Liebe Lese-Community, bitte folgen Sie den (nicht immer ganz) regelmäßigen Fortsetzungen. Es wird immer spannender.
I. Teil Über Tineke, mich und mein erstes Buch
Dies ist die Geschichte meines
ersten Buches.
Ich habe dieses
Buch wegen Tineke geschrieben. Und wegen mir. Und weil es eine Menge zu
erklären gab. Natürlich, ich wollte Schriftsteller werden. Das sowieso.Tineke
hat mein erstes Buch gefallen, und das hat mich glücklich gemacht. Und noch
glücklicher gemacht hat mich, dass sie gesagt hat, wie sehr sie mich liebt. Das
war allerdings schon vorher. Bevor ich mit dem ersten Buch überhaupt begonnen
hatte.Ich
selbst hatte mich auch verliebt. In Tineke. Sozusagen unsterblich. So wie sie
sich in mich verliebt hatte. Mindestens so. Vielleicht noch mehr. Das
war noch in der Zeit, in der ich an einem anderen Buch gearbeitet habe. Dieses andere
Buch hatte ursprünglich mein erstes Buch werden sollen.
Ja,
so ändern sich Pläne. Und Absichten. Das andere Buch ist jedenfalls liegen
geblieben. Vielleicht wird es mein zweites Buch. Oder mein drittes. Oder gar
keines. Mein
erstes Buch berichtet von seltsamen Erlebnissen. Alle sind wahr. Dabei hatte
ich zunächst nicht geglaubt, diese Erlebnisse niederzuschreiben zu können. Aber
Tineke hatte mich ja dazu ermutigt. Zum Schreiben. Zur Wahrheit.
Das,
genauer sie, hat mir Sicherheit gegeben. Und Mut. Beim Denken, beim Schreiben. Beim
Planen neuer Bücher.
Für
das Leben überhaupt.
Ich
setze mich nun nicht mehr unter Druck. Ich versuche nicht, es zu erzwingen. Weil ich kapiert habe, dass man einfach mal auf jemanden,
der einem sehr nahe steht, hören soll. Und eine Pause einlegen. Und am Leben
teilnehmen.
Und
man soll ruhig mal einen tollen Ausflug machen, den einem nachher niemand
glaubt. Oder eben nur ein paar Leute.
Ja,
vielmehr will ich vorab gar nicht ausplaudern. Es findet sich alles. Wenn man’s
liest. Mit ’s meine ich die
Geschichte meines ersten Buches.
Ich
freue mich, wenn Sie sie lesen. Oder du.
Über Edward Erster
Edward Erster ist mein Onkel. Er ist
fünfzig Jahre älter als ich. Nein, nur neunundvierzigeinhalb.
Edward Erster
geht es gut, gesundheitlich und vor allem finanziell.
Trotzdem stresst
er hin und wieder. Mich. Er stresst, wenn er sich in meiner Nähe aufhält. Zumindest,
solange ich diese Wohnung hatte, in die sonst niemand gezogen wäre, hat er es
getan. „Eine Höhle.“ Ganz Unrecht hatte er damit nicht.
Edward Erster
tut, als müsse er sich um mich Sorgen machen. Er tut nicht nur so. Er macht sie
sich wirklich. Weil ich nicht so lebe wie er. Er tut, als müsse ich zurück in
seine Villa ziehen oder mir von ihm eine Eigentumswohnung schenken lassen. Oder
ein Häuschen. Oder eine ganze Straßenzeile. Damit ich ein Leben führe wie er. Dann
wäre er eine wesentliche Sorge los.
Ich für meinen
Teil halte Edward Ersters Sorgen für völlig überflüssig. Ich habe andere
Ansprüche an das Leben als er. Es geht mir nicht um finanzielle Erfolge.
Zumindest um keine, die ich Edward Erster zu verdanken haben soll. Ich möchte
mir das selbst erarbeiten. Er hat es schließlich auch getan.
Trotz der
unterschiedlichen Ansprüche und Ansichten fühlen wir uns sehr miteinander
verbunden. Verwandtschaft eint; vor allem, wenn sie nur aus zwei Personen
besteht. Einem Alten, der sich nicht alt fühlt und es irgendwie auch nicht ist,
und einem Jungen, der sich abgrenzt, weil er eigenständig sein will.
„Verwandtschaft
sollte Transparenz schaffen.“ Edward Erster wünscht sich diese Transparenz. Von
mir. Er sagt: „Du solltest keine Geheimnisse vor mir haben und endlich mal die
Karten auf den Tisch legen. Ich habe schließlich auch keine Geheimnisse vor
dir.“
Nun denn, ich ließ
die Karten lieber zugedeckt. Man kann
hier nachfolgend lesen, warum ich das tun muss. Oder tun musste, denn irgendwann
habe ich sie ja doch aufgedeckt, diese Karten. Und meinen Lebensstil habe ich,
weil es unvermeidbar war, sowieso geändert. In einigen Belangen jedenfalls. Ich
habe es aber nicht wegen Edward Erster getan, wiewohl er damit mal wieder seine
Grundsätze bestätigt sah.
Diese
fürchterlichen Grundsätze, sie sind in unserer Familie besonders ausgeprägt. Geheimnisse
beispielsweise werden nicht ohne weiteres offenbart. Und Gefühle versteckt man auch
bestmöglich voreinander. Schon gar nicht zeigt man sie vor anderen,
unbeteiligten Leuten.
Grundsätze werden
jedem neu geborenen Erster bereits in die Wiege gelegt. Oder sollte man sagen, an
der Wiege gesungen?
Damit hat er dann
sein Leben lang zu kämpfen. Allein mit dem Grundsatz und den Folgen der Doppel-Initialisierung
des Namens. Das E.
„Solange der
Name Erster vererbt wird, haben der Nachname und der Vorname seines Trägers mit
einem E zu beginnen!“ So spricht Edward Erster.
Und somit heiße
ich Erasmus Erster.
Eskimoküsse
Es war der erste Besuch, den mir Edward
Erster in meiner Berliner Hinterhofwohnung abstattete. Sicher auch der letzte.
Es hatte seinen
Grund, dass er gekommen war. Er hatte ihn, Edward Erster, diesen Grund. Nein,
nicht die Ankündigung seiner bevorstehenden Abwesenheit. Die nahm er nur als
Vorwand. Wenngleich er sie mit gewohnter Ernsthaftigkeit, sogar mit einer
gewissen Strenge vortrug.
„Ich habe eine
Einladung zur Vorstandssitzung unseres Clubs.“
„Sind es die
Milliardäre oder nur die Millionäre?“
Er überging
meine hämische Frage.
„Es ist in der
Schweiz. Ich bin also einige Zeit fort.“
„Schweiz ist
immer gut.“ Ich lächelte zustimmend. „Die Luft, die Berge. Die Menschen,
besonders die Frauen.“
Auch darauf
reagierte er nicht.
„Da ich mit dem
Auto fahre und die Reise demzufolge einige Zeit in Anspruch nehmen wird, habe
ich beschlossen, gleich etwas länger zu bleiben. Ich fahre zwei Wochen, bevor
die Sitzung stattfindet und gehe noch in ein kleines Wellness-Hotel. Bisschen
Fitness, bisschen Entspannung.“
„Und bisschen
Amüsement“, ergänzte ich. „In der Schweiz hat das alles Niveau.“
Edward Erster
lächelte jetzt. Doch er wurde gleich wieder ernst.
„Ich möchte,
dass du dich während meiner Abwesenheit um etwas kümmerst. Es ist ein
persönliches Anliegen, das ich keinem anderen Menschen übertragen will.“
Er stellte
einen großen, kastenförmigen Behälter, der oben einen Griff hatte, auf den
Boden. Was sich in dem Behälter befand, konnte ich nicht sehen. Er war mit
einem dunkelblauen Tuch überdeckt.
„Ist das ein
Vogelbauer?“, fragte ich. „Ich wusste gar nicht, dass du dir einen Vogel
zugelegt hast.“ Edward Erster wischte
unwillig mit den Händen durch die Luft. „Nein, kein Vogel. Aber eine Art Bauer
ist es schon. Da ist ein Hamster drin. Ein wunderbares Tier.“
Ich verstand es
nicht, ihn verstand ich nicht. Ein Hamster, auch ein anderes Haustier, das war
völlig gegen seine Art. Es belastete ihn, es machte ihn abhängig,
verantwortlich. Und er mochte ja gar keine Tiere. Außer auf dem Fernsehbildschirm,
hin und wieder.
„Hamster sind
im Grunde ganz wunderbare Gefährten. Kuschelig, anhänglich, bis zu einem
gewissen Grade sogar intelligent. Eigentlich auch anspruchslos. Dieser ist zudem
besonders schön. Sein Fell wird durch eine bläulich schwarze Tönung bestimmt.
Das gibt es, habe ich mir sagen lassen, nur selten.“ Er zog vorsichtig die
Decke weg, faltete sie zusammen und legte sie neben den Bauer. Und mit einem
bedeutungsvollen Blick sagte er: „Er ist ein Geschenk einer alten Freundin, die
mich neulich besucht hat.“
Weibergeschichten,
dachte ich, wenn er hundert werden sollte oder einhundertundfünf, Edward
Erster, wird er damit nicht aufgehört haben, weil er nicht aufhören wird, den
Frauen hinterherzusteigen, weil er sie nicht aus seinem Kopf bekommen wird. Allerdings
auch: sie ihn nicht.
„Sie konnte
sich selbst nicht um ihn kümmern, und daher hat sie mir das reizende Tierchen
überlassen. Als Geschenk. Obwohl es ihr sichtlich schwergefallen ist.“
Geschenk,
dachte ich, Hoffnungen wirst du ihr gemacht haben, Edward Erster, daher hat sie
dir den Hamster aufgedrückt. Um sich bei dir in Erinnerung zu bringen. Ich
schwieg jedoch.
„Stell dir vor,
sie hatte dem Tier nicht mal einen Namen gegeben. Deshalb habe ich es getan.
Ich habe ihn Peterchen genannt. Ich hatte da in meiner Firma vorübergehend
einen Mitarbeiter, dem er ähnlich sieht. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Mitarbeiter
hieß Petermann, aber hinter seinem Rücken wurde er Peterchen genannt. Dieser
Petermann war keineswegs unbegabt. Du weißt, ich habe in meiner Firma stets ein
Auge auf gute Leute gehabt. Wie weit sie auch unter mir gearbeitet haben. Ich
habe sie gefördert, weil sie mir nützlich waren. Diesen Petermann habe ich mir
beizeiten in die Zentrale geholt. Er hatte das Zeug zu einem kreativen Werbespezialisten.
Umsichtig und flexibel. Ich habe ihm in Eigenverantwortung ein großes Projekt
übertragen und ihn gut bezahlt. Ich hatte ihn auch schon für weitere Aufträge
eingeplant. Nun, er hat seine Chance nicht genutzt, er war nicht loyal. Er hat heimlich
Unterlagen von fast fertigen Projekten kopiert, um sie weiterzuverschachern. Wie
idiotisch. Der Betrug kam heraus, ich musste ihn rausschmeißen.“
Ich starrte durch
die Gitterstäbe des Hamsterkäfigs auf das kleine schnüffelnde Kuschelknäuel,
das sich seinerseits in Männchen-Manier emporreckte und mich frech anblinzelte.
Ich fragte: „Wie ich dich kenne, hast du an diesem Petermann noch anderweitig Rache
genommen, als nun nach Jahrzehnten einen Hamster nach ihm zu benennen.“
Edward Erster überging
die Bemerkung. Er ließ seinen Blick durch die Wohnung schweifen: „Dieser
Hamster möchte am liebsten bei jeder Gelegenheit seinen Stall verlassen. Natürlich
darf er das nicht. Er könnte weglaufen. Oder er macht sich an den Möbeln zu
schaffen, was für gewöhnlich zu Ärger führt. Na ja, wenn er bei dir mal ein
Stuhlbein annagt, ist das nicht so schlimm.“ Er räusperte sich, was ein
bisschen eine Entschuldigung sein sollte. „Ich stelle das rein theoretisch fest.“
Egal, die
Bemerkung regte mich weder an noch auf. Was meine Möbel anging, stand ich absolut
über den Dingen. Es gehörte einfach zu meinem Lebensstil, dass sie einen exemplarischen
Sperrmüll-Charme ausstrahlten. Heruntergekommen, aber stolz, so lautete meine
Lebenseinstellung, so sah mein Weltbild aus. Auch was die Möbel anging.
„Wie ist das
nun mit dem Futter?“, fragte ich, um das Hamster-Thema, auch seinen Besuch,
wenn schon nicht abzuschließen, so doch abzukürzen. „Kriegt er das schimmlige
Brot, das ich in und neben den Mülltonnen finde?“
Edward Erster meuterte
gewaltig. Es wirkte beinahe echt. „Von wegen. Man gibt Tieren keine
Nahrungsmittel, die man selbst nicht essen würde. Das wäre unmenschlich.“ Er
legte einen Bogen im Format DIN A 4 auf den Tisch. „Hier steht alles drauf.
Wann er gefüttert werden muss und womit, was für die Pflege seines Fells
erforderlich ist und welche speziellen Zuwendungen er regelmäßig bekommen muss.“
Ich lächelte. Zuwendungen,
Pflege des Fells, musste er so dick auftragen?
Nein, das war
noch gar nichts. Edward Erster sah mich eindringlich an: „Peterchen braucht unheimlich
viele Vitamine und Ballaststoffe, sonst leidet seine Physis ebenso wie seine
Psyche! Vor allem könnte sein Fell den Glanz verlieren.“
Ich dachte, das
bist nicht du, der da spricht. Nicht Edward Erster, ein Hamsterprediger.
Ich schaute auf
den Zettel, dann auf Peterchen. Das Gesichtchen des Hamsters wirkte altklug; es
hatte eine drohende Miene aufgesetzt: Wehe, Erasmus Erster, du fütterst mich
nicht nach Vorschrift. Und wehe, du nimmst es mit der Pflege meines Fells nicht
so genau, wie Edward Erster dir das sagt, dann kriegst du Ärger.
Ich hatte nicht
übel Lust, dem kleinen Kerl die Zunge herauszustrecken. Ich tat es nicht, wegen
Edward. Er wollte ernst genommen werden. Und es ging ihm ja nicht um sein
eigenes Befinden. Höchstens mittelbar. Ich begnügte mich mit dem Gedanken an jenes
Spottlied: Traktor hin, Traktor her, der arme Hamster kann nicht mehr … „Hier ist das
Geld, das du für seinen Unterhalt brauchst“, sagte Edward Erster. „Ich habe
alles gründlich durchkalkuliert.“ Er drückte mir fünfhundert Piepen in die Hand.
Was für ein Haufen Geld. Für einen einzigen Hamster. Und für mich, der ich als
gewollt armes Genie seit mindestens einem Dreivierteljahr ohne Einkommen lebte.
Meine gesamten Ersparnisse hatte ich verbraucht und danach peu á peu meine sämtlichen
Besitztümer verkauft. Zuletzt hatte ich sogar die kostbare Plattensammlung
weggegeben. Verborgt, verpfändet, wie immer man das nennen mochte.
Ich schloss
kurz die Augen und rechnete ein bisschen. Und siehe, ich kam auf einen
Pflegesatz von mindestens dreißig Euro je Tag. Dreißig Euro für den Hamster. Dreißig
Euro für mich.
Ich überlegte,
ob ich das Geld annehmen sollte. Verstieß der Zuschuss nicht gegen meine
Grundsätze? Durchbeißen, selbst verwirklichen, entbehren. Kein Geld andrehen
lassen, das du nicht wirklich selbst verdient hast. Und später, wenn ich Erfolg
haben würde, sagen können: Das habe ich mir sauer erkämpft, erhungert, erlitten.
Fast erstorben. Nur so ist man heutigen tags als Bestsellerautor authentisch.
Na ja, Augenzwinkern.
Ich musste die Fünfhundert nicht als Geschenk betrachten. Ich erhielt sie als
Lohn und als Aufwandsentschädigung. Ich verdiente sie, indem ich mich mit dem
lästigen Hamster herumplagte. Ein Job. Und so gesehen waren dreißig Euro pro
Tag eher ein lausiges Einkommen.
Edward Erster war längst nicht
fertig mit seinen Erklärungen, seinen Fragen. „Stimmt es wirklich, dass du
unsere schöne Plattensammlung verkauft hast?“
„Diese
Plattensammlung gehörte mir. Nicht uns.
Bitte, vergiss das nicht, Edward. Und genau genommen habe ich sie nicht
verkauft. Ich kann sie jederzeit wiederbekommen. Als Gesamtpaket oder in
einzelnen Exemplaren. Ich könnte sie mir auch ausleihen oder ganz zurückgeben
lassen. Schenken. Ich müsste sie nicht mal auslösen.“
Edward Erster
ließ das nicht gelten. „Die Platten waren von deinem Vater. Er hat sich jede
einzelne Scheibe vom Mund abgespart. Jede Woche ist er zu einem dieser
Musikläden gelaufen und hat sich die neuesten Erstausgaben geholt. Oft genug
musste er sogar anstehen. Alles Stücke aus der großen Zeit. Du glaubst gar
nicht, Erasmus, wie auch ich an der Sammlung gehangen habe. Und noch hänge.“
„Und wenn, Edward.
Vererbt hat er sie mir. Nicht uns beiden. Folglich kann ich damit machen, was
ich will. Und wenn mal meine große Zeit
kommt, hole ich sie mir ja wieder. Endgültig. Oder ich lasse diese Platten, wo
sie sind. Weil ich sie vielleicht gar nicht mehr will.“
Edward Erster
seufzte schwer. „Du weißt, Erasmus, dass ich dir die Platten ebenso abgekauft
hätte.“
„Ja“, erwiderte
ich. „Und ich weiß, dass du mir das Geld auch einfach so gegeben hättest, ohne
dass du die Platten hättest haben wollen. Das Doppelte, das Dreifache. Aber das
wollte und will ich nun mal nicht.“
Er tat, als
hätte er mich nicht gehört. Sein Blick durchwanderte meine Wohnung, und er
seufzte gleich noch mal, diesmal viel herzhafter, irgendwie richtig deprimiert.
„So wie du hier haust, in diesem Loch von einer Hinterhofbehausung, fällt es
mir schwer, an eine große Zeit für dich zu glauben.“ Er nestelte unruhig mit
der linken Hand an seinem Halstuch, das von einer goldenen Spange, auf der ein
ziemlich kostbarer Stein prangte, zusammengehalten wurde.
Ich zuckte
ostentativ gelangweilt mit den Achseln und schwieg.
An sich hätte Edward
Erster jetzt gehen müssen. Zurück in seine Villa oder hinunter auf die Straße,
wo eines von seinen exklusiven Autos stand. Mehr oder weniger war alles besprochen.
Zwischen uns. Aus meiner Sicht. Aus seiner nicht. Er kam, um sich noch
festzuhalten, daher wieder auf den Hamster zu sprechen. Auf dessen Betreuung. Auf
jenen Bogen mit den Anweisungen. Was da alles notiert war, unglaublich. Ein
König konnte nicht besser versorgt werden. Peterchen musste nicht nur erstklassiges
Futter bekommen, sondern Edward Erster hatte auch ein ausgeklügeltes
Pflegeprogramm für ihn festgelegt. Wer ihm das nur ausgearbeitet hatte? Ein Rassekaninchen-Züchter
vielleicht? Seinen Notizen nach wurden diverse kostspielige Mittel benötigt,
die ich alle beschaffen sollte: Shampoo, Softgel, Öl, sogar ein
Zahnpflegemittel. Und dabei tat Edward Erster, als hätte er noch nicht mal an
alles gedacht. Er überlegte auffällig angestrengt, ob er nichts vergessen habe.
Tatsächlich setzte er noch eins drauf: „Alle diese Mittel kriegst du nur in
einem Spezialladen. In der Genossenschaft an der stillgelegten
Fernverkehrsstraße. Bitte versuche nicht mal in Gedanken, sie in einem anderen
Geschäft zu kaufen. Du könntest Peterchens Konstitution damit schwächen.“
Ich stöhnte in
mich hinein, dann entgegnete ich entschlossen: „Die Genossenschaft liegt
immerhin achtzehn Kilometer vor der Stadt. Da fährt nicht mal mehr ein Bus. Ich
müsste erst mein Fahrrad reparieren, um dorthin zu kommen.“
Edward war auf
diesen Umstand vorbereitet. Er hatte ihn ja wohl absichtlich herbeigeführt. „Ich
lass dir eines von den Autos hier, den Hawk. Er steht vor der Haustür. Bin damit
gekommen. Ein Chauffeur holt mich gleich mit der Limousine ab. Das heißt,
wahrscheinlich wartet er schon unten.“ Er klopfte mit der flachen Hand auf sein
Jackett, auf die Stelle, wo die Brieftasche saß. „Übrigens, bei der
Versicherung habe ich dich schon vor längerer Zeit als Mitnutzer eintragen lassen.
Und zwar für alle Fahrzeuge. In meinem Alter muss man mit allem rechnen. Du
bist also im Falle eines Unfalles abgesichert.“ Er bedachte mich mit einem viel
sagenden Blick.
