren Kapuzen heraus blickten wir uns an. „Ungewöhnlich in beiden Fällen. Als eigenes Erlebnis. Oder als Phantasieprodukt. Du! bist dadurch ungewöhnlich. Erasmus Doktor Jerominus, Professor in spe Erster.“ Sie trat wieder neben mich, sie zog mich, sie trippelte neben mir her, ich neben ihr. Nein, sie hielt wieder an, sie schwenkte wieder herum, sie stand wieder vor mir. „Und wenn es kein Bestseller wird, wenn es vielleicht keine tausend Leute lesen werden, keine hundert?“ Wir standen im Dunkeln, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Nur ein weißsilbriges Glänzen, das von der Nässe herrührte. Ich wusste aber, wie sie aussah, wie ihre Augen voller Spannung und Wärme auf mich gerichtet waren. „Jerominus, ich mache mir Sorgen, du könntest dann verzweifeln. Dich einschließen in einen Schuppen. Oder abhauen. Zurück in die Rhön, in die Klinik zur kühlen Ruhe. Oder nach Hantschuloko. Diesmal in das schwäbische, wo solche genialen Leute wie du ihre komplette Kreativität einbüßen und auf Kraftfahrer oder Oberhemdenverkäufer umsatteln und als krummnasige Spießer enden.“ Sie kicherte. „Ins Weltall kannst du zum Glück nicht mehr. Sie sind weg. Zu weit entfernt. Hab ich das in deinem Buch gelesen oder hast du’s erzählt?“ Sie drehte sich wieder an meine Seite, lief jetzt locker, beschwingt. Immer meinen Arm ganz fest klemmend. „Ist auch egal.“
   Ich wollte jetzt nicht über Ernesto sprechen. Über Tonya. Nicht über den Raumkreuzer. „Ich werde nicht depressiv. Es hat vermutlich sogar Vorteile, wenn man als Autor unbekannt bleibt. Nirgends erkennen sie einen, keiner glotzt einen an, wenn man morgens mit schräg geknöpftem Hemd beim Bäcker steht oder sich selbst die Haare geschnitten hat. Oder wenn man Kitsch-Zeitungen kauft. Sie werden höchstens sagen, das ist doch der Verlobte der begabten Tineke. Von der Chefärztin. Dem weiblichen Chefarzt. Frau Tollwin. Die erste Medizinerin, die in Hantschuloko promovieren durfte und dort seitdem über einen ständigen Lehrstuhl für Gastvorlesungen verfügt. Er ist also einer von den Guten, er bleibt zu Hause und erzieht die Kinder, damit die Frau im Beruf was leistet. Damit sie vielen Schwerkranken das Leben retten kann. Kommt Leute, macht Platz, er hat keine Zeit, am Ende der Schlange zu stehen und auf seine Brötchen zu warten.“
   „He“, rief sie. Sie kniff mich. „Wenn du nun schon vorhast, mir lauter Kinder anzudrehen, dann werde ich ganz sicher nicht deine Verlobte bleiben. Nicht auf Lebenszeit. Dann werde ich dich zum Standesamt scheuchen. Verstanden?“
   „O ja“, erwiderte ich. „Ich bitte hiermit um deine Hand.“ Sie stöhnte. Oder schrie sie? Eine Windböe trug den Laut hinweg. „Du sollst nicht drängeln. Schreib lieber erst noch Bücher. Im Übrigen wollen wir nicht schwarzsehen. Wir müssen uns das nun nicht vorher schon einreden. Dass das Buch kein Bestseller wird. Vielleicht wird es doch einer. Dann heuern wir bei uns verschiedenste Hausarbeitskräfte an. Putzfrau, Kinderfrau, Kochfrau, Bügelfrau.“ Sie überlegte nach weiteren Möglichkeiten. Fand keine. Blieb stehen. Stand wieder vor mir. „Hör mal, Doktor Jerominus. Seit wir auf dem Deich laufen, hast du mich nicht ein Mal geküsst.“
   „Ja, stimmt“, erwiderte ich. „Aber auch keine andere.“ Ein dummer Spruch. Wir küssten uns. Es schmeckte salzig. Regen lief von den Kapuzenrändern auf unsere Gesichter. Wind fegte über, zwischen uns. Tineke schüttelte sich. „Du nasser Frosch“, sagte sie. Sie streichelte mit der Hand mein Gesicht. Ich entgegnete: „Nasse Fröschin.“ „Quak“, sagte sie. Ich lachte. Am Himmel öffnete sich die Wolkendecke um einen Spalt. Der Mond war gelblich dick als Scheibe zu sehen. Schwarze Linien durchpferchten sein Gesicht. Es wurde heller. Tineke fasste in die Tasche ihres Anoraks. Sie sagte: „Wenn das so hell ist, kann ich ja mal wieder meine Sonnenbrille aufsetzen.“ Und schon hatte sie die Brille auf der Nase. „Wetten, dass du genau in dem Augenblick an sie denkst? Tonya, deine Schwiegermutter.“ Sie sah mich an, ich konnte – in der Mondfähle und trotz der dunklen Brillengläser – ihre Augen sehen. Große, wunderbare Kullerdinger. Staunend, fragend. „Diese Brille, auch der seltsame Zweiteiler, mit dem sie Jonathan am Deich gefunden haben, du, ich sag dir, wenn ich an diese Gegenstände denke, an das komische Sprachgenuschel, mit dem du aus der Rhön zurückkamst, dazu ein paar andere Sachen, du, dann gerate ich verdammt in die Versuchung, dir zu glauben.“
   Ich fasste vorsichtig nach der Brille und schob sie von der Nase auf ihre Stirn. Ich sagte: „Tu’s doch. Glaub’s nicht nur, weiß es doch. Hattest es ja sowieso versprochen, als du mir eingeredet hast, ich soll alles aufschreiben.“ Sie nickte. Sie sah nachdenklich aus. Sie sagte endlich: „Warum eigentlich nicht. Ich hab ja tatsächlich gesagt, deine Wahrheit soll nachher meine Wahrheit sein.“ Sie ließ die Sonnenbrille wieder auf die Nase rutschen. Egal, dass der Mond hinter den Wolken verschwand und es wieder finster wurde. 

Liebe Leserin, lieber Leser, 

wir sind mit unserem Fortsetzungsroman auf Seite 536 angekommen.
Es ist die letzte Seite.
Mit dieser Folge beenden wir demnach die Fortsetzungsreihe von „Sein Erstes Buch“. Leider haben sich durch eine Erkrankung des Autors zuletzt einige Verzögerungen ergeben. Wir hoffen, dass wir Sie (oder dich)trotzdem gut unterhalten konnten.
Wenn Sie möchten, können Sie uns per Email eine Rückmeldung geben firstminute@web.de.  

Ihr first minute Verlag