Ich nickte zweifelnd.
Es war ungewöhnlich, dass er von sich und dem Tod in einem Satz redete. Er
hielt sich vielmehr für unsterblich.
Genauso
ungewöhnlich war es, dass er mir den Hawk überlassen wollte. In Sachen Autos
war er bislang sehr speziell gewesen. Mit speziell meine ich das Gegenteil von
großzügig. Seine Autos waren für ihn das, was dereinst für meinen Vater die
Schallplatten gewesen sein mussten. Eine Leidenschaft. Tatsächlich besaß er acht
sehr teure Fahrzeuge, die er sorgsam hütete und eigentlich nie aus der Hand
gab. Vier davon waren ausgesuchte Oldtimer, Einzelstücke. Sie befanden sich in
einer hochgradig gesicherten Garage außerhalb der Stadt. Sie wurden zu
besonderen Anlässen vorgeführt. Zu Fototerminen, für Werbespots oder teure
Spielfilmproduktionen über alte Zeiten, zuweilen auch für Dokumentationen über andere
pröllige Kapitalisten, die sich das Luxusgefährt ebenfalls gegönnt hatten. Die
Haltung der Fahrzeuge war nicht eben billig, doch die Film- und Foto-Aufnahmen,
die sich Edward Erster fürstlich vergüten ließ, bescherten ihm zugleich ansehnliche
Einnahmen, die er keineswegs brauchte und über deren Höhe er kein Wort verlor.
Den Silverhawk hatte
er hingegen hier in der Stadt. Der Wagen war erklärterweise sein
Lieblingsspielzeug. Eine spezielle Spezialanfertigung mit schwindelnd hoher
PS-Zahl, aufklappbarem Dach und so manchen Raffinessen. Gewiss der Traum von
einem Auto schlechthin, von dem es in dieser Ausführung auf diesem Erdball kein
zweites Modell gab.
Edward Erster
benutzte das Prunkstück zu Ausfahrten, die über die Stadtgrenze hinaus führten
und bei denen er gegebenenfalls mal ordentlich aufdrehen musste, wollte, durfte,
oder er fuhr damit bei jemandem vor, um ihr zu imponieren. Ich gebrauche
absichtlich die weibliche Form, denn es ging fast nur um hübsche Frauen, deren
Altersunterschied, gemessen an seinem Alter, von Jahr zu Jahr zunahm. Ansonsten
fuhr er meist ein farblich unauffälliges Modell der äußerst gehobenen Luxusklasse,
das er Limousine nannte.
Er reichte mir
den Schlüssel, und er sagte: „Das Verdeck lässt sich leicht aufklappen. Erst
die Sperre unterhalb der Armaturen lösen und danach den grünen Button drücken.
Für alle Fälle liegt das Heft mit den Bedienungsanweisungen sowieso immer im
Fach der linken Tür. Da steht aber auch die Nummer der Service-Zentrale drin.
Du kannst dort jederzeit anrufen, wenn du an dem Auto Schäden oder Unregelmäßigkeiten
feststellen solltest. Sie können alles online beheben. Ohne dass sie kommen und
den Wagen berühren müssen.“ Er lächelte beglückt. „Ich hab’s schon zweimal
ausprobiert. Eigentlich nur, um den Service zu testen. Es klappt vorzüglich.“
Ich staunte.
Nicht nur über die Service-Möglichkeiten, vielmehr über die Tatsache, dass mir Edward
Erster seinen Hawk überlassen wollte. Es war für mich bis dato unvorstellbar
gewesen, jemals dieses Fahrzeug zu steuern. Nicht mal in jener Zeit, als ich bei
ihm in der Villa gewohnt hatte, hatte ich damit gerechnet, hinter das Steuer
steigen zu dürfen. Es wäre zuviel Luxus für mich gewesen. Mit diesem Wagen fuhr
man nicht einfach nur so über die Straßen. Damit war man abgehoben. Man hatte
das grüne Laubdach alter Alleen über sich und schaukelte sanft einem roten
Sonnenball, der großsommerlich kitschig am Horizont klebte, entgegen. Man hörte
altmodische Schlager oder italienische Opernarien, deren Melodien mit dem
Kratzen abgenutzter Schallplattennadeln untersetzt waren. Man war absolut entspannt
und entrückt. Man zeigte dies der übrigen Welt, ohne sich selbst zu zeigen.
Das passte
nicht zu mir. Ich hatte das immer gemeint. Und was ich noch viel schlimmer
fand: Diesen Silverhawk zu fahren, damit zu protzen und zu provozieren, das schien
mir der blanke Hochmut, fast schon hielt ich es für unmoralisch. Um sich dieses
Luxusauto leisten zu können, musste man sich entweder verschuldet haben oder man
beutete schamlos andere Menschen aus, Arbeiter und Angestellte. Oder beides.
Das hatte ich
gemeint. Bis eben.
Ich zögerte trotzdem
keine Sekunde, die Wagenschlüssel anzunehmen. Ich hatte immerhin einen Grund: Ich
nahm mich des Silverhawks an, weil ich mich des Hamsters annahm. Nein, kein
Grund, nur ein Alibi.
Und wenn schon.
Und so geht es, wenn Sie mögen
(oder du magst), morgen (30.03. 2020) weiter:
Ich dachte an Tineke. Ich kannte sie seit einer Woche. ...
Folge 2 vom 30.03. 2020
Ich dachte an Tineke. Ich kannte sie
seit einer Woche. Seitdem wir in der Bibliothek nebeneinander gesessen und uns
ineinander verliebt hatten und ich mit ihr zusammen im Kino gewesen war. Ich
hatte sie danach noch zweimal gesehen. Beim ersten Mal hatte sie mir die
versprochenen dreihundertfünfundachtzig Piepen für die Plattensammlung
gebracht, und ich hatte sie anschließend zu einer Pizza mit Cola eingeladen.
Dafür hatte ich etwa zweieinhalb Prozent des Kauf- beziehungsweise Pfandgeldes
aufgewendet. Beim zweiten Mal hatte sie mir den Schlüssel für einen klapprigen
Caravan gegeben, und ich hatte die Plattensammlung anschließend in dem alten
Gefährt, das an der Heckscheibe einen Aufkleber mit der Aufschrift Ich fahre am liebsten mit Jonathan trug,
verstaut und vor dem Haus, in dem sie wohnte, abgestellt. Den Autoschlüssel schmiss
ich in den Briefkasten mit einem weiteren Aufkleber: Hinter dem Deich beginnt das schöne Leben – komm doch mal hin. Und
ich hatte das Gefühl gehabt, als hätte ich auch mein Herz in diesen Briefkasten
geschmissen. So verliebt, so ausgeliefert fühlte ich mich.
Seit ich Tineke
kannte, war alles anders. Ich.
„Ich will den
Chauffeur nicht ganz so lange warten lassen“, sagte Edward Erster. Er zögerte,
bevor er sich in Richtung Wohnungstür bewegte. Er gab sich zerstreut, und ihm
fiel plötzlich ein: „Jetzt, wo du das Auto hast, musst du auf jeden Fall auch
reichlich Benzingeld haben. Der Hawk hat nun mal nicht den Verbrauch eines
Mittelklassewagens.“ Er tat, als würde er rechnen und bewegte tonlos die
Lippen. „Das sind mindestens noch zwei Hunderter, die du kriegen musst. Oder
drei?“ Er sah absichtlich an mir vorbei. „Weißt du was? Ich gebe dir noch mal
fünfhundert. Dann hast du eine runde Summe, und du bist autark. Dann brauchst
du insgesamt nicht zu knausern. Ich sag dir, Erasmus, der große Schlitten nimmt
solche Unmengen an Sprit, als hätte er ein gewaltiges Loch im Tank. Aber es
macht einfach Spaß, damit zu fahren. Man wird ein anderer Mensch.“
Ich atmete tief
durch, und ich sah meinerseits an ihm vorbei. Auch absichtlich. Nur jetzt nicht
nachdenken. Ich fasste die Scheine, die er aus seiner Brieftasche gezogen hatte
und stopfte sie in die Brusttasche meines Hemdes. Ich dachte, am besten lasse
ich das ganze Bündel erst mal in meiner Schatulle verschwinden. Bei dem Geld,
das ich für die Plattensammlung bekommen hatte. Ich hatte es zwar, aber ich
würde es nicht verbrauchen. Ich würde es zurückgeben. Wirklich?
Ich redete mir
das so ein. Eine super Idee, ich atmete auf.
Edward Erster
atmete gleichfalls auf. Er hätte jetzt gehen können, müssen, sollen. Wo er mir
ja das Geld untergeschoben hatte und mich finanziell gestärkt wusste. Wo er
mich ins Wanken gebracht hatte. In meiner Armut. Meiner Eigenwilligkeit. In
meiner Moral. Freilich nicht in meinen Absichten.
Er
hoffte, dass da vielleicht noch mehr zu erreichen war. Dass er mich noch weiter
würde kippen können. Und ihm ging noch etwas anderes im Kopf herum. Er kam da
aber nicht so leicht, so locker, so weltmännisch zur Sache, wie es ihm eben
noch bei der Geldausschüttung gelungen war.
Es war das
Inhaltliche. Mein Inhaltliches. Mehrmals räusperte er sich, setzte er zu
sprechen an, ehe sich endlich die Frage, die ihn letztlich überhaupt in mein
Quartier geführt haben dürfte, über seine Lippen quälte: „Und das mit dem
Schreiben ist dir immer noch ernst? Mit diesem Roman?“
Ich grinste ein
bisschen. Er hatte sich so sehr um einen nebensächlichen Tonfall bemüht, um
Desinteresse. Aber nun verfloss seine sonst so perfekt zelebrierte hochmütige
Haltung. Neugierde und eine gewisse Verzweiflung waren ihm für einige Sekunden
anzumerken. Enttäuschung. Weil er von mir keine Antwort bekam. Weil ich ihm
keine andere Antwort geben konnte als auf all seine früheren gleich lautenden
Fragen.
„Ja.“ Das war
alles, das sagte alles.
Es bestimmte
alles.
Doch Edward
Erster wollte vor seinem Neffen nicht als aufdringlicher Dümmling dastehen. Er
straffte sich. Er warf noch einen Blick auf den Hamsterkäfig. Er sagte: „Du
weißt ja wohl, dass mir bedeutend mehr an dir liegt als an dem Hamster.“ Das
klang wieder kühl und unangefochten und klar. Dennoch wusste ich, welche enorme
Überwindung ihn diese Bemerkung, der Besuch in meiner Wohnhöhle gekostet hatte.
Es rührte mich, ganz ohne Frage, und das nicht zu knapp. Aber ich dachte: Bloß
jetzt nicht einknicken, nicht deinem einzig erreichbaren Verwandten auf den
Leim gehen und deine Ideale nicht in Zweifel ziehen lassen oder
herunterspielen. Und ich dachte auch: Er tut es ja für sich, er möchte sich
seiner wesentlichsten Sorge entledigen, indem er dich in sein Wohlstandsnest
zurückführt.
Wir schwiegen
also beide.
Bis Edward sagte:
„Dann will ich mal los. Ganz und gar will ich’s mir mit dem Chauffeur denn doch
nicht verscherzen. Die Firma gehört schließlich nicht mehr mir, und somit ist
dieser Mensch auch nicht bei mir angestellt.“ Wir reichten uns stumm und
männlich die Hände, danach verschwand er schnell. Ich dachte: Dass wir diese
Rührung beide so mühevoll voreinander verborgen gehalten haben, das ist so
typisch für uns. Für die Ersters.
Später meldete sich Edward Erster noch
einmal auf meinem Handy. Er rief von seiner Villa aus an. „Bitte Erasmus,
vergiss nicht, dein Mobiltelefon aufzuladen“, schärfte er mir ein. „Es könnte
ja mal was passieren. Unterwegs, zu Hause. Womöglich bist du dann selbst
verärgert, weil du niemanden anrufen kannst. Mich.“ Ein Vorwand, ganz klar. Er
kam nicht los. Von mir, von seiner Sorge um mich. Ich kapierte es, weil er
erneut auf das Thema, mit dem er kurz zuvor bei mir abgeblitzt war, zu sprechen
kam. „Erasmus, habe ich dir eigentlich jemals erzählt, dass dein Vater auch mal
Ambitionen hatte, Bücher zu schreiben?“
Ich schwieg. Ich
wollte mich auf ein solches Gespräch nicht einlassen. Nicht zum Thema
Schreiben, nicht zum Thema Vater.
„Er war noch viel
jünger als du jetzt. Trotzdem hat er rechtzeitig erkannt, dass er damit
scheitern würde. Er hat in einer einzigen Nacht sämtliche literarischen Ergüsse
vernichtet. Rein damit ins Kaminfeuer. Kein Mensch hat sie je zu lesen
bekommen.“ Er machte eine Pause, wohl damit ich den Bezug zu mir selbst
herstellen sollte. Schließlich fügte er hinzu: „Er hat sich irgendwann der
Musik zugewandt. Die Plattensammlung muss ihn inspiriert haben. Da hat er sehr
viel Leidenschaft entwickelt. Er fing eines Tages an, Gitarre zu spielen. Im
stillen Kämmerlein natürlich nur. Diese Beat-Musik. Gitarre, Schlagzeug, die
beiden Hauptinstrumente. Dazu lautes Geschrei. Allzu viel weiß ich darüber auch
nicht. Ich war schon viel zu alt für dieses Gewummer. Und ich musste ja Tag und
Nacht in der Firma arbeiten. Wir expandierten kolossal. Ich. Global. Aber dein
Vater, der muss sechzehn oder siebzehn gewesen sein, als dieser Kram in Mode
kam. Nicht nur die wilde Musik. Lange Haare, die bunten Hemden, diese weiten
Hosen. Das Antiautoritäre.“
Warum strampelt
er sich so sehr ab?, dachte ich. Ich werde mich in kein Gespräch verwickeln
lassen, nicht zu diesem Thema.
Er begriff es. Er
spürte meine Unnahbarkeit und lenkte ein: „Noch zu dem Auto, Erasmus. Der Hawk,
bitte achte auf ihn. Bitte nicht über Nacht auf der Straßen stehen lassen.
Womöglich vergreift sich jemand daran. Bitte schaffe ihn zu mir aufs
Grundstück. Da ist er sicher. Du hast ja für die Rückfahrt mit der gelbblauen
Bahnlinie eine direkte Verbindung.“
Ich versprach es,
sonst sagte ich nichts.
Er hingegen
überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, konnte, durfte.
Nein, es war
nichts. Keine Fragen, kein Redebedarf. Meinerseits. Er schloss die Leitung.
Ich fuhr doch nicht gleich, wie ich
das zunächst vorgehabt hatte, zu Tineke. Lediglich ging ich hinaus auf die
Straße, um mich zu vergewissern, dass mir Edward Erster dieses super Auto
wirklich hiergelassen hatte.
Ja, da stand es.
Die freundlichen Sonnenstrahlen des Nachmittags überzogen den hellen Lack und
die herausfordernd schillernden Chromteile mit dem romantisch anmutenden Glanz
heiler Filmwelten. Unendlich scheinende Straßen, die sich als schmaler
werdendes Band in amerikanische Landschaften schnitten. Wüsten, Gebirge oder
Küstenregionen, und ich musste über die Ausdrücke lächeln, mit denen Edward
Erster jene Sechziger-Jahre beschrieben hatte: Beat-Musik, Gewummer, das
Antiautoritäre. Die Leidenschaft des Schallplattensammelns. Die Jugend meines
Vaters. Die eine Vergangenheit.
Die andere
Vergangenheit waren Edward Ersters Gründerjahre. Der Silverhawk ergab das
Sinnbild der Erfolgsgeschichte jenes Mannes, der auf den Trümmern einer
zerbombten Fabrik jenes große Unternehmen errichtet hatte. Ein Imperium.
Ich arbeitete weiter an dem
Manuskript. An meinem Roman. Ersters erstem. Ich hatte gerade in den letzten
Monaten eine Menge geschafft, so dass ich eigentlich schon ein fertiges Buch
vor mir zu liegen hatte. Ich meinte das. Die letzte fertige Grundfassung hatte
ihre dritte Überarbeitung erfahren. Ich fand keine Widersprüchlichkeiten im
Inhalt mehr, ich war mit der Aufteilung der Kapitel zufrieden, und ich sah
keine Fehler im Ausdruck. Ich wollte nun alles noch einmal mit Ruhe und
Konzentration lesen und notfalls Korrekturen einbringen, bevor ich den Schritt
der Verlagssuche in Angriff nahm.
Andererseits
kreisten meine Gedanken unwillkürlich immer wieder um das Fahrzeug vor der Tür.
Der Silverhawk. Ich konnte mich nicht auf den Text konzentrieren.
Und das Geld
hatte ich ja auch. Die Hunderter meines Onkels. Sie lagen in der Schatulle.
Es kribbelte in
mir. Alles hier liegen lassen und losdüsen. Laubbeschattete Alleen. Mildmatte
Abendsonne. Und Tineke neben mir. Schmale Schultern, um die ich wie
selbstverständlich meinen rechten Arm legte. Nette Gespräche, Küsse; und
irgendwann ein Zwischenstopp in einem romantischen Café. Ein fulminanter
Eisbecher mit Erdbeeren.
Sagte, schrieb,
aß und genoss man fulminant? Wenn man verliebt war?
Folge 3 vom 31. März 2020
Und Peterchen, lenkte der mich
nicht auch ab? Immer wenn ich zu ihm hinschaute, musste ich an diese alten
Geschichten denken. Edward Erster. Mein Vater. Die so völlig unterschiedlichen
Lebensläufe und Schicksale. Die noch unterschiedlicheren Brüder. Karrieren.
Wirklich unterschiedlich?
Ja, das lenkte
ab.
Ich stand auf
und verfrachtete den Käfig samt Hamster in meine Mini-Küche. Dort sah ich das
aufgeregt schwadronierende Wuschelknäuel von meinem Schreibplatz aus nicht
mehr. Doch auch wenn ich Peterchen jetzt nicht sah, so blieb doch die Unruhe.
Er krakelte: krach, kratz, ratz, schmatz, quietsch, schurr, scharr, schnarr,
schurf und manches mehr. Ein Störfaktor, der allerlei Geräusche erzeugte und
mir weiterhin die Konzentration nahm.
Ich überlegte,
wie ich ihn zur Ruhe bringen konnte. Mit etwas Futter? Mit viel Futter? Edward
Erster hatte mehrere Tagesrationen hiergelassen. Oder wäre nicht ein Schälchen
Bier geeigneter? Bier beruhigte, es machte schläfrig. Aber wie viel Bier konnte
so ein Hamster vertragen. Mochte er es überhaupt?
Oder vorlesen?
Vorlesen
beruhigte Kinder, es unterhielt Alte, es hielt Autofahrer wach. Warum sollte es
nicht auch positive Auswirkungen auf kleine, nervende Tiere haben.
Da ich keine
Zeitungen besaß, blätterte ich in meinem Manuskript. Ich wollte Peterchen die
schönste Passage des gesamten Werkes vortragen. Eine Passage, an der ich sehr
lange und regelrecht verbissen gearbeitet, gefeilt hatte. Jetzt, da sie endlich
fertig war, bezeichnete ich sie als sehr gelungen und äußerst spannend. Sie war
– ich meinte mit Recht – eine Art Höhepunkt des gesamten Romans. Meine beiden Handlungsträger
zogen schon seit mehreren Wochen durch Italien, um eine Gangsterbande zu
verfolgen. Nun waren sie auf Sizilien angekommen und hatten sich den Gangstern
quasi auf eine Armlänge genähert. Es war Nacht, und die zwei, ein scheinbar auf
Hochzeitsreise befindliches junges Paar, hatten sich in einem Museum versteckt
und sich dort raffinierterweise einschließen lassen. Nun beobachteten sie mit
Schrecken durch ein kleines Fernster des Museums eine bandenmäßig organisierte
Mehrfachhinrichtung. War das wohl
das Richtige für einen Hamster? War es nicht zu aufregend? Ja, es war zu
aufregend.
Ich entschied
mich daher für die Variante der Vernunft. Ich schüttete dem Hamster Futter in
den kleinen Trog. Eine Art Körnermüsli, wie es vielleicht sogar manche Menschen
mögen. Vegetarier beispielsweise. Ich achtete darauf, dass es genau die Menge
war, die auf Edward Ersters Zettel eingetragen war.
Doch ich hatte
keinen Erfolg. Peterchen würdigte das vegetarische Hamster-Müsli keines
Blickes. Er krakelte weiter, jetzt noch lauter als vorher. Nun gut, dachte ich,
dann muss er sich halt die Lesung aus dem Manuskript gefallen lassen. Allein
damit er meine Überlegenheit ihm gegenüber zu akzeptieren lernt. Ich setzte
mich vor seinen Käfig, ich schlug die Passage mit der sizilianischen
Hinrichtung auf und begann zu lesen. Peterchen wurde zunächst ruhig. Er hockte
dicht an der Gittertür des Käfigs und machte schließlich sogar Männchen. Es sah
nicht nur so aus, als höre er mir zu, sondern als sei er von meiner Erzählung
gefesselt. Donnerwetter, dachte ich, der versteht tatsächlich alles, und er
kann es gut bewerten. Das schmeichelte mir. Dann jedoch, als ich die Stelle
erreichte, an der die Schüsse fielen und das Blut und die Gehirnmasse der
Hingerichteten gegen die weiße Mauer der gegenüber befindlichen alten
Kathedrale nur so spritzten, wurde Peterchen sichtlich unruhig. Nicht nur
unruhig, er wurde wild. Mit jedem Wort wurde es schlimmer. Er sprang durch den
Käfig, kratzte an den Gitterstäben und keifte fürchterlich.
Was für ein
Lärm. Nicht mal nachdem ich mich genötigt gesehen hatte, mit dem Lesen
aufzuhören, beruhigt er sich.
Ich starrte
missmutig auf die Seiten des Manuskripts. War der Roman zu gut oder zu
schlecht? Oder fühlte sich Peterchen nur allgemein nicht so recht wohl?
Vielleicht lag
es an mir. Vielleicht fremdelte er. Ich ging in das Zimmer zurück, damit er
mich nicht mehr sah. Nein, es half nicht. Die Unruhe blieb. Der Lärm, der
Krawall.
In mir wuchs
ebenfalls die Unruhe. Ich setzte mich an den Arbeitstisch und presste die
Handflächen auf meine Ohren. Ich las tonlos. Es war wiederum die Passage der
Hinrichtung. Todesschüsse auf dem Museumsplatz. Nur wirkte der Text nun nicht
mehr auf mich, ich konnte mich nicht konzentrieren und keinen Satz mit meinen
Gedanken umklammern. Peterchen krakelte immer noch. Wild und laut, aufgeregt.
Was tun? Ich
warf einen Blick auf das Handy. Lieber Edward Erster, leider kann ich dich
nicht anrufen und fragen, was ich tun soll, denn ich habe keine einzige Einheit
als Guthaben. Du hattest es angemahnt. Ich habe es noch nicht geschafft, die Karte aufzuladen.
Und Peterchen
rackerte weiter.
Die Variante
Bier fiel mir wieder ein. Ich hatte noch eine halbe Flasche. Bier beruhigt,
dachte ich, Menschen. Und Hamster? Ich trank einen schönen Schluck, dann ging
ich in die Küche und goss, ohne nachzudenken, was ich tat, Peterchens
Wassertrog bis zur Oberkante voll.
Tatsächlich gab
es eine Wirkung. Peterchen zeigte sich interessiert. Er schnupperte, und
endlich trank er. Letzteres ohne aufzuschauen und ohne abzusetzen und, wie es
schien, mit Genuss. Bis das Gefäß leer war. Danach schaute er eine Weile zu mir
durch die Gitterstäbe, sodass ich überlegte, ob ich ihm noch mehr Bier geben
sollte. Nein, ich tat es nicht. Nicht, weil ich geizig gewesen wäre, sondern
weil er offenbar genug hatte. Er krabbelte in seine künstliche Höhle und kam
nicht mehr hervor. Er schläft, dachte ich, was für ein Glück.
Ganz wohl war
mir allerdings nicht.
Ich deckte den
Käfig mit dem blauen Tuch, auf das, wie ich jetzt erst feststellte, eine gelb
strahlende Sonne gedruckt war, zu und trank den Rest des Bieres selbst. Danach
machte ich mich wieder über mein Manuskript. Die plötzliche Ruhe tat mir gut.
Ich konnte die Passage mit der bandenmäßig organisierten Hinrichtung weiter
verfeinern. Durch das Hinzufügen einiger italienischer Vokabeln gab ich der
Szene weitere Brisanz. Ich ließ die mordenden Gangster ungewöhnlich lange zum
besagten Museumsfenster hinaufschauen. Das junge Paar bekam Angst. Es litt,
zitterte, wie nur jemand leiden und zittern kann. Lange, intensiv, schmerzvoll
und in quälender Ungewissheit. Aber doch nicht ohne glühende Hoffnung. Und
natürlich: Die Züge der Killer versah ich mit zusätzlicher Härte, und die
Schreie und Bitten der Hinrichtungsopfer ließ ich trotz der derben Mundknebel
nochmals heftiger und flehender werden. Ich schlachtete das Vorspiel der
Todesschüsse mit geradezu sadistischer Genüsslichkeit aus.
Nach
zwei Stunden ging dann nichts mehr. Ich fühlte mich erschöpft, trotzdem sehr
zufrieden. Ich war mir eines sehr gelungenen Romans sicher. Die Verlage würden
sich dafür interessieren. Welche Verlage? Die großen, die angesehenen?
Vielleicht. Wenn nicht, würde es sicherlich irgendwo einen Nischenverlag geben,
der in eine Auflage von vier- oder fünftausend Exemplaren investierte. Sei es,
dass er fürs Erste die letzte Null wegstrich.
Ich brauchte nun Ablenkung, Entspannung. Tineke, der
Silverhawk, die Alleen, der Eisbecher. Ich nahm mir ein einigermaßen sauberes
Hemd aus dem alten Schrank und zog mich um. Haare gekämmt und den Autoschlüssel
gegriffen. Ab ging’s.
Halt, noch einen Blick in die Küche geworfen. Der
Hamsterkäfig. Na bitte, alles friedlich. Immer noch. Ich hob den Zipfel des
Tuches und lugte hinein. Peterchen lag weiterhin in der Höhle. Er verschlief
seinen Rausch. Ganz leise zog ich den Trinkbehälter aus der Halterung, spülte
ihn aus und füllte ihn mit frischem Wasser auf. Der kleine Bursche würde mit
Sicherheit Durst haben, wenn er wach wurde.
Dann saß ich hinter dem Steuer des Silverhawks. Was für
ein Gefühl. Mindestens fünf Minuten verharrte ich, ohne den Zündschlüssel
umzudrehen. Ich trat vorsichtig ein Pedal nach dem anderen durch, probierte
diesen und jenen Hebel oder Schalter aus, strich mit den Händen sehr sachte
über das makellose Armaturenbrett und atmete den unaufdringlichen Geruch der
sorgsam gepflegten Ledersitze ein.
Was für ein herrliches Fahrzeug.
Ich fuhr langsam, denn es war schon acht Wochen her, dass
ich mein Auto zu Gunsten meines Lebensunterhalts veräußert hatte. Es war mir
allerdings schwer gefallen, den geräumigen Caravan wegzugeben. Da ich mich in
keinem festen Arbeitsverhältnis befand, konnte ich bis dato bei schönem Wetter
einfach ans Meer oder irgendwo an einen See fahren. Ich hatte mein Schreibzeug
dabei und saß damit an wilden Strandabschnitten, oberhalb einer Steilküste oder
an einem unbelebten Ufer. Spät abends fuhr ich den Wagen in eine Waldschneise,
aß und trank ein paar belanglose Sachen. Ich wickelte mich in vier oder sechs
Decken und schlief selbst im Spätherbst und in milden Winternächten noch auf
den abgeklappten Sitzen.
Nach dem Verkauf des Caravans bekam ich die Armseligkeit
der Hinterhofwohnung zu spüren. Der Gebäudekomplex, zu dem sie gehörte, war
längst zum Abriss freigeben. Nur stand der Termin nicht fest, weshalb ich
keinen Mietvertrag hatte und auch keine Miete zahlte. Ich lebte hier lediglich
mit dem Handicap, innerhalb von wenigen Tagen rausgeschmissen werden zu können.
Romantik und Armut waren es also, die mich umwoben.
Soziale Härte. Und doch auch eine von üppigen Inhaltsstoffen berstende
Vereinsamung.
Dies alles und noch mehr machte für mich die absolute
Authentizität beim Schreiben aus.
Tineke
wohnte in einer Zweier-Wohngemeinschaft. Da ich kürzlich den Caravan mit den
Schallplatten vor der Tür abgestellt hatte, fand ich nun die Straße, in der sie
wohnte, problemlos wieder.
Ich parkte, stellte den Motor aus und wartete. Worauf?
Tu was, dachte ich, beweg dich, geh hinauf, wenn du hier
noch länger stehst, wird sie dich sehen und dich lächerlich finden. Tineke. Und
du dich selbst auch.
Kurz entschlossen betätigte ich die Hupe. An der Front
mit Tinekes Hauseingang wurde im zweiten Stockwerk ein Fenster, das auf Kippstellung
war, weit geöffnet. Ein Mädchen mit kurzen Haaren schaute heraus und
verschwand, ehe ich aussteigen und nach Tineke fragen konnte.
Und nun?
Ich würde hinaufgehen müssen. Ich wollte hinaufgehen. Ich
war gekommen, um hinaufzugehen und sie zu sehen. Tineke. Um sie zu einem
Ausflug im Silverhawk einzuladen. Warum hatte ich auf einmal Angst?
Ich wusste keine Antwort.
Oder doch: Ich hatte ja gar keine Angst. Ich gab mir also
einen Ruck und stieg aus dem Wagen.
Dummerweise fand ich die Haustür verschlossen. Ich musste
unter den sechs Namensschildern, von denen nur die zwei mittleren beschriftet
waren, das von Tinekes WeGe herausfinden. Ich drückte auf das Schild, das
denselben Namen aufwies wie der Briefkasten, in den ich den Autoschlüssel
eingeworfen hatte. Hinter dem Deich … Es
dauerte nicht lange, ehe es schnarrte und sich eine helle Stimme meldete.
„Hallo?“
Ich sagte ohne zu zögern: „Ich möchte zu Tineke.“
Prompt surrte der Türöffner. Ich stieg die Treppen bis
zur zweiten Etage hinauf und meinte nach dem letzten Absatz mit jedem Schritt
zu spüren, dass mein allmählich stärker klopfendes Herz ein Stück in den Körper
hinabrutschte.
Ich hätte noch umkehren können. Wie ein ängstlicher,
unerfahrener Schüler.
Nein, zu spät. Die Tür der WeGe war bereits offen. Dort
stand sie. Oder doch nicht? Es war plötzlich wie eine Szene in mittelmäßigen
Filmen oder Büchern: Die Flurleuchte verlöschte, das Mädchen im Gegenlicht
wurde zur Kontur. Schmale Gestalt, kurze Haare.
Kurze Haare?
„Ist Tineke gar nicht da?“, fragte ich naiv.
„Kommt drauf an, welche Tineke du meinst?“
Die mit den langen Haaren, wollte ich erwidern. Doch ich
stand jetzt direkt vor ihr. Ich sah, dass sie es war. Mit einer anderen Frisur,
ziemlich verändert. „Die mit der exzellenten Plattensammlung“, sagte ich
stattdessen, um auch ein bisschen amüsant zu sein.
Der Scherz kam sogar an. Sie lächelte abgeklärt. „Sei
froh, dass wir das so geregelt haben, wie wir es geregelt haben. Du hast wieder
Geld. Meine letzten dreihundertfünfundachtzig Rettungsanker. Und die Platten
hast du eigentlich auch noch. Obwohl sie bei mir stehen. Hättest du eine
Annonce aufgegeben, hättest du vielleicht mehr Geld gekriegt, aber der Käufer
hätte die Sammlung bestimmt nicht behalten, sondern übers Internet weiterverscheuert
– einzeln und zu Höchstpreisen und auf Nimmerwiedersehen.“ Sie rückte ein Stück
zur Seite, damit ich den Flur der Wohnung betreten konnte. Dann ging sie vor
mir auf ihr Zimmer zu. Schlank und geschmeidig sah sie aus. Wie vorher. Jetzt,
mit kurzen Haaren, noch besser. Begehrenswerter.
„Ja“, sagte sie, als wir in ihrem Zimmer waren, „da du ja
jetzt dieses Kult-Auto hast, gehe ich nicht davon aus, dass du noch weitere
Schallplattenraritäten verticken musst. Falls du noch welche hast.“
„Hab keine einzige Platte mehr“, gestand ich und setzte
mich auf den Kordpolstersessel, den sie mir herrückte. Mein Blick musste von
diesem Platz aus direkt auf die Plattensammlung treffen. Fein säuberlich hatte
sie alle Exemplare in einer Vitrine hinter Glas aufgestellt. Alle fünfhundert.
Unwillkürlich meldete sich mein Gewissen. Erb- und
Erinnerungsstücke meines Vaters; alle gesammelt in der großen Zeit, alle weggeben. Von mir. Um mich als Schriftsteller
über Wasser halten zu können. Um überhaupt erst den Gedanken wahr werden zu
lassen. Ich will schreiben. Bücher. Ich
will anders leben. Frei, kreativ.
Wie undankbar, wie verantwortungslos. „Genau genommen
bist du der Einzige, den ich noch habe. Denn dass dein Vater zurückkehrt, falls
er überhaupt zurückkehrt, das werde ich nicht erleben. Dann müsste ich ja
steinalt werden“, beschwor mich Edward Erster nachhaltig in meinen Gedanken.
Immer solche Sprüche, dachte ich abwehrend. Nein, nicht Sprüche, sondern
Wahrheiten. Auch Vorwürfe. Er hatte sich mit ihnen von mir verabschiedet. Und
von seinem Hamster. Und ich hatte auch nur ihn. Hier jedenfalls, in dieser
Stadt, in Berlin.
Und Tineke?
„Klappt’s denn mit dem Schreiben?“, fragte sie hell in
meine sich zusehends kräuselnden Gedankenwolken hinein.
Ich nickte tapfer. Und ich hätte was drum gegeben, die
Roman-Passage mit der sizilianischen Hinrichtung jetzt in der Jackentasche zu
haben und sagen zu können, lies das mal.
„In den Auslagen der Buchhandlungen, wo ich immer nach
deinem Namen spähe, habe ich noch kein Buch von dir entdeckt. Aber anscheinend
verdient man auch als weniger bekannter Autor noch gut genug. Oder ist die
erste Millionenauflage schon vergriffen?“
„Bis das Buch veröffentlicht wird, wird noch allerhand
Zeit vergehen. Ich arbeite noch an den Korrekturen, und mir fallen auch immer
ein paar Änderungen ein“, sagte ich ernst. „Aber wenn du auf den Schlitten da
draußen anspielst, der gehört meinem Onkel. Edward Erster. Er ist in der
Schweiz. Er hat ihn mir aus Gründen überlassen, die ich jetzt nicht ohne
weiteres erklären kann.“
„Und da bist du gekommen, um mit mir mal schön eine Runde
zu drehen.“
Obwohl ihre Bemerkung eines spöttischen Untertons nicht
entbehrte, war ich froh über sie. Ich brauchte Tineke nun nicht mehr für diese
Tour einzuladen. Nicht mehr direkt, mit irgendwelchen geschraubten Sätzen. Sie
hatte es selbst getan.
Andererseits fürchtete ich, sie würde mir einen Korb
geben. „Willst du nicht?“
Sie schüttelte den Kopf und nickte zugleich. Es wirkte
hastig, aufgeregt. „Was denkst du von mir? Klar will ich. Wann hat unsereins
schon mal Gelegenheit, in so einem futuristisch anmutenden Unikum mitzufahren.
Umgeben von Chrom, Lack und Leder. Und in der Gesellschaft eines künftigen
Erfolgsautors.“
Ich hatte die Antwort auf den Lippen. „Wenn du willst,
kannst du diese Gelegenheit die nächsten vier Wochen haben. Jeden Tag.“ Nein,
ich brachte eine solche Offerte nicht heraus. Ebenso wenig vermochte ich, als
wir dann fuhren, meinen Arm um ihre Schultern zu legen und mich irgendwie
anzunähern. Weder körperlich noch im Gespräch. Kitsch und Realität, Traum und
Wirklichkeit, nichts stimmte überein.
Wenigstens den Eisbecher aßen wir. Wenngleich er nicht
fulminant und sonderlich üppig ausfiel und es nicht mal Erdbeeren gab. Und
bezahlen wollte sie ihn nachher auch. Ihren und meinen. „Du hast schließlich
die Unkosten für das Benzin.“ Es klang diesmal nicht spöttisch, eher
freundlich, ein bisschen tröstend. Auch verheißungsvoll? Irgendwie schon, zumal
sie hinzufügte: „Kannst mich ja nachher zum Abendessen einladen. Bei dir.“ Und
bevor ich zu stottern anfing, dass ich höchstens ein halbes trockenes Brötchen
an Essbarem und mittlerweile nicht mal mehr abgestandenes Bier in der Wohnung
hätte, bestimmte sie: „Wir halten am nächsten Supermarkt und kaufen was ein.“
Folge 4 vom 1. April. 2020
Ich glaube, nein, ich bin sogar
sicher, es war das einzige kleine Dinner, das an diesem Tag im ganzen Land von
einem absichtlich verarmten potenziellen Erfolgsautor für eine wunderschöne
Frau in einer zum Abriss freigegebenen Hinterhofwohnung ausgerichtet wurde.
Bei mir in dieser Höhle. Mein erster Damenbesuch
sowieso.
Es ließ sich
zunächst nett an. Ich schnitt Gemüse auf, machte Salat, und Tineke kümmerte
sich um die anderen Speisen. Wir hatten jetzt Wein und tranken schon während
der Zubereitung immer mal was. Und weil die Küche wirklich winzig war, stießen
wir auch ab und zu sachte zusammen oder streiften aneinander mit Armen und
Beinen. Unabsichtlich. Wir kicherten dann oder entschuldigten uns, sonst
nichts. Einmal standen wir uns auch frontal gegenüber. Da sah sie mir tief in
die Augen. Und ich ihr. Ich dachte wieder an das Klischee eines mittelmäßigen
Films oder Buches und dass wir uns küssen müssten, wobei wir die Arme jeweils
seitlich von uns streckten und dabei irgendwelche Gerätschaften oder
Instrumente in den Händen schwenkten. Natürlich kam
es nicht zum Küssen. Das lag jedoch nicht an der Verachtung der Gewöhnlichkeit
besagten Klischees, sondern vielmehr an Peterchen. Jetzt erst bemerkte sie ihn
und erschrak: „Was ist denn das für ein Käfig? Hältst du dir etwa eine Ratte?“
Ich erschrak
nicht minder als sie. Sollte wegen des dummen Hamsters unser Date platzen? Ich
ergriff in eben diesem Augenblick den Käfig und schaffte ihn fort. Da die
Wohnung keinen abgeteilten Innenflur und keine Abstellkammer hatte, stellte ich
Peterchen samt Behausung in den Hausflur. An Edward Ersters Mahnung „Er ist der
Einzige, den ich noch habe!“ dachte ich nicht. Überhaupt war mir der Hamster
egal. „So war’s
eigentlich auch nicht gemeint“, entschuldigte sich Tineke sichtlich verlegen,
als ich in die Küche zurückkam. „Es war nur der Schreck. Im Allgemeinen mag ich
Tiere.“ Sie trank etwas Wein und erklärte: „Und ich glaube, es war auch gar
keine Ratte. Oder was befand sich unter dem blauen Tuch?“ Ich trank
ebenfalls und erklärte ihr umständlich die Zusammenhänge zwischen Peterchen
und dem Silverhawk und Edward Erster.
„Einen
Hamster“, sagte Tineke, „finde ich nicht schlimm. Mich ekelt’s nur vor Ratten.
Auch vor zahmen, vor weißen. Und vor Leuten, die sie sich halten. Ich glaube,
ich hab dir Unrecht getan.“ Wir standen erneut dicht voreinander, sie sah mir
wieder in die Augen. „Auf jeden Fall scheint’s bei dir noch eine Menge zu
entdecken zu geben.“ Sollte ich mich
geschmeichelt fühlen? Erwartete sie, dass ich sie küsste? Jetzt, da wir uns
über Ratten und Hamster austauschten. Wohl nicht, denn sie fragte deutlich
vorbestimmend: „Wenn wir gegessen haben, dann liest du mir doch was aus deinem
Manuskript vor?! Ich bin echt gespannt.“ Sie hielt den Kopf ein bisschen
schräg. Diese neue Frisur mit den kurzen Haaren, dachte ich, wie gut sie damit
aussieht, wie entzückend.
„Ich bin ein
schlechter Vorleser“, sagte ich unsicher. „Ich lese zu schnell und betone kaum
die wichtigen Stellen. Und ich vergesse zu atmen, so dass mir regelrecht die
Stimme wegbleibt.“ Ich dachte, sie würde erwidern: „Macht nix, es kommt mir auf
den Inhalt an, nicht auf den Vortrag.“ Aber es war nicht an dem. Aus ihrer
Reaktion schloss ich, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Sie wich zurück;
nicht körperlich, sondern von der Anteilnahme, vom Interesse her. Ein Stück
Gefühl schien zu erlöschen. Sie entgegnete in einem Ton, den ich beinahe für
geringschätzig hielt: „Dann solltest du das abändern. Und zwar schleunigst.
Hier, in deiner Behausung wird ja wohl niemand sein, vor dem du dich bei ersten
Misserfolgen schämen müsstest.“
Ihre Bemerkung
traf mich. Ich ging in eine Art Igelstellung. Ich konnte nichts dagegen tun.
Offensichtlich
wurde sie gewahr, dass sie mich mit ihrer Belehrung gekränkt hatte. Sie
versuchte einzulenken: „Lesen kann man bis zu einem gewissen Grade lernen.
Vorlesen. Fast, bis man perfekt ist. Schreiben nicht. Gutes Lesen und gutes
Selbstbewusstsein gehen Hand in Hand.“ Sie hantierte mit dem Besteck und dem
Geschirr, und sie sagte, wobei sie sich sichtlich um mehr Wärme in der Stimme
bemühte: „Es ist aber auch kein Problem, wenn du mir nach dem Essen das
Manuskript gibst. Ich werde allein darin lesen. Du kannst in der Zeit die Küche
aufräumen.“
Ihre Stimme war
tatsächlich versöhnlicher geworden, dennoch hatte es einen gewissen Knacks
gegeben. Zwischen ihr und mir. Ich bildete mir eine Abfuhr ein. Abgeblitzt, mit
dem Manuskript. Und mit meiner Verliebtheit. Hinzu kam auf einmal die Sorge um
den Hamster. Der hatte sich, als ich ihn nach draußen trug, nicht gerührt. Mit
keiner Bewegung, mit keinem Mucks. Kein Kreischen, kein Wispern. Das Bier;
hatte ich ihn damit …? Mir wurde es weich in den Knien.
„Was ist los
mit dir?“ Tineke wandte sich mir wieder zu, schaute mir in die Augen. Wie
vorhin. Nein, nicht wie vorhin. Sie starrte mich so seltsam an. „Du, es tut mir
leid, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich wollte dir doch nur helfen.“
Ich hörte sie
eher aus der Ferne. Ich hörte vielmehr in mir eine Stimme, die mich drängte, in
den Flur zu rennen und in den Käfig zu schauen. Noch mehr fürchtete ich mich
indessen, diesen Hamster dann tot zu finden. Peterchen. Daher blieb ich, obzwar
unruhig und unaufmerksam, in der Küche. Wenigstens bemühte ich mich um äußere
Gelassenheit, um Freundlichkeit. „Ist ja nicht so schlimm“, stotterte ich.
„Hast ja Recht. Lesen kann man lernen. Ich muss wirklich an mir arbeiten.“
Ich deckte den
Tisch, goss Wein in die Gläser. Wir saßen uns gegenüber. Wir aßen und tranken,
und wir schwiegen jetzt meistens. Tineke war wunderschön. Schon wegen der neuen
Frisur. Ihr hübsches Gesicht kam noch besser zur Geltung, das Leuchten der
Augen, die helle Stirn. Fast hätte ich den Hamster vergessen, ebenso das
Manuskript. Nur noch Tineke, die ich sah. Doch sie selbst stieß meine Gedanken
wieder darauf. „Ich hab mich ziemlich unmöglich benommen. Erst das Getue um den
Hamster, den ich für eine Ratte gehalten habe, danach spiele ich mich als
absolute Literaturexpertin auf.“ Sie seufzte. „Dabei ist beides gar nicht so
wichtig für mich.“
Ich seufzte
gleichfalls, und ich wiegelte erneut ab: „Nicht so schlimm.“
Sie
widersprach. „Ich sehe doch, dass es schlimm ist. Du bist ja völlig geknickt.“
Sie legte ihr Besteck neben den Teller. „Glaub mir, Erasmus, ich hatte mich richtig
gefreut, als du heute kamst und mich abgeholt hast. Es war so eine echt
angenehme Überraschung.“
Ja, doch, ich
sah, dass es ihr leid tat, dass sie die Entschuldigung ernst meinte. Ich nickte
schwach und lächelte hilflos und sichtlich zerstreut. Und ich dachte prompt
wieder an Peterchen. Ich muss wissen, ob er lebt, hämmerte es in meinen
Gedanken. Jetzt. Ich stand auf, es war ein Reflex. Tineke sah mich entgeistert
an. Riesig groß wurden ihre Augen; als wollten sie mich hypnotisieren, so dass
ich auf den wackligen Polsterstuhl zurück fiel. „Ich bin völlig durcheinander“,
gestand ich leise. Und ich wollte hinzufügen, dass es nichts mit ihr zu tun
habe. Doch sie war selbst verwirrt, und nun stand sie ebenfalls auf, und sie
entschied: „Am besten gehe ich jetzt.“ Und schon war sie zwei Schritte vom
Tisch entfernt, nahm sie ihre Tasche.
Dabei wünschte
ich, sie würde bleiben. Ganz heftig. Aber ich konnte diesen Wunsch nur mehr
artikulieren, indem ich auf das Manuskript hinwies, das sie hatte lesen wollen. Da zögerte sie kurz. Und sie wankte in ihren Absichten. Ich sah es. Bis sie
sich besann. „Stimmt. Klar. Das hatte ich gesagt. Und das mache ich auch. Ich
werde es lesen. Ich nehm’s mit.“ Sie schaute zu dem Tischchen hinüber, auf dem
der Computer stand. Dort lag auch die Mappe mit dem Manuskript. Ich hatte vor
Verlassen der Wohnung noch einen Ausdruck der aktuellen Fassung hergestellt.
Das tat ich aus Sicherheitsgründen. Falls mal plötzlich die Festplatte
kaputtging. Die Qualität des Gedruckten war freilich nicht sonderlich gut. Ich
sparte auch bei diesen Aktionen, ich verwendete einfaches Papier und druckte im
Sparmodus. Ich rechnete damit, dass Tineke sich darüber aufregen würde. Und ich
warnte sie vor und bot an, einen besser lesbaren Ausdruck herzustellen. Da
zögerte sie abermals. Sie kam einen Schritt auf mich zu. Doch sie lenkte
wiederum ein. „Irgendwie wird’s schon gehen. Ich bin ja ab morgen unterwegs.
Mit dem Zug. Ich lese es während der Fahrt, die ist ziemlich lang, und danach.“
„Willst du
verreisen?“, fragte ich überrascht, erschrocken. „Nicht, um
Urlaub zu machen“, erwiderte sie. „Ich habe ein Vorstellungsgespräch. Das
heißt, es geht nur um ein paar Informationen, die ich haben will. Es ist eine
mittlere Klinik. Ich will mich mal erkundigen, was wäre, wenn ... Es ist in
Ostfriesland. In der Nähe von meinem Heimatort.“ Sie lächelte jetzt. Ganz
freundlich. „Nicht weit vom Deich. Wo es so schön ruhig und grün ist. Ich würde
gern dorthin wechseln. Bin mir aber nicht sicher, dass es passt. Von den Arbeitsbedingungen
her.“ Ich erschrak.
Wenn sie nach Ostfriesland ging, würde ich sie verlieren.
Verlieren? Ich
hatte sie ja noch gar nicht gewonnen. „Schön“, sagte ich dennoch. Und:
„Glückwunsch. Ostfriesland, das lohnt sich. Die Küste. Ich freu mich für dich.“
Dabei hatte ich selbst von diesem Landstrich noch nicht viel gesehen. Sie reagierte
skeptisch. „Zum Gratulieren besteht kein Grund. Jedenfalls was die
Arbeitsstelle betrifft. Ich glaube, nehmen würden sie mich dort schon, aber ich
habe wahrscheinlich nicht so günstige Einsatzmöglichkeiten wie ich sie hier
einige Zeit hatte. In Berlin.“ Sie lächelte wieder, jetzt verlegen, auch
entschuldigend, und sie deutete mit dem Kopf auf die Mappe mit dem Manuskript.
Ich gab sie ihr. Dann ging sie. Und sie wollte nicht mal die Treppe hinunter
und schon gar nicht mit dem Silverhawk nach Hause gebracht werden. Sie sagte:
„Ich melde mich.“ Das klang oberflächlich. Wie ein Abschluss. Und wie ein
Abschied, den man aus eben diesen mittelmäßigen Filmen kennt. Nur dass diese Mittelmäßigkeit
für mich offenbar Realität geworden war und dass es mich auch realiter traurig
machte. Ich stand,
nachdem sie fort war, mit dem Rücken gegen die Innenseite der Wohnungstür
gelehnt. Ich dachte an den Hamster. Ich hätte den Käfig öffnen und nachsehen
können, was mit ihm war. Nachsehen müssen hätte ich. Nein, ich musste nicht
nachsehen, ich wusste auch so, dass er nicht mehr lebte. Peterchen. Diese
Stille im Hausflur, im Käfig, sie hatte den Beweis längst geliefert. Nicht mal
als Tineke meine Wohnung verlassen hatte, war ein Geräusch aus dem Käfig
gekommen. Ich ließ mich auf einen Stuhl plumpsen und trank in einem Tempo, in
dem man sonst Bier trinkt, zwei volle Gläser Wein. Danach räumte ich den Tisch
ab. Ich spülte alles Geschirr und stopfte sämtliche Reste vom Essen in eine
Plastiktüte. Ich wollte an dieses misslungene Rendezvous nicht erinnert werden,
daher schaffte ich die Tüte sofort in den Hof hinunter, wo die Mülltonnen
standen.
Als ich wieder
oben war, kam ich nicht mehr umhin, das Tuch vom Hamsterkäfig zu nehmen. Ja, da
lag er also. Peterchen, der Hamster, dieser ganz besondere Liebling meines
Onkels Edward Erster. Tot.
Die nächsten zwei Tage waren
zermürbend. Ich befand mich in Unruhe und Angst und im Zustand von
Ratlosigkeit. Am dritten Tag schaffte ich endlich den toten Hamster in den
Müll. Danach schrieb ich einen Brief an Edward Erster, in dem ich ihm in
nüchternen Worten mitteilte, was passiert war. Doch ich schickte den Brief
nicht ab, ich druckte ihn nicht mal vom Computer her aus. Ich fühlte mich
jedoch leichter und konnte einigermaßen klar denken. Ich entschloss mich, mich
der Misere anders als durch ein Geständnis zu stellen. Klüger, raffinierter.
Ich suchte eine Tierhandlung auf. Dort ließ ich mir mehrere Hamster zeigen. Tatsächlich
gab es einen, der mit Peterchen große Ähnlichkeit hatte. Ich kaufte ihn für
acht Euro. Den Verkäufer fragte ich, was bei der Haltung eines Hamsters
besonders zu beachten sei. Er sah mich verwundert an. „Nüscht. Naja, die dürfen
keen Alkohol kriejen. Aba wer jibbt een Hamsta schon Biea oder Wein?“ Der Kerl
lachte gehässig. Da lachte ich dann mit, auch gehässig. Und erleichtert. „Als
Futta kannste irjendwelche Küchenabfälle nehm. Det mit die fein abjepackten
bunten Tüten, det ist doch affich“, fügte er hinzu. „Schließlich sind Hamsta
keene Tiere, die an een Schönheitswettwerb teilnehm und zu die man een
freundschaftlichet Vahältnis entwickeln kann.“ Er lachte wieder. Ich ebenfalls.
Und ich dachte, der Besitzer des Ladens kann dies nicht sein, gewiss nicht. Um
ganz sicher zu gehen, erkundigte ich mich noch nach der Pflege des Fells. Er
verstand mich nicht gleich. Ob man es pflegen müsse, mit Öl oder Creme
vielleicht, erkundigte ich mich schüchtern, dennoch nachhaltig genug, auf dass
er sich nochmals in die Rolle des arroganten Zynikers begeben konnte: „Wie? Öl,
Creme? Wat denn noch? Nächstens komm die Leute an und wolln ooch Vorelspinn,
Skorpjone und Mistkäfa mit Öhl inreiben, damit diese eklichen Dinga richtich
jlänzen. Und denn vielleicht noch bisschen feine Mannikühre und Zahnflehje jefällich?“
Er lachte ein letztes Mal auf dieselbe Art, denn ich nahm den Hamster und
schaffte ihn heim. Zu Hause
schärfte ich dem Tier seinen Namen ein. Peterchen. Ich tat das wegen mir, nicht
weil ich auf eine Reaktion des Hamsters rechnete. Ich wollte, sollte, musste
mich an den Namen gewöhnen. Peterchen. Ich sollte, wollte, musste selbst
glauben, dass dies der Hamster war, den mir Edward Erster für insgesamt tausend
Piepen und den Silverhawk zur Betreuung überlassen hatte. Egal ob Edward Erster
es ernst gemeint oder ob der Hamster nur als Vorwand gedient hatte.
Trotz der gleichsam ernüchternden
und beruhigenden Auskünfte des Verkäufers machte ich mit dem Silverhawk
kurzerhand einen Abstecher in jenen Außenbezirk, in dem die alte Genossenschaft
mit dem Laden für das spezielle Tierfutter und die Pflegemittel liegen sollte. Gab es das
Geschäft wirklich? Soso: Die
Verkaufsstelle existierte nicht mehr. Das Gebäude, in dem sie sich befunden
hatte, stand im Verfall. Die Schaufenster waren verhangen, die gläsernen
Reklametafeln hatte jemand mit Steinen traktiert.
Ich verließ die
Gegend, ich gab Gas, ich scheuchte das Nobel-Auto, bevor ich es in die Garage
auf Edward Ersters Anwesen schaffen würde, über Land. Der Wind wehte knatternd
um meine Ohren, ich legte den rechten Arm auf die Lehne des Nachbarsitzes.
Tineke, dachte ich, dies soll dein Platz bleiben.
Nein, bleiben war das falsche Wort. Das
richtige Wort hieß werden.
Als ich mich nachher nur noch ein
paar Kilometer vor der Hauptstadt befand, entschied ich mich, den Hawk nicht
gleich in die Garage auf Edward Ersters Anwesen zu bringen. Ich fuhr
stattdessen in die Straße, in der sich Tinekes Wohnung befand. Ich wollte es,
wie man so schön sagt, wissen. Ich klingelte, es summte, ohne dass ich gefragt
wurde, wer ich sei und zu wem ich wolle. Ich stieß die Tür auf und stürmte nach
oben. Wieder spürte ich das Herzklopfen in mir, doch es war ein anderes als vor
drei Tagen. Oder nicht?
Diesmal
erwartete mich niemand vor der Wohnung.
Nur ein offener
Türspalt.
Ich klopfte und
drückte dann ohne die Klinke zu berühren das Türblatt in die Wohnung hinein.
Ich trat in den Flur und rief: „Hallo, jemand zu Hause? Tineke vielleicht?“ Nein, nur ein
Typ mit randloser Brille und Kräuselfrisur. Einer wie er üblicherweise in
keinem Öko- oder Femi- und schon gar nicht in einem Öko-Femi-Film fehlen darf.
Ein Softi, ein Alternativer, vielleicht ein Weichei, ein Bursche mit einer
dunkelgrünen Latzschürze, auf der verschiedene Gemüsesorten und neben dem Namen
Jonathan noch verschiedene Öko-Sprüche abgebildet waren.
„Tineke ist
nicht da.“
Er starrte mich
an und ich ihn. Er wirkte ängstlich, unsicher. Und er sagte nichts weiter. Daher fragte ich barsch: „Ja und, wann kommt sie wieder?“ Der Softi erschrak.
Immerhin reagierte er prompt: „So wie sie gesagt hat, wird das wohl noch zwei
Tage dauern. Wenn nicht länger. Vielleicht zwei Wochen. Sie wollte wohl noch
jemanden besuchen. Kann sein eine Freundin. Oder ihre Oma. Sie stammt ja von da
oben her.“
Was für eine
Ausdrucksweise: von da oben her. Da oben, das war der Norden des Landes,
die Küstenregion. Ich zog wieder
ab.
Nein, ich wurde
aufgehalten. Jonathan schien sich für mich zu interessieren. Auf welche Art,
war mir nicht ganz klar.
„Du bist bestimmt
dieser Erasmus?“ Ich kratzte
meinen Hinterkopf und nickte skeptisch. „Toller Name.“ Was sollte
diese Bemerkung?
„Du bist
Schriftsteller?“ Dieser Kerl.
Dieses Geschmeichel. Ich kam gar nicht gut gegen diese letzte Bemerkung an. Er
lockte mich damit so wie man eine Wespe an einem heißen Sommertag in eine
halbvolle Sirupflasche lockt. Ein Schriftsteller, der noch lange keiner ist,
lässt sich nur zu gern als Schriftsteller bezeichnen und hofieren. Und
bewundern. Und die wenigsten Wespen fanden den Weg aus der dünnhalsigen
Sirupflasche heraus. Sie summten und rannten gegen die harte Glaswand, bis
ihnen die Kraft ausging und sie strampelnd in der dickklebrigen Suppe lagen.
„Find ich ja
interessant, so jemanden zu kennen. Ich bin der Jonathan. Soll ich uns eben
’nen Kaffee kochen und wir labern noch bisschen?“ Ich war kurz
davor, seine Einladung anzunehmen. Aber ich dachte an die strampelnden Wespen.
Es war nicht gut, sich als Schriftsteller, der man noch nicht wirklich war,
umgarnen oder einlullen zu lassen.
Und Tineke?
„Hast du vielleicht die Adresse? In Ostfriesland.“ Das fragte ich nun doch
noch.
Jonathans Blick
flackerte in Verwirrung. Nein, er hatte sie nicht. „Bei Tineke weiß man sowieso
nie, ob sie da ist, wo sie ’s vorher gesagt hat.“
Wieder diese
seltsame Ausdrucksweise. Wo sie ’s vorher
gesagt hat.
„Du meinst, sie
ist gar nicht nach Ostfriesland gefahren? Du meinst, sie hat das nur so gesagt?
Mir, dir?“
Er lachte so
ganz komisch, so kicherig. Dabei tatschte er mit der Hand gegen meine Schulter.
Ich zuckte
zusammen. Wich zurück.
„Frauen sind
nun mal anders als wir. Als Schriftsteller solltest du das wissen, mein lieber
Erasmus. Und wenn du so einer wie der Tineke nachstellst, schon mal besonders.“
Ich fuhr heim. Das heißt, ich fuhr
um die Ecke und hielt den Wagen noch mal an. Was war das gewesen? Softi in
Latzschürze, der so gewagte Weisheiten über Frauen verbreitete. Vor allem: über
die schönste Frau, die ich kannte.
In meiner Wohnung saß ich dann vor
dem Käfig des Hamsters, ich führte Gespräche. Mit ihm, Peterchen Zwo, so sollte
er nun endgültig heißen, und mit mir. Es ging um die letzten Tage, um Tineke.
Es ging um meine Aussichten. Falls ich denn noch welche haben sollte. Mir wurde
immer klarer, was mir Tineke bedeutete. Viel, sehr viel. Es ging auch um
das Manuskript. Ich fürchtete auf einmal, dass mein Roman bei ihr durchfiel.
Und ich mit. Ich erzählte es Peterchen. Dem Neuen, dem Zweiten. Immer wieder. Und ich fragte
Peterchen Zwo: „Glaubst du das, was dieser komische Geselle mit der Latzschürze,
dieser Jonathan, unserer Tineke unterstellt?“
Da sich der
Hamster zunächst nicht für diese Frage interessierte, wiederholte ich sie. Laut
und mit einer angedeuteten Koloratur untermalt. Nein, Peterchen Zwo widmete
sich weder meinem Zuneigungskummer, noch zeigte er Verständnis für die Zweifel
an meiner literarischen Tätigkeit. Er schnüffelte herum, nagte an den großen
Salatblättern, die ich inzwischen aus einer Tonne am Eingang des Supermarkts
stibitzt hatte, und er schaute mich mit seinen Druckknopfaugen durch die
Gitterstäbe an. Gelangweilt, ohne jede Tendenz zur Kommunikation. Egal, ich war
in diesem Augenblick froh, dass ich Peterchen Zwo hatte. Durch ihn vergaß ich
zunehmend Peterchen Eins, und ich gewann die Stärke, wieder an meinem
Manuskript zu arbeiten. Ich befasste mich erneut mit jener Passage, in deren
Mittelpunkt die sizilianische Hinrichtung stand. Ich schlachtete die Szene
weiter aus, indem ich die Polizei ins Spiel brachte, die – nachdem der Mord
begangen war – aus dem Nichts auftauchte und die Suche nach den Mördern
aufnahm.
Oder?
In der Tat,
diese Variante gefiel mir nicht. Schießereien zwischen Polizisten und Gangstern
gab es genug. Stündlich konnte man sie im Fernsehen verfolgen. In tausend
anderen Büchern las man darüber. Warum auch noch bei mir?
Ich wählte eine
andere Variante und stellte die Polizisten als korrupt dar. Sie betraten den
Schauplatz, sahen die Hingerichteten. Sie rauchten mit den Gangstern eine
Zigarette, steckten das Schmiergeld ein und verschwanden.
Reichte das? Wurde
einem das nicht auch in jedem zweiten Krimi so offeriert?
Ich forcierte
die Handlung noch weiter: Sie, die Polizisten, blickten, nachdem sie geraucht
hatten – zufällig – zum Fenster des Museums hinauf. Und sahen sie dort nicht
das versteckte Pärchen?
Ich wusste es
selbst nicht mehr. Ich ließ das Manuskript ruhen. Ich hatte noch eine Flasche
Wein vom Nachmittag mit Tineke. Die trank ich leer. Danach schlief ich.
Folge 5 vom 2. April. 2020
Nach einigen Tagen geschah etwas Überraschendes. Etwas
sehr Bedeutendes. Ich erhielt, während ich mir von einer Döner-Bude etwas zu
essen holte, Post. Keine Werbung, wie sonst üblich, keine Rechnungen und keine
Irrläufer, die eigentlich an die Mieter gerichtet waren, die schon lange nicht
mehr hier wohnten. Vier Briefe, von denen drei mit meinem Namen und meiner
Adresse versehen waren. Diese drei steckten im Gegensatz zum vierten Brief in
meinem hartnäckig verteidigten Postkasten. Die Aufschrift des Absenders trugen
nur zwei. Das waren der Brief, der von Edward Erster aus der Schweiz kam, und
jener, den die Firma, bei der ich mich für ein Jahr hatte beurlauben lassen,
geschickt hatte. Mein Arbeitgeber. Ganz klar, ich wurde daran erinnert: Das
Freistellungsjahr war fast um. Man wollte wissen, ob ich Rückkehrambitionen
hätte.
Der dritte Brief war auf der
Rückseite des Umschlags mit zwei Initialbuchstaben signiert: T. T. Ich gestehe
durchaus, dass es mich fröstelte, als ich die Buchstaben las, denn ich hoffte
so sehr, Tineke möge mir geschrieben haben, wiewohl ich mich zugleich vor einem
vernichtenden Inhalt fürchtete: Miserables Manuskript, orientierungsloser,
durchgeknallter Feigling, der ihr sogar während ihrer Abwesenheit in die WeGe
hatte nachsteigen müssen. Einen Augenblick lang sah ich diesen Softi mit der
Latzschürze vor mir. Ich sah ihn, wie er, kaum dass ich die Wohnung verlassen
hatte, zum Telefon stürzte und Tineke alles petzte. Nicht nur petzte, sondern
noch jede Menge Lügen und Abschweifungen hinzufügte. Vielleicht war das Bürschchen
Tinekes Freund. Nein, eher nicht. Aber er konnte rettungslos in Tineke verliebt
sein, und da sie ihn sang- und klanglos hatte abblitzen lassen, versuchte er in
krankhafter Eifersucht, alle Männer von Tineke fernzuhalten. Mit allen Mitteln,
auch mit perfiden.
Vielleicht enthielt der Brief aber
auch nur ein paar Grüße und einige unverbindliche Abschiedsworte: Es war nett,
mit dir im Auto zu fahren, aber ich bleibe doch lieber allein. Ach ja, die
Plattensammlung kannst du gern zurück haben. Bitte bring mir doch vorher das
geborgte Geld vorbei. Wenn ich nicht da sein sollte, gibst du es Jonathan …
Ich unterdrückte sowohl meine
Hoffnungen auf gute Nachrichten wie auch die Furcht vor unangenehmen Mitteilungen
und schlitzte zunächst den Brief meines Onkels auf.
Edward Erster war ein guter
Mensch. Trotz seines Geldes und seiner ihn unnahbar wirken lassenden Kapitalisten-Aura.
Vielleicht, weil er keine Kinder hatte. Keine leiblichen. Obschon seinem
Lebenswandel zufolge dieser und jener Nachkomme in kurzen Abständen, wenn nicht
gar zeitgleich, denkbar gewesen wäre. Halbgeschwister, in Scharen, was sicher
keiner zusätzlichen Erläuterung bedarf.
Da dieser Fall jedoch nicht
eingetreten war, meinte Edward Erster als der erheblich ältere Bruder meines
Vaters, auch noch ein Jahrzehnt nach dessen Abreise, die Vaterrolle für mich
übernehmen zu müssen. Dass er sich per Brief meldete, war nicht
außergewöhnlich. Obwohl er auch auf moderne Weise kommunizierte, per E-Mail,
über Handy-Systeme und sowieso mit dem Fax, pflegte er gern das Altmodische,
was ihm, nicht ungewollt und nicht unbegründet, den Anschein verlieh, ein Snob mit
stabilen alten Werten zu sein, welche er vornehmlich mir zu vermitteln suchte.
Denn da Edward Erster ob des Altersunterschiedes zu meinem Vater, diesen – auch
angesichts der früh verstorbenen Eltern – eher als seinen Sohn denn als Bruder
behandelt hatte, meinte er, ihm sei diese Rolle mir gegenüber selbstverständlich
ebenso auferlegt. Sein Brief ließ es an Länge und
der ansonsten unverwüstlichen Formstarrheit missen. Selbst die unumgänglichen Appelle
zur Normalisierung meiner Lebensweise fehlten. Nur kurz teilte er mit, es gehe
ihm gut, die Anwendungen in den Wellness-Einrichtungen frischten seinen allerdings
gar nicht so üblen Gesundheitszustand zusehends auf; und auch mit neuen
Kontakten sei es – AhA – nicht schwierig. Abermals erkundigte er sich nach
meinem Roman. Diesmal anders. Als würde er sich für den Inhalt interessieren. Er
bat, ich möge das Manuskript ausdrucken und ihm zusenden. Für das Porto und den
Kauf neuer Druckpatronen hatte er einen korrekt ausgefüllten Scheck über
einhundert Piepen beigelegt. Neue Druckpatronen, weil er sich eine gut lesbare
Schrift wünschte. Einen Scheck, weil ich keine EC-Karte besaß.
Erst nachdem ich den Brief
weggelegt hatte, fiel mir auf, dass Edward Erster mit keinem Wort nach seinem
Hamster gefragt hatte.
Ich lächelte kurz, hatte jedoch
bereits den zweiten Brief geöffnet. Es war das Schreiben aus der Firma. Der
erwartete Text, den ich lediglich überflog: …
möchten wir darauf hinweisen ... Ihre Freistellung endet in zwei Monaten …
halten wir es für sinnvoll, zunächst ein Gespräch mit Ihnen … bitte vereinbaren
Sie einen Termin …
Blablabla. Und doch, es war
unumgänglich, eine Entscheidung zu treffen. Für mich. Beruf, Freiheit,
Selbstverwirklichung. Gesicherte Existenz, ungewisse Zukunft. Schriftsteller,
Manager.
Endlich wagte ich mich an den
Brief von Tineke. Er war kurz, doch sie hatte ihn
nett geschrieben und sogar mit der Anrede Lieber
Erasmus begonnen. Sie erzählte, wie gut es ihr tue, dort zu sein. Zu Hause.
Jetzt im Sommer. Es sei sehr ruhig, kaum Urlauber. Das sei das Schöne, das Einmalige
an ihrem kleinen Ort: das Romantische, das Ursprüngliche und die
Abgeschiedenheit. Dabei lägen die bekannten Seebäder nicht mal weit entfernt. Sie
schrieb: Dir würde es hier auch gefallen,
Erasmus. Und sie fügte hinzu, dass sie über mich nachgedacht habe. Über
meine Lebensweise, meine Lebenseinstellung, meine Zukunftsaussichten. Das Ergebnis dieser Gedanken
behielt sie für sich. Der Brief erweckte daher den Eindruck, als hätte sie an
dieser Stelle etwas hinzufügen wollen. Über und an mich. Womöglich hatte sie
nicht die passenden Worte gefunden. Oder sie hatte sich nicht getraut, mehr zu
schreiben.
Über ihr Gespräch in der Klinik berichtete
sie noch weniger. Sie schrieb: Mit einer
passenden Arbeitsstelle im hiesigen Krankenhaus hat es nun doch nicht geklappt.
Sie hätten mich gern genommen, aber sie bieten nicht die Möglichkeiten, die ich
im Großklinikum in Berlin habe.
Es war, als hörte ich sie durch
die Zeilen hindurch seufzen.
Das Wichtigste: Am Ende des
Briefes stand ihre Handy-Nummer. Und ihr Name. Tineke Tollwin.
Diesen Namen sprach ich einige
Male vor mich hin. Nein, nicht einfach so, sondern ich sagte, flüsterte ihn zu Peterchen
Zwo. Durch die Gitterstäbe des Käfigs. Und ich fragte den dummen kleinen
Hamster: „Ein schöner Name, nicht wahr?“
Ach ja, der vierte Brief. Ich fand ihn, wie schon
bemerkt, nicht im Postkasten, sondern in meiner Wohnung. Er lag auf dem Boden,
gleich hinter der Eingangstür. Offenbar hatte der Verfasser beobachten lassen,
wann ich aus dem Haus gehe, danach hatte man den Umschlag schnell und unauffällig
unter der Tür in den Flur hinein geschoben. Der Umschlag wies weder einen
Absender auf noch war er mit einer Briefmarke versehen. Ich hob ihn auf, und
ich spürte ein seltsames Frösteln. Nein, es war mehr als ein Frösteln. Es war
totale Schwäche. Die Knie wurden weich. Sie drohten einzuknicken. Ich musste
mich für einige Augenblicke an der Türklinke festhalten, ehe ich das Schreiben
vor meine Augen halten und entziffern konnte.
Ich ahnte schon vor dem Lesen, um
was es ging, zumal außer dem Poststempel und der Angabe des Absenders auch eine
Anschrift fehlte. Schon zwei Mal hatte ich in den letzten Jahren eine derartige
Post bekommen. Mit ganz geheimen Mitteilungen, Anweisungen.
Es sah auch diesmal nach strenger
Geheimhaltung aus. Der Umschlag enthielt einen Zettel in der Größe DIN A 5. Ein
formloser, anonym gehaltener Text. Doch mit ganz konkreten Anweisungen:
Guten Tag, dies ist eine Mitteilung, die höchst vertraulich zu
behandeln ist. Finden Sie sich bitte am 29. des Monats um 14 Uhr an der Brücke sieben
des Autobahnabschnitts 52 ein. Bitte beginnen Sie Ihre Reise unbedingt am Fernreisebahnhof
der Hauptstadt mit dem Zug. Bitte bringen Sie kein Gepäck mit. Bitte sprechen
Sie mit keinem Menschen über die von Ihnen vermuteten Inhalte dieses bevorstehenden
Termins, auch nicht andeutungsweise. Bitte machen Sie auch nirgends Notizen darüber.Bitte planen Sie für diese Aktion genau vier Wochen ein. Unterzeichnet war der Brief mit
den Worten: Mit Grüßen. Kein Name,
keine Institution, kein Datum, keine Adresse, nicht der geringste erkennbare
Hinweis auf den oder die Verfasser. Jedoch der Zusatz:
Bitte prägen Sie sich Ort und Tag und Uhrzeit ein und vernichten Sie
dieses Schreiben umgehend. Bis zum 29. blieben mir noch volle
vier Wochen. Eine fürchterlich lange Zeit, die mir bevorstand, in der ich mich zwischen
Ängsten, Hoffnungen und Spekulationen hin und her gestoßen fühlen würde.
Ich verbrannte den Brief über meinem Klobecken und
spülte die schwarzen Fetzen in die Unterwelt des Kanalisationssystems. Anschließend
holte ich Druckerpatronen und Briefmarken. Ich druckte zahllose Seiten aus.
Doch ich zögerte, bevor ich die Manuskript-Sendung für Edward Erster zurechtmachte.
War es richtig, ihm den Text zum Lesen zu geben? Nach all den Diskussionen und
Auseinandersetzungen, die er mit mir und ich mit ihm zum Thema Ich schreibe ein Buch und mache vorläufig
nichts anderes geführt hatte. Und er hatte sich bisher kein bisschen für
meine Schriftstellerei interessiert. Inhaltlich. Es war immer nur um das
Schreiben als solches gegangen. Meine Zukunft. Deren mögliche Gestaltung er beargwöhnte.
Das Schreiben kümmerte ihn weniger, ihn störte vielmehr die zunehmend
spartanisch werdende Lebensweise, die ich mir auferlegt hatte. Egal, dachte ich, man muss sich
den Leuten stellen. Seinen Verwandten. Vielleicht hatte er seinen Sinn
geändert, seine Gewohnheiten. Vielleicht akzeptierte er meine Einstellung endlich.
Ich schrieb ihm statt einer
Erläuterung zum Manuskript ein paar belanglose Zeilen dazu: Wünsche dir
weiterhin gute Wellness-Erfolge, vor allem nette Gesellschaft. Und: Deinem Hamster geht es
blendend, auch wenn das Geschäft in der alten Genossenschaft längst nicht mehr
existiert und Peterchen ohne die von dir geforderten Spezialmittel auskommen
muss. Den Umschlag mit dem
Manuskriptausdruck brachte ich prompt zum Briefkasten, danach ging ich zur Bank
und ließ am Schalter gegen Bareinzahlung mein Handy aufladen. Tineke, dachte ich und zog noch in
der Bank mein Handy aus der Tasche. Ich hatte ihre Nummer längst eingespeichert
und musste nur noch zwei Tasten drücken. Es summte einmal und noch einmal, dann
meldete sie sich schon. Wir redeten über ein paar Belanglosigkeiten, bis sie
auf einmal fragte, ob ich noch über den Silverhawk verfügte.
Ja, auf jeden Fall.
Dann nannte sie mir die Adresse,
bei der sie untergekommen war. Sie sagte: „Wenn das schöne Wetter anhält,
bleibe ich mindestens noch eine Woche hier. Bin jeden Tag auf dem Deich und laufe
ganz lange Strecken. Es ist so schön.“
Konnte eine Einladung, eine
Aufforderung eindeutiger klingen? Ich stürmte zurück in die
Hinterhofwohnung. Ich schmiss dieses und jenes in meinen seit Langem nicht mehr
benutzten Reisekoffer, und ich nahm es, weil ich es für nicht mehr vorzeigbar
hielt, wieder heraus. Ich redete zwischendurch mit Peterchen Zwo Sätze in
dieser Art: „Ich werde zu ihr fahren, morgen früh oder heute Nacht düse ich
los. Im super Silverhawk. Auf diese Weise vergehen auch die nächsten vier
Wochen schneller. Vielleicht gefällt es mir bei Tineke sogar so gut, dass ich nachher
gar nicht dorthin will, zum Fernreisebahnhof, zu Brücke sieben am Autobahnabschnitt
52.“
Ich überlegte, ob mich jemand gehört
und ich gegen die Geheimhaltungsvorschrift verstoßen haben könnte. Wer? Es gab
auf dieser Etage keine Nachbarn mehr. Und wenn schon.
Peterchen Zwo interessierte sich
nicht für meine Erwägungen. Er fraß an einem schönen Salatblatt. Trotzdem wechselte
ich das Thema. Ich schwärmte wieder. Ich sang: „Tineke, mit dem wunderbaren
Namen. Tineke, eine wunderschöne Frau. Sie erwartet mich am herrlich grünen Deich
direkt an der See. Die Sonne scheint. Für uns.“
Der Hamster zeigte sich weiterhin
desinteressiert und unbeeindruckt. Er fraß und fraß und sauste ab und zu wie
eine Rennmaus in seinem Käfig umher. Er verhielt sich mir gegenüber argwöhnisch,
ablehnend. Wahrscheinlich sorgte er sich, was aus ihm werden sollte, wenn ich
fort sein würde. „Keine Bange“, rief ich ihm daher zu, „für dich finden wir
eine Lösung. Schließlich will ich nicht noch einen zweiten Nager auf dem
Gewissen haben.“ Und dann sang ich wieder. Über Tineke, über mich, über eine
große Liebe. Ich hatte gute Laune, und ich war zuversichtlich,
was die Lösung meines Hamsterproblems anging.
Der Koffer stand an der Tür. Er war nur halbvoll. Die Sachen,
die ich einst besessen hatte, waren entweder auf dem Flohmarkt verkauft worden
oder inzwischen so verschlissen, dass ich sie nicht mehr in der Öffentlichkeit
tragen konnte. Und was ich jetzt gerade anhatte? Ich stand vor dem Spiegel, und
ich fand mich schäbig. Ich gab dem Koffer einen Tritt und verschwand durch die
Tür. Ab auf die Straße und hin zur Glasdachpassage mit den vielen Boutiquen.
Ich kleidete mich ein. Ich hörte Edward Erster in Gedanken sagen: „Nimm lieber
zwei, drei Hemden und Hosen mehr. Über Geld brauchen wir nicht zu reden. Sollst
mal sehen, wie du dich gleich viel besser fühlst. Neu eingekleidet. Und ich
auch.“
Ich kaufte doch nicht ganz so
üppig und teuer, dennoch fühlte ich mich mit ein paar neuen Sachen erheblich besser.
Ich stand zu Hause vor dem stumpfen Spiegel des alten Schrankes und drehte mich
mehrmals um die eigene Achse. Ich hätte auf der Stelle losfahren können, zu
Tineke, so gut fühlte ich mich.
Ich sah auf die Uhr. Um
Mitternacht konnte ich schon dort sein, bei ihr. Rein in den Hawk und los.
Nein, doch nicht. Bei einer Frau
wie Tineke kreuzte man nicht so einfach um Mitternacht auf. Auch wenn einem diese
Frau geneigt sein mochte. Konnte es nicht sein, dass ich Tineke Unannehmlichkeiten
bescherte? Wusste ich denn, bei wem sie untergekommen war?
Was sollte ich aber dann tun? Schreiben,
korrigieren? An meinem Manuskript?
Ich war dafür zu unruhig, regelrecht
aufgewühlt. In vier Wochen an Brücke sieben, vorher am Fernreisebahnhof, morgen
oder übermorgen bei Tineke am Deich. Liebe, Ungewissheit, Pflicht. Eine Flut
von Gefühlen, Eindrücken und Unklarheiten war auf mich eingestürzt. Verlor ich
nicht gleich den Boden unter den Füßen?
Ich tat etwas zur Ernüchterung:
Ich rief Frau Stine-Pohl an.
„Was für eine Überraschung“,
antwortete die Dame. Doch sie wiegelte sogleich ab. „Das heißt, mir war sowieso
klar, dass Sie sich bald melden würden. Ich hatte ja veranlasst, dass Sie Post
von uns bekommen.“ Ich ahnte, dass sie sofort in ihrem unheimlich dicken
Terminkalender blättern würde. Und es bestätigte sich ja auch: „Also, Sie
wissen ja, Herr Erster, meine Zeit ist sozusagen von Natur aus knapp. Ich habe
im Moment nicht mal die berühmte halbe Höflichkeitsminute für einen Smalltalk
am Telefon Zeit.“
Ja, ich wusste es. Das und noch
mehr. Ich hatte es in jenen fünf gemeinsamen Jahren erfahren. Gespräche,
Sitzungen, Konferenzen. Für Privates standen wir uns niemals nahe genug. Wegen
der Zeitknappheit. Für wichtige Geschäftstermine hatte Frau Stine-Pohl hingegen
den Kleinen flexiblen Termin fast
immer in petto. Am nächsten oder übernächsten Tag: „Morgen, vor dem Mittag, könnten
Sie kommen, Herr Erster. Für eine halbe Stunde. Allerdings nicht länger.“ Donnerwetter, dachte ich, so
schnell. Sprach das nicht für gute Aussichten bezüglich einer Rückkehr in
meinen bürgerlichen Beruf?
Ich seufzte. Und die
Schriftstellerei?
Die Stunden der nächsten Nacht sickerten dahin wie
zäher Sirup durch ein verfilztes Sieb. Ich wälzte mich auf meinem knarrenden
Bett und schaute immer wieder auf die Uhr. Die Zeiger standen – es schien
zumindest so – still. Unruhe war in mir und um mich. Peterchen Zwo arbeitete
unermüdlich. Was er arbeitete, blieb mir verborgen, denn bei eingeschaltetem
Licht und gelüfteter Schlafhaube tauchte er unter einem großen Salatblatt oder
in seiner künstlichen Höhle ab und stellte sich schlafend. Und mit diesem
geheimnisvollen Aktionismus stieß er mich noch und noch auf die Frage: Bei wem
würde ich den kleinen Schlingel während meines Besuchs bei Tineke unterbringen?
Ich wusste niemanden. Ich hatte mich in den letzten Monaten dermaßen
abgekapselt und auf meine Arbeit als Schriftsteller konzentriert, auf dass ich
schief und schräg angesehen werden würde, wenn ich nach langer, unerklärter
Abwesenheit auf einmal mit einem Hamsterkäfig unter dem Arm bei den früheren
Bekannten vor der Tür stünde. Trotzdem blieb ich zuversichtlich. Und standhaft:
Ich würde mich meiner Verantwortung für den kleinen Irrwisch nicht entziehen.
Immerhin verhielt sich Peterchen
Zwo mit Anbruch des neuen Morgens endlich ruhiger. Offenbar brauchte er genauso
seinen Schlaf wie ich. Mir jedenfalls tat die Ruhe gut. Fast wäre ich nicht aus
den Tüchern gekommen, so sehr hatte es mich nachher in die Schlaftiefen
hinuntergezogen. Allerdings nicht so tief, als dass ich den Termin bei Frau Stine-Pohl
wortwörtlich verschlafen und ihrem kritischen Blick nicht standgehalten hätte. „Na,
Herr Erster, einiges hat sich ja wohl doch geändert, seit Sie sich haben
beurlauben lassen. Bei Ihnen.“ Es war der auffällig unauffällige optische Check-up
gewesen, bei dem sie mein Outfit ihrer Beurteilung unterzogen hatte. „Wenn Sie
zu uns zurück wollen, müssten wir ja doch einiges umstellen. Da ist der alte
Bekleidungszustand unerlässlich.“
Dabei hatte ich meine neu erworbenen
Klamotten angezogen. Nun denn, ein freier Mensch, ein Schriftsteller sitzt am
liebsten in bequemer Kleidung am Laptop, er geht nicht mit Krawatte und Jackett
durch den Alltag. Auch nicht zu seiner früheren Vorgesetzten, egal dass die
frühere Vorgesetzte die künftige Vorgesetzte werden sollte.
Ich lächelte leicht betreten. Frau
Stine-Pohls Blick ruhte nun auf meinem Gesicht. Sie fügte hinzu: „Und das
bedarf Ihrerseits sicherlich keiner Diskussion.“ Ich nickte ziemlich ergeben,
und ehe ich die eine drängende Frage gestellt hatte, nahm sie die Antwort darauf
bereits vorweg: „Ansonsten stehen Ihre Chancen auf eine Rückkehr nicht schlecht.
Die Stelle, die Sie bis zu Ihrer freiwilligen Beurlaubung bekleidet hatten,
konnten wir ja leider noch nicht vollwertig besetzen. Vielleicht wollten wir es
auch gar nicht, weil Sie einfach sehr gut gearbeitet haben.“
Natürlich, es war taktisch nicht
klug, aber es ließ sich nicht unterdrücken: Mein Gesicht erstrahlte im
erlaubten Maße, ich wuchs in der Tat zwei oder drei Zentimeter empor. Frau Stine-Pohl
registrierte das mit kurzer Genugtuung, danach schwenkte ihr Interesse um. „Und
das Buch, für das Sie diese asketische Zeit und die offenbar unabdingliche Atempause
in Ihrem beruflichen Aufstieg auf sich genommen haben, ist demnach rundweg
missglückt? Oder hat es einen anderen Grund, dass Sie offensichtlich mit dem
Gedanken spielen, wieder einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen?“
Bei einem anderen Menschen hätte
die Frage mit Schadenfreude oder Besserwisserei zu tun gehabt haben können.
Nicht bei Frau Stine-Pohl. Insofern klang es glaubhaft, als sie automatisch von
einem Ja ausging und dieses unausgesprochene Ja dann mit „Wenigstens eine
Erfahrung mehr“ quittierte. So sachlich, so ohne Humor und Mitgefühl. Da ich selbst
jedoch mit einem Ja zögerte, sah sie sich genötigt, den Sachverhalt zu klären.
Unversehens hakte sie nach: „Also ist es doch fertig geworden, dieses Buch, nur
wollen Sie’s niemandem zeigen, weil es Ihnen selbst nicht gefällt. Auch kein
gutes Zeichen.“
Stimmte das? Gefiel mir das
Manuskript wirklich nicht? Und spielte ich wirklich mit dem Gedanken, in meinen
Job zurückzukehren? Die bürgerliche Karriere des Erasmus Erster. Warum war ich
dann überhaupt hier? Nein, es gefiel mir. Mein Buch.
Das erste. Ich hatte es ja inzwischen sogar zwei Menschen zum Lesen gegeben.
Tineke und meinem Onkel. Ich würde in Kürze die Rückmeldungen bekommen. Und
selbst war ich einfach noch zu keiner durchgängig positiven Wertung gelangt. Im
Grunde gefiel mir das Manuskript richtig gut, nur manchmal kamen mir Zweifel.
Das mochte indessen mit meiner jeweiligen Stimmungslage zu tun haben. Mit
meiner Zurückgezogenheit. Und neuerdings mit Tineke, wegen
dieses inzwischen unbezwingbar gewordenen Gefühls namens Verliebtheit. Liebe?
Frau Stine-Pohls Blick ruhte jetzt
wieder auf meinem Gesicht. Sie sah kompetent und allwissend aus. Und anmaßend. Ich
begriff, dass sie das Manuskript lesen wollte. Und ich war aus verschiedenen
Gründen nicht in der Lage, mich gegen diese Aufforderung aufzulehnen oder mich
durch eine Ausrede um deren Erfüllung zu drücken. Also lenkte ich ein: „Wenn
Sie sich dafür interessieren. Gut, dann reiche ich Ihnen ein Exemplar rein.“ Ich
dachte, vielleicht ist es nicht die schlechteste Variante, wenn sie es liest.
Sie ist unbestechlich, sie ist korrekt. Sollte sie es scheußlich finden, so
würde ich trotzdem über den Dingen stehen. Über ihrem Verriss. Ich war also
mutig und selbstbewusst genug, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Einer anderen
Wahrheit. Wirklich?
Folge 6 vom 3. April. 2020
Frau Stine-Pohl
hatte mich am Ende der peinlichst eingehaltenen Flexiblen halben Stunde aufgefordert, gleich jetzt die ersten
Formalitäten für meine Wiedereinstellung zu erledigen. Ich gehorchte. Egal,
dass noch mehrere Wochen Zeit blieben und ich die Wiederaufnahme meines
Arbeitsverhältnisses vielleicht gar nicht wollte. Ich hatte ja auch nicht alle
Dokumente, die benötigt wurden, dabei. Somit musste ich nach Hause, um diese
Sachen zu holen. Da ich nun schon hier war, druckte ich gleich das Manuskript
aus. Das alles dauerte, zumal ich nicht umhin kam, nochmals loszulaufen und weitere
Druckpatronen und auch gleich neues Papier zu kaufen. Als ich den Ausdruck fertig und die fehlenden Unterlagen zusammengesucht
hatte, fuhr ich zurück in die Firma, um das Manuskript im Vorzimmer der Frau Stine-Pohl
abzuliefern und in der Personalabteilung die fehlenden Dokumente einzureichen. Erst am späten Nachmittag kehrte ich wieder in meine Wohnung
zurück. Ich war durcheinander. Ich hatte alle Schritte eingeleitet, um wieder
zu arbeiten; wie früher. Wollte ich nicht aber Schriftsteller werden, sein? Unabhängig,
kreativ, produktiv. Zäh, verbissen, voller Ideale. Fragen und Antworten hämmerten in meinem Kopf. Ein Zustand,
in dem man nicht in ein Auto steigen und zu seiner Angebeteten fahren sollte.
Zur Nordsee.
Ich kroch
um acht Uhr ins Bett. Draußen war es süß lau. Ein aufdringlich eindringlicher
Großstadt-Hochsommer. In der Luft flirrten tausendundein wunderbare Düfte. Auch
Dünste. War es ein Wunder, dass ich nicht schlafen konnte? Zumal unter meinem
Fenster verschiedene Leute rumorten. Die Tippelbrüder, die eben diesen
Hinterhof seit dem Frühjahr zu ihrem dauerhaften Rückzugsgebiet erkoren hatten.
Nachtquartier, Clubraum. Unter freiem Himmel. Dieser blumige Sommerabend lud
die illustre Schar geradezu zum Zechen, zur nächtlichen Sause ein. Die Flaschen
mit dem Fusel kreisten, mit jedem Schluck nahm die Lautstärke des Gelächters
und der Meinungsäußerungen zu. Zoten, Politik, Kulturbetrachtungen. Weisheiten.
Die Erkenntnisse und die Lösungen der globalen Probleme. Dagegen war ich
machtlos. Ich hatte die fröhlich-harmlose Runde kürzlich noch gegenüber den drei
anderen im Block verbliebenen Mietern verteidigt. „Irgendwo müssen diese
Kollegen schließlich hin“, hatte ich gesagt. Und nun wurde ich selbst zu deren
Opfer.
Nach einer halben Stunde stand ich auf und schaltete den
Computer an. Nein, ich öffnete diesmal nicht den Ordner mit dem besagten Roman,
meinem ersten Buch. Ich hatte auch einen Ordner, in dem ich halbfertige oder
noch in Rohfassung befindliche Geschichten abgespeichert hatte. Ein guter bis
sehr guter Schriftsteller, auch einer, der sich in meinem Stadium befand, arbeitete
natürlich nicht nur an einem Werk. Ich wählte die Story mit dem Arbeitstitel „Der Schwogger“.
Darin kam ein Mann vor, der seit Jahren mehrmals in der Woche mehrere Kilometer
läuft. Er hört dabei über Kopfhörer Musik, die er auf einem Stick gespeichert
hat. Es sind immer die gleichen Stücke, und es sind nicht mehr als fünfzig, die
für ihn in Frage kommen. Andere gefallen ihm nicht. Durch sein hohes Pensum an
Läufen verweben sich Musik und Sport bei ihm immer stärker. Nicht nur kann er
ohne seine Musikstücke nicht mehr joggen, muss er sich andererseits auch dem
Zwang der Musik unterwerfen. Er wird es gewahr, als er sich eines Tages in der
Einkaufszone befindet und bei einer Werbeveranstaltung zwei seiner Stamm-Stücke
über mehrere Lautsprecher ausgeschallt werden. Der Mann kann nicht anders, er
muss plötzlich laufen. Es ist ein Reflex. Er rennt. Mitten durch die
Menschenmengen, danach immer weiter, immer im Kreis, immer in dem Bereich, in
dem die Musik noch zu hören ist. Es ist ihm nicht möglich, dem Klang der
Lautsprecher zu entrinnen. Erst als die Musik abgeschaltet wird, kann er
einhalten. Doch fortan gerät er immer häufiger in dieselbe Situation. Er hört
Musik, und er muss rennen. Bis er den Zwang nicht mehr aushält und völlig
verzweifelt. Er versucht es mit einer ambulanten Psycho-Therapie, die ihm jedoch
nicht hilft. Er geht in eine geschlossene Anstalt und wird abermals therapiert.
Als er nach acht Wochen entlassen wird, gilt er als geheilt. Die Ärzte haben dem
Mann das Joggen und Musikhören abgewöhnt. Er betreibt nun eine andere Sportart:
Er schwimmt, ohne Musik, und ist somit gegen Wahrnehmungen in der
Öffentlichkeit gefeit. Ein Schwogger also. Oder ein Schwigger?
Um elf lag
ich wieder im Bett. Ich hatte die Geschichte im Kopf mitgenommen und war
aufgewühlter denn je. Konnte man so etwas schreiben? Jogger, Schwimmer, Musik,
und alles verschmolzen. Ja, man konnte. Durfte, sollte. Wenn man wollte.
Aber der Schluss, der gefiel mir nicht. Sollte ich nicht eine
auffälligere Pointe anlegen? Ich grübelte eine Weile, dann hakten sich meine Gedanken bei
Frau Stine-Pohl fest. Bei der Frage, ob und warum ich mich hatte überrumpeln
lassen. Zurück in die Firma. Es war wider meinen Willen. Und nicht auch wider
meine Natur?
Ich wurde mir nach einer halben Stunde des Grübelns bewusst,
ich verbat mir die Fortsetzung. Ich fand dennoch keinen Schlaf. Ich versuchte
mich mit Atem- und Konzentrationsübungen zu überlisten. Und ich lag um halb
eins immer noch wach. Dabei war es im Hof ruhig geworden. Die Tippelbrüder
waren abgezogen. Zu Tippelbrüdern auf einem anderen Hinterhof. Alle Mann in
dieser Sommernacht. Blumig, lau, dunstig und duftig. Vielleicht mit ein paar
Tippelschwestern. Das nämlich auch. Ich hätte schlafen können, vier, fünf oder sechs Stunden. Und
dann ab, einigermaßen ausgeschlafen, abgeklärt, aufgeräumt; mittags bist du an
der Küste. Kannst Fisch essen, auf dem Deich wandern, dich sonnen. Vielleicht
baden.
Mit Tineke.
Und sonst? Und wenn ich jetzt losfuhr? Raus aus der Kiste und rein in
die Kiste. Vom Bett ins Auto.
Dann würde ich es sicherlich bis zum Frühstück schaffen. Das
war noch schöner. Frühstück bei, mit Tineke. Ich würde sagen, ich hätte mir das
ja seit Langem gewünscht, das gemeinsame Frühstücken. Hatte ich ja auch.
Also fahr los, Erasmus Erster. Und der Hamster? Da die Variante Ich
lasse ihn bei den Tippelbrüdern, und er mutiert innerhalb von zwei Tagen
beziehungsweise Nächten zum Vollalkoholiker, worauf er wie sein Vorgänger
Peterchen Eins prompt verstirbt nicht in Frage kam, fiel mir nichts anderes
ein, als den Burschen mitzunehmen. Peterchen Zwo geht auf Reisen, lautete daher
der neue Beschluss. Im Auto, auf dem Rücksitz.
Eine für Peterchen Zwo angenehme Lösung, denn während der
Fahrt würde sich für ihn wenig ändern: Er befand sich weiterhin in seinem
Käfig, hatte sein Futter und seine Ausstattung, um ihn herum waren Licht und
Luft, und ab und an hörte er meine Stimme. Den Unterschied zum Standort Wohnung
machte nur die Bewegung des Autos aus. Das Fahren, Schaukeln und gelegentliche
Ruckeln. Ein paar vorbeifliegende Motorengeräusche. Ich hielt das nicht für
wesentlich, ich dachte: Wir Menschen befinden uns ja auch ständig in Bewegung,
ohne uns darüber Gedanken zu machen; wir stehen, gehen oder liegen auf dem
Erdball, der sich dauernd dreht und zudem noch um die Sonne kreist. Verfallen
wir deshalb in Panik?
Ich überlegte nun nicht weiter. Ich wollte fahren. Unbedingt,
gleich.
Na ja, nicht gleich. Erst mal zum Anwesen des Edward Erster,
dort stand der Hawk.
Ich stürmte los. Ich erwischte in der Station die letzte Bahn
der gelbblauen Linie und fuhr mit ihr in die Nähe von Edward Ersters Villa. Ich
entführte, ohne dass es die gestrenge Haushälterin merkte, den Hawk. Gegen zwei
Uhr erreichte ich mit dem Schlitten unseren Wohnblock. Ich holte den Koffer und
den Hamsterkäfig und stellte beides auf die Rückbank des Autos. Und eine halbe
Stunde später glitt ich bereits auf der Autobahn dahin. Wie ein Haifisch im
Weltmeer.
Tineke, ich komme, summte ich zu einer mir bis dahin unbekannten
Melodie. Peterchen Zwo arrangierte sich. Es gefiel ihm im Auto. Er
schnüffelte zunächst ganz allgemein den Geruch der Ledersitze in sich hinein
und wunderte sich im Speziellen über die schaukelnden Bewegungen, und spätestens
nach Erreichen der Autobahn hatte er sich an alle Änderungen gewöhnt und begann
mit seinen üblichen Beschäftigungen. Er rackerte in seinem Käfig, was das Zeug
hielt, und als nach einer Stunde das Morgenlicht durchbrach, kroch er in seine
Papp-Höhle und schlief.
Der
Schlaf steckte mich an. Zwei, drei Stunden weiter und auch ich gähnte
fürchterlich und kämpfte mit schwer werdenden Lidern gegen eine schier erdrückende
Müdigkeit. An einer Parkstelle stoppte ich den Hawk. Ich öffnete die Bord-Bar
und drückte den Button mit der Kaffeetasse. Eine friedvoll klingende
Frauenstimme meldete sich. „Guten Morgen, Herr Doktor Edward Erster. Sie haben
soeben eine Tasse Kaffee angefordert. Bitte haben Sie ein wenig Geduld, der
Auftrag ist in achtzehneinhalb Sekunden ausgeführt.“
Ich sah nicht auf die Uhr. Ich war trotzdem sicher, dass die
Zeitvorgabe eingehalten worden war, als die Stimme abermals ertönte. „Bitte,
Herr Doktor Erster, Ihr Kaffee ist abgefüllt. Er wurde nach der üblichen
Rezeptur hergestellt. Milch- und Zuckerzusatz sowie die Temperatur entsprechen
Ihren Standards. Falls Sie noch Appetit auf einen Snack haben, berühren Sie
bitte den Button neben dem Kaffezeichen.“
Nein, dachte ich, keinen Snack. Etwas Größeres aber? Es war, als hätte die Elektronik des Hawks meine Gedanken
erraten. Prompt vermeldete die Frauenstimme: „Sollten Sie eine umfangreichere
Mahlzeit bevorzugen, benutzen Sie bitte die Tastatur oder den Touchscreen unterhalb der dritten
Chromleiste. Bitte geben Sie die gewünschte Speise ein und halten Sie nach
siebeneinhalb Kilometern an dem nächsten Rastplatz an. Sie erhalten dort ein
Lunchpaket.“
Nein, ich wollte weder ein Lunchpaket noch einen Snack. Mir war
das System nicht geheuer. Ich begnügte mich mit dem Kaffee. Den trank, den
genoss ich. Ich lief mit dem Becher in der Hand um die gewaltige Karosse des
Silverhawks herum und brachte meinen Kreislauf auf höhere Touren.
Immerhin, ganz verzichten wollte ich auf die Luxusangebote
des Prachtautos doch nicht. Ich nahm mir das Verdeck vor. In dieser Sommernacht,
die allmählich in den Morgen des neuen Tages hineinwuchs, war es geradezu
Pflicht, den Hawk in ein Cabrio zu verwandeln. Ich dachte, es wird ein herrliches
Fahrgefühl ergeben, dieses Oben ohne;
und die frische Luft sollte mich auf jeden Fall wach halten.
Ich rief mir den Hinweis Edward Ersters in das Gedächtnis: Erst
die besagte Sperre lösen, danach den Finger auf den Button. Oder umgekehrt?
Oder die Service-Nummer anrufen ... Im selben Moment erklang aus einem der
Lautsprecher die Frauenstimme erneut: „Guten Morgen, Herr Doktor Erster, Sie
haben soeben das Rückklappen des Autoverdecks verfügt. Achtung, die Anweisung
wird nun ausgeführt. Das Verdeck ist in einer Minute und zwölf Sekunden
komplett zurückgefahren und in der Halterung arretiert.“
Ich sah auch jetzt nicht auf die Uhr, denn ich war wiederum sicher,
dass die Angabe stimmte. Die Frauenstimme meldete sich ja auch gleich noch mal.
„Bitte, Herr Doktor Erster, Ihre Anweisung ist nun umgesetzt. Sie können den
Wagen starten. Falls Sie bei der Ausführung weiterer Anweisungen Schwierigkeiten
oder falls Sie ansonsten Bedürfnisse haben sollten, können Sie gern die für Sie
bei uns eingerichtete persönliche Service-Nummer anrufen oder sich über die
Tastatur bei uns melden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in allen
Belangen rund um die Uhr für Sie da. Sollten Sie keine Fragen und Anliegen haben,
wünschen wir Ihnen eine angenehme Weiterfahrt.“ Ich starrte ziemlich lange in den Himmel, der sich auf einmal
so total unbegrenzt über mir ausbreitete. „Donnerwetter“, staunte ich. Gleich tauchte
auch Peterchen Zwo aus seiner Höhle auf. Er saß reglos in der Mitte des Käfigs
und schaute ebenfalls nach oben. Auch er schien unheimlich beeindruckt. Ich
sagte ihm: „Es ist alles OK, alter Junge; wir sind immer noch auf Kurs zur
Küste, immer noch unterwegs zu Tineke, nur haben wir jetzt frische Luft. Und
wenn du Probleme hast, dann gib mir Bescheid, dann rufe ich einfach die
Service-Nummer an. Die regeln alles. Auch für dich. Und sei es, dass du dir
eine kleine Hamsterin zur Gesellschaft wünschst.“ Peterchen Zwo war sichtlich beruhigt und verschwand wieder. Sicherlich
war ich inzwischen eine Art Leitfigur geworden. Edward Erster oder wer immer
den Hamster demnächst bekommen sollte, würde mich nach der Übernahme in dieser
Funktion ohne Schwierigkeiten ablösen können.
Ich fuhr
weiter, hinein in einen herrlichen Morgen, an dem mich aus dem Osten die
verheißenden Farbtöne des Morgenrots begleiteten und der vom Westen her
allmählich Wolken heraufziehen ließ. Regen? Wenn ja, hätte ich halten und das
Dach zurückfahren müssen.
Aber wie? Ich hatte mich nicht informiert, welcher Button zu
drücken und welche Sperre zu deaktivieren gewesen wäre.
Und die Service-Nummer?
Während der Fahrt nach der richtigen Tastenkombination oder
nach dem Zeichen auf dem Touchscreen zu suchen war zu gefährlich. Ich hätte
halten müssen. Pech gehabt, schon war ich am nächsten Parkplatz vorbeigesaust. „Es regnet ja gar nicht“, redete ich mir zu. Und richtig, da
kamen nur helle und lustig gekräuselte Wolken. „Die verziehen sich wieder, die
kommen doch jeden Morgen.“
Wirklich? Keineswegs. Sozusagen im Eiltempo bezog sich der
Himmel mit einer dichten, grauen Decke. Noch zwei oder vier Minuten, dann war es
schwarz. Als hätten wir Nacht. Oje, dachte ich, nun ist alles zu spät. Im
selben Moment klatschten die ersten dicken Regentropfen, aus denen sehr schnell
ein saftiger Schauer wurde, auf mich nieder. Ein Morgengewitter, in das ich mit
dem Silverhawk hineinstieß. Blitz und Donner und ein Regenguss zum Fürchten.
Und das dann bei geöffnetem Dach. Das Innere des Silverhawks wurde alsbald zur
Regentonne. Ich selbst zum Wassermann. Ich gab den Gedanken auf, am
Seitenstreifen zu halten und den Bord-Service um Hilfe zu ersuchen. Ich fuhr
tapfer fünfzehn Minuten, bis ich den nächsten Parkplatz ansteuern und die Tür
öffnen konnte. Das Wasser lief aus dem Wageninneren wie aus einer Wanne, aus
der man den Stöpsel gezogen hatte. Meine Kleidung klebte am Körper, die Schuhe
waren durchnässt. Auf den Lederbezügen der Sitze perlte das Wasser.
Ein magerer Trost, dass sich der Regen und die Wolken wieder
verzogen hatten. Die Sonne schien, sie stand rötlich rund am Horizont. Es
lohnte nicht, das Dach zurückzufahren und den Wagen zu verschließen. Ich tat es
trotzdem, schon wegen Peterchen Zwo, der sich wegen der Nässe mächtig beschwerte.
Er kam aus der Höhle und lief mehrmals quer durch den Käfig. Dabei schimpfte er
gewaltig.
Ich schimpfte ebenfalls. Nicht nur wegen der nassen Sachen
auf meinem Körper, sondern weil das Regenwasser sogar in meinen Koffer gelaufen
war. Die wenigen Kleidungsstücke, die ich mitgenommen hatte, waren feucht
geworden. Ich hatte nichts Trockenes, um mich umziehen zu können. Missmutig
stieg ich wieder hinter das Steuer und gab Gas. Bloß weiter. Und wenigstens die
Heizung einschalten. Nein, die Heizung funktionierte nicht, wahrscheinlich
hatte ich in meiner Aufregung die falschen Tasten bedient. Nicht nur
wahrscheinlich. Die Stimme meldete sich wieder. „Guten Morgen, Herr Doktor Erster,
Sie haben durch die Berührung mehrerer Buttons eine Anweisung ausgelöst, die
Ihr Bordcomputer nicht kennt. Bitte wählen Sie den richtigen Button, um den
gewünschten Schritt realisieren zu können. Oder wählen Sie mit Ihrem Handy die
Nummer unserer Service-Zentrale an. Dort bekommen Sie sofort Hilfe.“ Nein, ich mochte nicht anrufen. Ich mochte auch keinen
weiteren Versuch mit einem anderen Button unternehmen. Ich fuhr frierend und
frustriert. Ich dachte, es ist ja nicht mehr weit, es dauert ja nicht mehr
lange. Und als ich gar zu sehr fror, steuerte ich abermals einen Parkplatz an.
Ich machte dort Gymnastik, ich rannte um den Hawk und fand dabei doch nur wenig
Erwärmung. Ich blieb nass. Und kalt. Und so kam ich um sieben Uhr bei der Adresse an, die ich in
den Bord-Computer eingegeben hatte. Ein verwunschen wirkendes, weißes
Küstenhaus mit Schilfdach und bläulichen Fensterläden, das man vor hohen
Stockrosen, diversen Blüh-Stauden und allerlei Unkraut kaum sah. Eigentlich ein
Traum, vielleicht der Inbegriff von Romantik und Idylle.
Ich wusste nicht, ob mich Tineke von einem der Fenster aus
gesehen oder ob sie in der Tat so richtig innig auf mich gewartet hatte. Der
Empfang, den sie mir bereitete, war auf jeden Fall großartig. Auch das wie die
Szene aus einem romantischen Film. Ich war kaum aus dem Auto gestiegen und
hielt mich, frierend und erschöpft, an den wackligen Zaunlatten fest, da stand
sie gleich an der Gartentür. Sie sah gut aus. Super gut. Gebräuntes Gesicht,
gebräunte Arme, schlank, sportlich, frei. Entspannt. Sie trug ein helles Shirt
und knielange Shorts. An den Füßen hatte sie weiße Stoffschuhe. Sie lachte. Ich streckte ihr die rechte Hand entgegen. Sie
fasste nicht danach, sondern umarmte mich. Ich spürte die warme, glatte Wange
an meinem kalten Gesicht. „Ich freu mich so.“ Und sie bemerkte endlich, wie ich
fror. In meinen klammnassen Klamotten. Wie es mich fast schüttelte. Ausgekühlt.
Heiser. Schlapp. Sofort brachte sie ihren Mutterinstinkt in die Offensive. Gemischt
mit Symptomen von Rührung. „Dass du das auf dich genommen hast, in dem Zustand
herzukommen. Nur um mich zu treffen.“ Sie kroch ganz gekonnt mit der Schulter
unter meine linke Achsel und schaffte mich ins Haus. Ich versuchte zu erklären,
wie alles gekommen war. „Sei mal schön still und lass mich machen“, entgegnete
sie. Da saß ich schon am Küchentisch. Da hörte ich gleich auch aus einer Ecke
der Küche eine abgenutzte Frauenstimme fragen: „Ist er das, dein Schatz?“
Tineke nestelte an den Knöpfen meines Hemdes herum. Sie kicherte, und was sie
sagte, klang fast verlegen. „Oma, das ist Erasmus. Hab dir doch schon von ihm
erzählt. Flüchtig.“
Also die Oma, dachte ich, das ist die Person, von der dieser
Jonathan gesprochen hat. Die hockte da mit ihren mindestens zweiundachtzig
Jahren, alterig, falterig und krümmlich zwischen einem ollen Küchenschrank und
dem noch olleren Kanonenofen auf einem total ollen Holzstuhl. Die knulpigen
Hände auf dem Schoß gefaltet. „Er sieht krank und schlecht ernährt aus, dein
Liebster“, nörgelte sie dickköpfig und unhöflich, „so richtig wie einer aus der
Stadt. Wie einer, der nicht arbeitet.“
Tineke ließ jetzt von meinen Knöpfen ab. „Er sieht nicht
krank aus, weil er nicht arbeitet,
sondern er arbeitet viel zu viel, und darum sieht er krank aus. Genau darum,
Oma.“ Tinekes Stimme war laut und fest. Schon, weil die Oma nicht so gut hörte.
Akustisch und auch sonst. Und nicht minder fest zog sie nun mit einem Ruck das
Hemd aus meiner Hose und streifte es mit erstaunlichem Geschick von meinem
Körper. Sie hielt es ein Stück von sich weg und sah mich scharf an, dabei sagte
sie in Richtung Großmutter: „Muss ja überhaupt erst mal gucken, ob er mein Liebster werden kann.“
Die Oma ging nicht auf Tinekes Bemerkung ein. Sie grätzelte
weiter. „Arbeitet er auf’m Büro oder im Laden? Am Bau oder in der Backstube
werden sie ihn je wohl kaum nehmen. Oder gar auf’m Fischerei-Kutter; dafür
sieht er zu schmallich aus.“
Tineke kicherte nun wieder. „Er ist selbständig, Oma. Als
Schriftsteller. Hab ich dir doch längst erzählt. Und schmallich ist er schon mal gar nicht.“
„Weiß schon“, hechelte die Alte schwach und doch garstig. „Man
brotlos. Mit Büchern verdient ja keiner was.“
„Abwarten“, widersprach Tineke. „Er hat ja ein tolles Buch
geschrieben. Hab’s dir doch vorgelesen. Damit muss er einfach was verdienen.“
Sie sah mich bedeutungsvoll, ernst jetzt wieder, an. Und zuversichtlich. Dann
nickte sie und griff nach meinem Unterhemd, das, hätte ich es anbehalten, auf jeden
Fall in einer Stunde am Körper getrocknet gewesen wäre.
Was für ein Kompliment, dachte ich, ein tolles Buch. Und was
für eine Vertrautheit. Ich hob beide Hände und legte sie um ihre Hüften. Sie
gab einen Lacher von sich. „Von wegen!, gleich intim werden“, sagte sie amüsiert.
„Erst Aussprache, dann Antrag und schließlich abwarten, ob einen die Dame des
Herzens erhört. So einen erkrankten, klitschnassen, unbekannten Schriftsteller.
Das kann sie sich eigentlich nicht vorstellen, dass der ihr Liebster werden könnte.“
Ich ließ die Hände sinken und wollte aufstehen.
Da sagte sie resolut: „Oben kannst du deine Pfötchen schon
lassen. OK? Wie soll ich dir sonst die Sachen vom Leibe ziehen?“ Sie schubste
mich auf den Stuhl zurück und bemächtigte sich des Unterhemdes. Danach
verschwand sie mit den nassen Sachen. Da saß ich also ohne Unterhemd und mit freiem Oberkörper in
der alten Küche ihrer alten Oma.
Ich wartete, wurde beguckt, beschwiegen. Belächelt.
Gleich kam Tineke zurück. „Die Hose solltest du ja wohl auch
zum Trocken hergeben“, befahl sie. Es klang wieder amüsiert, mit einem Kichern
untersetzt. „Allerdings ziehst du dieselben schön selbst aus!“ Sie bedachte
mich mit einem hämischen Seitenblick, der sogleich zu der Alten weiterwanderte.
„Ich gehe derweil zu deinem Schlitten und hole deinen Koffer. Musst schließlich
trockene Sachen haben.“ Ich schüttelte erschrocken den Kopf. „Nix trockene
Sachen. Koffer undicht. Vom Regen völlig durchnässt.“ Sie wollte trotzdem
gehen. Ich sprang auf. „Im Auto ist noch was, bitte erschrick nicht.“
Sie verzog das Gesicht. „Eine fremde Frau vielleicht? Blond,
mit langen, leicht behaarten Beinen und gruselig verrauchter Cocktail-Stimme?“
„Ein Hamster, er heißt Peterchen Zwo und steckt in seinem
Käfig“, entgegnete ich hilflos. „Ich konnte den armen Kerl ja nicht allein zu
Hause lassen.“
Sie stöhnte laut. „Also noch schlimmer als eine Blondine.
Aber immerhin zeigt es, dass du ein gutes Herz hast.“ Sie schaute zur Oma und
fragte unnatürlich laut: „Oma? Erasmus hat seinen Hamster mitgebracht. Samt
Käfig. Wo können wir den unterbringen?“
Das Gesicht der alten Frau hellte sich unversehens auf. „Endlich
wieder ein Haustier. Na, wohin wohl mit ihm? In den Stall. Dahin, wo früher die
Ziege stand.“
Tineke nickte. „Na siehst du, bei uns kriegt jeder sein trockenes
Plätzchen. Und ich wäre dir dankbar, wenn du dieses Protz-Auto ebenfalls in den
Stall schaffst. Es wird gerade so reinpassen. Wenn das nämlich vor der Tür
stehen bleibt, dann werden uns die Leute, die vorbei kommen, für neureich halten.
Und das muss nicht sein.“
Folge 7 vom 4. April. 2020
Tineke hatte meine Kleidung in einen Wäschekorb
gestapelt. „Ich könnte alles auf die Leine hängen“, bot sie an. „Bei dem Wind,
den wir haben, und bei der schönen Sonne ist das Zeug in einer Stunde trocken.“
Sie sah mich fragend an. „Ich könnte allerdings deine gesamte Garderobe auch erst
mal in die Maschine tun, alles richtig auskochen und nach dem Trocknen bügeln. Das
wäre vermutlich die beste Tat an diesem Vormittag im Umkreis von mindestens dreiunddreißig
Kilometern.“ Ich saß, nur in eine Decke
gehüllt, immer noch mitten in der Küche, und ich fragte: „Meinst du, deine Oma wird
mich in meinem jetzigen Outfit noch eine Weile ertragen?“ Sie lachte und brachte aus einem
großen Schrank ein Wäschepäckchen. „Wir frühstücken gleich, danach kriegst du
ein heißes Körnerkissen auf den Bauch und schläfst bis Mittag.“
Das Wäschepaket bestand aus in
einem auffällig gestreiften Zweiteiler mit breiter Knopfleiste und Umschlägen
an den Beinenden, eine Mischung aus Schlaf- und Hausanzug, der vor drei oder
vier Jahren – vielleicht auch vor sieben oder fünfzehn – in Bekleidungshäusern,
die inzwischen bei gleich bleibendem Warenangebot als Kostümverleihen
fungierten, gehandelt worden sein mochte. Ich schlüpfte hinein. „Hat mit diesem
supermodischen Anzug schon mal jemand in dieser Küche gesessen? Oder womöglich
ohne?“, fragte ich mühsam amüsiert und sicherlich auch etwas eifersüchtig.
Tineke schwieg zunächst,
schließlich erwiderte sie bissig: „Das ist ein Schlafanzug, den hab ich extra
angeschafft, weil hier ständig solche Existenzen wie du auftauchen. Solche
Nassköpfe, die nur eine Garnitur Wechsel-Unterwäsche besitzen. Pro Jahr drei
und mehr. Mit einem Hamster ist allerdings noch keiner dabei gewesen. Meistens
bringen sie Bären und Raubkatzen mit. Oder Schlangen und dressierte
Kampf-Skorpione. Einer kam sogar mal mit einem Elch an. Er war noch nicht mal
ausgewachsen, trotzdem passte er erst nicht in die Küche. Wir haben alle
Stellvarianten ausprobiert, ihn drei Stunden lang hin und her geschoben. Dann
haben wir ihn so hin bugsiert, dass er mit dem Hinterteil in der offenen Tür
stand und der Kopf durchs Fenster nach draußen ragte. Samt Geweih. Das ging
grade so.“
Danach schwieg sie. Sie stand am
Herd und wandte mir den Rücken zu. Sie briet Eier für das Frühstück, die sie
auf Toast-Scheiben legte. Für mich, für sie selbst und für die Großmutter. „Kannst
mal der Oma helfen, an den Tisch zu kommen“, sagte sie, ohne sich zu mir
umzudrehen. Es klang ungehalten, immer noch bissig. Wegen meiner Bemerkung über
den Schlafanzug. Und deren mutmaßliche Träger.
Ich wagte keine Antwort. Ich erhob
mich und reichte der Großmutter meinen Arm. Sie zog sich jedoch selbst hoch,
sie stand. Und als ich sie am Arm fassen und zum Tisch führen wollte,
schüttelte sie mich trotzig ab. „Kann ja wohl noch selbst rollen“, fauchte sie.
Rollen? Tineke unterdrückte ein Kichern.
Auch eine Erklärung.
„Laufen“, verbesserte sich die
Oma, während sie losschlurfte. Sie murmelte etwas, das ich nicht verstand. Ich staunte. Ich stand. Ich
glotzte. „Kannst gefälligst schon mal den
Kaffee auf den Tisch stellen“, ordnete Tineke an. Sie drehte sich soweit um,
auf dass sie mich aus den Augenwinkeln sehen konnte. „Bisschen Bewegung hat
noch keinem geschadet.“
Ich gehorchte prompt. Ich stellte
die Kaffeekanne auf den Tisch, goss die Tassen voll, nahm auch die Kaffeemilch
aus dem Kühlschrank. „Kannst auch schon die Toaste hinstellen“, befahl Tineke.
„Und die beiden Scheiben für meine Oma schneidest du bitte durch. Einmal längs
und einmal quer.“ Sie sah mich nicht an. Sie wurde aber milder. „Eigentlich ist
das hier nicht üblich, Spiegeleier schon zum Frühstück. Es ist ein bisschen
wegen dir, weil du so abgekämpft aussiehst. Und noch mehr ist es wegen
Clements.“ Sie zögerte kurz, sie sagte dann energisch: „Und du brauchst
Clements nicht für einen halten, der schon mal in diesem herrlichen Schlafanzug
gesteckt hat. Clements ist unser Frischwaren-Lieferant aus der Nachbarschaft.
Er bringt Kartoffeln, Gemüse und Obst. Und Eier. Teils aus eigenem Anbau und
von eigenen Hühnern. Er hat gestern Abend einfach zehn Eier mehr vor die Tür gestellt,
als wir bestellt hatten. Na ja, zurückschaffen wollte ich sie auch nicht. Nun
bist ja du gekommen.“ Clements, dachte ich, den werde
ich mir mal anschauen. Ansonsten gehorchte ich. Ich setzte mich an den Tisch,
viertelte die Toast-Scheiben für Tinekes Großmutter.
Tineke kam nun. Sie stellte
frische Erdbeeren, Haferflocken und Leinsamen auf den Tisch. Honig, Gelee und
etwas Käse.
„Danke“, sagte ich, „es ist ein
schönes Frühstück. Sehr schön sogar.“ Sie lächelte endlich, sie sah
plötzlich verschmitzt aus. Sie kicherte sogar und fragte: „Ist es womöglich das
schönste Frühstück deines Lebens?“
„Auf jeden Fall“, erwiderte ich.
„Es ist ein Frühstück wie in einem Märchen. Ich weiß nur nicht mehr, welches.“ Die Oma meldete sich. „Das Märchen
von den Ofenfischern.“
Ich staunte und glotzte wieder.
Sie merkte, dass sie ein falsches
Wort benutzt hatte. Sie schimpfte unverständlich vor sich hin. Tineke beruhigte sie. „Ist nicht
so schlimm, Oma, wir wissen ja, was du meinst.“
„Welches Märchen meint sie denn?“,
fragte ich.
„Sie meint das Märchen –.“ Tineke
kam nicht weiter. Welches Märchen. Sie dachte nach. Sie sagte kurzerhand: „Der Froschkönig.“
„Kann ich mich gar nicht dran
erinnern, dass dort gefrühstückt wird. Zu dritt“, wandte ich ein.
„Und wenn schon“, erwiderte sie.
„Das schönste Frühstück des Lebens ist auf jeden Fall noch schöner als das
Frühstück in irgendeinem Märchen. Märchen sind ja bekanntlich niemals wahr.
Schönste Frühstücke hingegen schon.“
Ich nickte. Aber ich sagte dann
doch: „Von den Ofenfischern an sich hat man ja bisher wenig gehört oder gesehen.
Wahrscheinlich, weil sie nur hier leben. In dieser Region. Wird denn öfter im
Regionalprogramm über ihre Bräuche und ihre Geschichte berichtet?“
Tineke schüttelte entschieden den
Kopf. „Was denkst du. Die Leute würden erschrecken, wenn diese haarigen Gnome
auf den Bildschirmen auftauchten. Sie sind so was von hässlich. Kannst du dir
nicht vorstellen. Sie wissen es auch selbst und leben deshalb weit draußen im
Watt. In kleinen Kolonien. Sie schotten sich dort total ab. Wenn man sich ihnen
auf zwei Kilometer nähert, graben sie sich mit ihren riesigen schwarzen Zähnen
und den schaufelförmigen Händen ein. Wer sich trotzdem näher an sie heranwagt,
den beschmeißen sie mit Schlamm. Oder sie bespucken ihn. Ihre Spucke ist wie
Salzsäure. Sie gibt echt Brandwunden auf der Haut. Und wenn sie eine Kamera oder
ein Mikrofon treffen, sind die meistens hin. Du hast also keine Chance, dich
ihnen zu nähern. Eher wird es möglich sein, einen Yeti zu filmen als einen
echten Ofenfischer.“ Sie sah mich an, danach die Oma. Sie fragte laut:
„Schmeckt’s?“
Die Oma nickte, nun auch sie. „Wacker.“
Tineke seufzte. „Es nennt sich Wernicke-Aphasie, worunter sie leidet. Eine
Sprachstörung. Sie meint das Richtige, kann jedoch aus dem Gehirn nur ein
falsches Wort oder sogar einen ganzen falschen Satz abrufen. Meistens merkt sie
es, manchmal nicht. Oder sie findet das passende Wort einfach nicht. Dann kann
sie ärgerlich werden. Es ist von einem Schlaganfall zurückgeblieben, den sie
vor zwei Jahren hatte. Drei Tage nach dem Achtzigsten ist es passiert. Und
manches andere geht seitdem auch nicht mehr so flott.“
Ich erhielt die Anweisung, mich hinzulegen. Müde,
erschöpft, etwas verwirrt. Und am Rande einer Erkältung. Aber auch glücklich. Das
war mein Zustand an diesem Morgen. Trotz guten Frühstücks. „Im Wohnzimmer steht
die Schlafcouch, da nimmst du bis Mittag Quartier. Bettzeug habe ich vorhin
schon für dich ausgerollt.“ Sie blickte wieder unumschränkt freundlich. Auf
mich. „Wenn man das schönste Frühstück seines Lebens genossen hat, sollte man
sich hinterher unbedingt hinlegen und vier Stunden schlafen. Oder dreieinhalb. Dann
wird man sich sein Leben lang daran erinnern. Und wenn man besonderes Glück
hat, erlebt man gleich auch den schönsten Vormittag seines Lebens.“ Mit dir würde ich ihn erleben. Auf
der Schlafcouch.
Ich wagte das nicht zu sagen. Kaum
zu denken wagte ich es.
Ich gehorchte ihrer Anweisung. Ich
kroch auf jene Couch, die im Wohnzimmer stand. Die hellen Betttücher rochen
mild und frisch. Durch das offene Fenster hörte ich das Rauschen des Meeres.
„Die Flut ist im Anrollen“, erklärte mir Tineke. Sie stand neben meiner Bettstatt.
Sehnsucht und Bergehren, das löste ihr Anblick bei mir aus. Ich sah mit
gierigen Augen von unten zu ihr hinauf. Der schönste Vormittag deines Lebens.
Unseres Lebens. Ich dachte das jetzt. Mit, wegen ihr. Sie durchleuchtete meine Gedanken
wie ein greller Lichtstrahl einen finsteren Keller. „Was du jetzt denkst, mein
Lieber, solltest du besser nicht denken oder es wenigstens für dich behalten“,
sagte sie absichtlich kühl. Doch gleich lächelte sie: „Es sei denn, du
überlegst, was wir zu Mittag essen wollen.“
Ich schloss die Augen. Und ich
sagte: „Wie wär’s mit Fisch? Dafür sind wir nun mal an der Küste.“
Gleich darauf schlief ich.
Traumlos, tief, fest. Dreieinhalb Stunden, wie es sich für den schönsten
Vormittag des Lebens gehörte. Als ich erwachte, röchelte ich etwas und musste
durch den Mund atmen, weil die Nase verstopft war. Woher bekam ich ein
Taschentuch? Ich erhob mich, um Tineke zu fragen. Tineke war nicht da. Die
Wäscheleine, dachte ich. Da müssten, so sie meine Sachen durch die Maschine
getrommelt hatte, mindestens zweieinhalb Tücher hängen.
Ich ging in den Garten. Tatsächlich,
die Wäscheleine, die Taschentücher. Wind und Sonne hatten dem Stoff ausgesprochen
gut getan. Ich griff zu. Ich schnaubte, und hinter mir kicherte es. Die Oma saß
auf einer Bank im Sonnenschein. Die Brille auf der Nase, die Tageszeitung im
Schoß. Und guter Dinge. Sie rückte ein Stück zur Seite, und als ich neben ihr
saß, nestelte sie prompt an dem Schlafanzug. „Na“, fragte ich spitz, „wer hat
den wohl zuletzt getragen?“ Sie blinzelte hinter der Brille, dann hob sie bedeutungsvoll
beide Hände und bog Finger um Finger nach vorn und ihr Mund bewegte sich einige
Male tonlos, ehe sie dann die halbwegs passenden Worte fand. „Also: ein großer
Rothaariger, ein hübscher Blonder mit dicken Schultern, ein schlanker Schwarzer
im weißen Dress“, sie musste Luft holen, um ihren Kopf gewaltig anzustrengen.
Da beschloss ich, ihr das Nachdenken zu erleichtern. Ich redete dazwischen:
„Und war nicht auch ein kleiner Krummbeiniger mit Glatze dabei und ein Grauhaariger
mit Buckel und ein Hinkender mit zwei Köpfen, der so fürchterlich nach Mist
gestunken hat?“
Sie kicherte listig: „Na, so weit koche
ich noch nicht. Erst will ich mal alle Hünen aufsagen, bevor ich die
Schmallichen vertell. Solche, die zu dir passen.“ Sie schwieg und grübelte, um
endlich zum Schluss zu kommen und mir ordentlich den Kopf zu waschen. Auf ihre
mühsam nette Art. Mit ihren Mitteln: „Die Tine, das ist ein gutes Mädel. Mein
Sonnenschein. Die hat bis heute noch keinen ins Haus gebracht, mit dem was wäre.
Keinen Riesen und keinen Schmallichen. Das heißt, den einen Schmallichen denn
doch. Der kam heute.“ Sie seufzte müde und schloss die Augen und sie wisperte aufgeregt
und beruhigt zugleich: „Deinen Schlafanzug, den hat sie bei einer Tombola
gewonnen. Da hat sie mitgemacht, weil es für eine gute Sache war.“ Dann nickte
sie ein bisschen ein. Ich drückte ihre gefalteten Hände, die ungleich und hart
waren wie große Kartoffeln, und ging ins Haus. Tineke war inzwischen gekommen.
Sie stand am Herd und machte sich mit Topf und Pfanne zu schaffen. „Siehst so
verquollen aus“, sagte sie. Ich schnaubte in das Taschentuch, so dass es durch
das Haus röhrte. „Altes Nebelhorn“, stichelte sie. „Geh mal ins Bad und mach
dich frisch. Und danach wieder ab in den Garten. Schöner Sonnenplatz neben der
alten Henriette. Tisch decken und gute Laune haben.“ Als ich wieder draußen war,
schmeichelte ich der Alten. „Schönen Namen haben Sie. Henriette. Gar nicht so wie
Gertrud oder Berta. Oder am Ende noch Käthe oder Else. Henriette ist ja sogar heutzutage
modern.“ Sie ging nicht darauf ein, sondern
erwiderte: „Schönes Buchdings hast du gemacht, Jungchen. Tine hat’s mir vorgeschrieben.
Nur das eine Ding, das ist völlig daneben. Da diese Hinrichtung, dieses
Sizilanien.“ Sie schloss die Augen wieder, und als sie merkte, dass ich mich
entfernen wollte, legte sie die rechte Hand auf meinen Oberschenkel. „Bliew man
hie.“ Na gut, dachte ich, alte Leute, das verstehen die eben nicht, wie es
woanders ist. Auf Sizilien; dieses feurige Ehrgebaren, die alltägliche Kriminalität,
das ineinander verwobene Leben der Familien, der Zusammenhalt der Clans. Das
Gegeneinander, zu dem halt auch ein organisierter Mord gehören muss, weil sich
die Verhältnisse mitunter nicht entwirren lassen. Im Film, in Büchern. In
meinem Manuskript. Nicht nur wegen des Alters, sondern weil sie wahrscheinlich
höchstens mal Urlaub im Mittelgebirge gemacht hatte. Sie erwachte erst wieder, als
Tineke mit dem Tablett kam. „Draußen essen ist was Wunderbares. Noch dazu, wenn
sich die Gäste Fisch gewünscht haben.“
Nach dem Essen wanderten wir auf der Deichpromenade.
Ich hatte meine Sachen zurückbekommen, trocken und gebügelt. Luftig. Ich fühlte
mich besser, gar nicht mehr erkältet. Tineke hakte sich in meinen Arm. Wir
waren wie ein Paar, ein glückliches nämlich. Wir wehrten uns gemeinsam gegen
den Wind, der heftig über den Deich brauste. Wir redeten. Über das Meer, über
die Küste. Über das Klima.
Über uns? Nein, sie wich dem Thema aus. Erst
später, als wir einen geschützten Platz gefunden hatten und nebeneinander
saßen, immer noch Arm in Arm, die Sonnenstrahlen auf den Gesichtern, löste sich
ihre Blockade. „Ich frage mich inzwischen, ob ich nicht doch hier in der Klinik
hätte anfangen sollen. Zwanzig Kilometer von zu Hause. Wo es in Berlin mit der
Arbeit längst nicht mehr so läuft, wie ich’s gern hätte. Verschlechtert hätte
ich mich hier auch nicht mehr.“ Ihre Miene verfinsterte sich. „In der Station, in
der ich seit vorigem Monat bin, fühle ich mich total eingeengt. Ich kann mich nicht
entfalten. Die Stationsärztin gibt mir ständig irgendwelche Aufgaben, die eher
eine Krankenschwester zu leisten hätte. Spritzen aufziehen, Infusionen
vorbereiten, lauter Kinderkram. Und wenn Behandlungen sind, will sie dabeisitzen.
Und das nicht mal aus Bosheit oder Schikane. Sie ist so eine Übermutter, die es
zu gut mit mir meint. Das volle Gegenteil von Oberarzt Kurz. Der Chef der
vorigen Station, den alle heimlich Kurz-Franzl nennen. Bei dem durfte ich schon
lange selbständig arbeiten.“
Sie hing mit den Gedanken diesem
Oberarzt Kurz nach.
„Kannst du nicht zurück? Oder in
eine andere Station?“
„Vorläufig nicht. Als
Allgemeinmediziner musst du in der Facharztausbildung alle Bereiche durchlaufen
haben. Das ist einfach Voraussetzung. Sonst kriegst du den Abschluss nicht, und
du kannst nicht auf den kranken Teil der Menschheit losgelassen werden.“
„Und du findest das verkehrt? Meinst
du, jeder, der sich selbst für geeignet hält, sollte gleich als Fachkraft
loslegen?“
„Ach Erasmus“, sagte sie. Es klang
ein bisschen leidend. „Natürlich meine ich das nicht. Ich spreche ja nur für
mich. Ich möchte eben vorwärts kommen. Nicht stillstehen. Schon gar nicht Sachen
durchexerzieren, die ich absolut kann. Deshalb sage ich das. Es kribbelt. In
mir. In meinen Fingern. Im Kopf.“ Sie straffte sich. „Andererseits habe ich
beschlossen, mich nicht einfach so in die Ecke stellen zu lassen. Auch nicht,
wenn’s gut gemeint ist. Wir hatten kürzlich eine Aussprache. Chefarzt,
Klinikleitung, diese Übermutter und ich. Ich habe denen klipp und klar gesagt,
was ich von einer Facharztausbildung erwarte. Selbständigkeit, Herausforderungen,
Verantwortung. Und Fortschritte. Kann sein, ich habe alles noch schlimmer
gemacht, aber wenigstens fühle ich mich seitdem erleichtert.“ Sie sah wieder
freundlich aus. „Und im Übrigen sollte ich versuchen, netter zu dir sein. Ich
glaube, ich war manchmal ziemlich krötig. Und du kannst ja nichts für diese
Misere.“ Ich bewunderte sie. So schmal und schmächtig
sie äußerlich wirkte, war sie in Wirklichkeit eine starke Frau. Ich widersprach
daher. „Ich fand dich niemals krötig.“ Sie bedankte sich. Sie sagte:
„Jedes Übel hat auch eine gute Seite. Nun kann ich mich endlich ein paar Tage
um meine Henriette kümmern. Gemeinsam mit dir. Weißt du, meine Großmutter war
immer für mich da. Vor allem nach der Scheidung meiner Eltern. Ohne ihre
Unterstützung hätte ich kein Abitur machen können. Das Medizinstudium, das
immer mein Traum war, schon gar nicht.“ Sie sah mich an, sie seufzte. „Ich
erzähle nur von mir. Und du kommst fast gar nicht zu Wort.“
„Bei mir ist es ähnlich. Auf
andere Weise“, entgegnete ich. „Ich stehe vor wesentlichen Entscheidungen. Ich
könnte in ein paar Wochen auf meine frühere Stelle zurück. In meine Firma. Ich
würde sogar das gleiche Gehalt kriegen und hätte prima Aufstiegsmöglichkeiten. Das
Arbeitsklima ist OK, keine Furien, kaum Karrieristen. Keine Übermütter, nicht
wirklich. Ich weiß nur nicht, ob ich das will. Diesen Job. Offen gestanden,
weiß ich auch insgesamt nicht, was ich will. Ich weiß nur, dass ich in deiner
Nähe bleiben möchte.“ Für die nächsten Sekunden war es
still, nicht mal der Wind rauschte. Ich fühlte, dass sie ein Stück an mich
heranrückte. „Was du da sagst. Ach, Erasmus.“
Ich schaute sie an. Sie sah
glücklich aus. Beglückt.
„War das falsch, was ich gesagt
habe?“, fragte ich dennoch.
Da kam sie mit ihrem Gesicht näher
und küsste mich. Ein zarter, sanfter Kuss mit weichen Lippen, von dem man sich
wünscht, er möge für unendlich anhalten. Oder jemand möge befehlen, jenen Film,
in dem man sich gerade befindet, auszublenden; das Happyend sei gewesen, weiter
ginge es nicht.
Nein, dieser Kuss hielt nicht
unendlich an, die Szene, der Film lief weiter.
„Erasmus, mein Lieber“, sagte sie,
„nichts war falsch. Im Gegenteil, das klingt so schön, wie du das sagst. Nur wird
es nicht funktionieren. Bei diesen Voraussetzungen. Du möchtest im Grunde gar
nicht in deinen geregelten Job zurück. Du willst Schriftsteller sein. Das ist
dein gutes Recht, das ist der Traum deines Lebens. Ich finde es, wenn ich mal
deine materielle und soziale Armut abziehe, sogar bewundernswert, wie
konsequent du bist. Und ich wünsche dir wirklich von Herzen, dass du dein Ziel
erreichst. Aber es ist nicht richtig, dein Leben mit dem meinen so plötzlich
verbinden zu wollen. Wo bei mir alles im Argen liegt. Beruflich, zu Hause. Ich brauche
erst Klarheit. Und wir kennen wir uns ja kaum.“
Sie wollte aufstehen. Ich hielt
sie fest und protestierte. „Deshalb bin ich ja hergekommen. Damit wir uns
kennen lernen.“ Sie ließ sich zurückfallen, sie saß noch dichter neben mir, und
sie kroch tief in meinen Arm. Sie sagte: „Ja, das stimmt, deshalb bist du
gekommen, und deshalb habe ich dich eingeladen. Das wird schon. Kennen lernen. Das
auf jeden Fall.“ Sie strahlte. „Ich bin total zuversichtlich. Und für das
andere werde ich schon die richtige Entscheidung treffen. Falls ich diese
Übermutter nicht abschütteln kann, werde ich mal so richtig ausgiebig die
Skalpelle wetzen. Bildlich gesprochen. Dann lässt sie vielleicht allein von mir
ab.“
Folge 8 vom 5./6. April. 2020
Am späten Nachmittag saß ich mit der
Henriette im Garten. Wir hatten unser Plätzchen auf der Terrasse. Die Sonnenstrahlen
hatten während des Tages die Hauswand und den Boden erwärmt. Die Steine
strahlten jetzt die Wärme ab. Eine angenehme Stunde, die sinkende Sonne schien
noch milde auf die Zeitung mit dem Kreuzworträtsel, das ich gemeinsam mit der
Henriette bezwingen wollte.
Das Rätseln war
gar nicht so leicht. Für die Henriette. Ich las die Fragen vor. Sie grübelte angestrengt,
dafür meist vergeblich, obwohl sie irgendwie wusste, wonach gefragt war, den
Begriff aber nicht nennen konnte. Wernicke-Aphasie, hatte Tineke gesagt. Sie
tat mir leid, dieses alte Muttchen, wie sie da mühselig und fast verbissen
ihren Kopf anstrengte. Sie schimpfte, also begann ich, die Lösungen zu soufflieren.
Ich machte es so, auf dass sie meinte, die gesuchten Begriffe selbst
herausgefunden zu haben. Da strahlte sie, da war sie zufrieden; und ich
strahlte mit, und auch ich war zufrieden.
Nach einer Weile
wurde es zu anstrengend. Vielleicht zu langweilig. Für die Henriette. Sie gähnte,
sie tätschelte ein bisschen meine Hand. Dankbarkeit, Verbundenheit. Und nicht
lange, da war sie eingenickt. Ich nahm die Gelegenheit wahr, mich des Daseins jenes
mir befohlenen Hamsters, zu vergewissern. Ich schlich hinter das Häuschen, zum
Stall. Ein Blick in den Käfig, und siehe, Peterchen Zwo war zunächst nicht zu
finden. Erst nachdem ich ihn gerufen hatte, kam er vorsichtig schnuppernd aus
der Höhle gehuscht. Er schnüffelte etwa sieben Mal sehr interessiert in meine
Richtung, dann verschwand er wieder in dem Bau aus Pappe, wobei er das dicke
Salatblatt, das ich ihm vorsichtshalber mitgebracht hatte, gleich mitgehen
ließ. Diese Hamsterei, dachte ich, wie bei manchen Menschen.
Die Henriette, als
ich zu ihr zurückkam, schlief noch. Ich setzte mich leise neben sie und schloss
ebenfalls die Augen. Ich war völlig entspannt, ich begriff, ich hatte seit
Stunden weder an Edward Erster noch an Frau Stine-Pohl und nicht mal an den
Termin auf Brücke sieben im Autobahnabschnitt 52 gedacht. Nicht mal Tinekes
Sorgen waren aufgetaucht. Musste es mir da nicht gutgegangen sein, gutgehen?
Der Spaziergang
auf dem Deich, dachte ich, unser Gespräch, das hatte geholfen. Die Ruhe, die
Ereignislosigkeit. Es war alles so entspannend, hier. Tineke kam. Sie
hatte in der Küche gearbeitet. Sie trug eine Schürze, wie sie der Softi in
ihrer WeGe getragen hatte. Jonathan. Nur, dass sie ihr besser stand. Viel
besser. Sie sah sehr froh aus. „Es war gut, dass wir uns so ausgiebig und so
offen unterhalten haben. Wenn ich hier bin, an der Küste, bei meiner Henriette,
fühle ich mich einfach gut. Ganz anders als in der Großstadt. Sie fasste mit
den Händen zum Rücken und band ihre Schürze auf. „Und nachdem ich dir mein Herz
ausgeschüttet habe, ist es sowieso viel besser. Ich spüre, dass ich übern Berg
bin, ich kann alles auf mich zukommen lassen.“
Ich zwinkerte.
„Mich auch?“
„Bist ja schon
da.“ Sie zog sich die Halsschlaufe der Schürze über den Kopf, und legte ihre
Hand auf die linke Körperseite, auf die Stelle Herz. „Schon angekommen bist du.
Hier drin.“ Sie schloss andächtig die Augen und sie sah glücklich aus. Sie
sagte: „Und nun weckst du mal die Dame neben dir, und ihr kommt zusammen rein.
Abendbrot.“
Sie verschwand im
Haus. Ich tippte die Henriette an. „Unsere Nachmittagsschicht ist beendet, Frau
Nachbarin.“ Die Henriette lachte und erhob sich, ohne dass ich ihr helfen
musste. Sie beeilte sich, ins Haus zu kommen. Mit jedem Schritt wurde sie
schneller. „Wie gut das runzelt“, schwärmte sie, als sie in der Küche stand und
den Duft des frisch gebackenen Brotes einatmete.
„Es runzelt nicht,
Oma, sondern es riecht, es duftet“, verbesserte Tineke sie.
Es war egal, wie
man es ausdrückte. Es roch phantastisch, und es sah appetitlich aus. Der Tisch
war fast festlich gedeckt. Gemüse und Käse. Und eben das frische Brot. Dunkel
und deftig. Tineke sagte: „Ich hab den alten Backofen angeheizt und eine
Fertigmischung reingeschoben. Vollkornmehl. Es passt so gut hierher. Und es ist
auch wegen dir. Ich wollte dir eine Freude machen.“ Ich atmete ganz tief. Noch
tiefer als eben noch die Henriette. Nicht nur wegen des Backduftes. Ich hatte
das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Tineke. Ich tat es nicht. Wegen der
Henriette. Vielleicht noch mehr, weil ich noch etwas würde warten müssen.
Anstandsfrist. Aber es war nur knapp davor, dass ich es nicht tat.
Wir saßen zu dritt am Tisch. Es gab
einen Kräutertee und das frische Brot, die Sonne sandte rötliche Abendstrahlen,
sie fielen direkt auf Tinekes Gesicht. „Das bringt Glück“, sagte ich. „Und wenn
man es dann noch schafft, eine zweite und dritte Tasse Kräutertee zu trinken,
ist es nachher sogar das schönste Abendbrot des ganzen Lebens.“ Tineke lachte.
„Soso, und welches Märchen passt dazu?“
„Mit Märchen
kennen sich sowieso nur Großmütter aus“, sagte ich.
Wir sahen die Henriette
an. Sie war mit dem Essen beschäftigt. Daher sagte Tineke: „Großmütter müssen
sich nicht unbedingt mit Märchen auskennen. Sie kommen vielmehr in Märchen vor.
Sie kämpfen darin gegen Wölfe. Sie schneiden ihnen die Bäuche auf. Oder sie
prügeln sie mit Mauersteinen, bis sie ohnmächtig werden.“
„Sie erzählen
sowas, damit ihre kleinen Enkelmädchen Interesse an der Chirurgie bekommen und
nachher Medizin studieren. Sie sollen gute Allgemeinärztinnen oder auch Anästhesistinnen
werden“, ergänzte ich. Tineke lachte
abermals, jetzt laut. „Wenn man es so betrachtet, hätte ich eher Veterinärmedizinerin
werden sollen. Da würde ich bestimmt schon eine eigene Praxis als Tierärztin betreiben.
Schildkröten und Frösche kurieren. Und die vielen Schafe auf dem Deich, die nachts
blöken, weil sie unter Schlaflosigkeit leiden.“ Sie sah fröhlich aus. Sie goss
Kräutertee ein. Für mich, für sich selbst. Es war die zweite Tasse für jeden.
„Komm“, forderte sie mich und sich selbst auf. „Trinken, es muss unbedingt das
schönste Abendessen unseres Lebens werden.“
Die Henriette hatte einen fest
geregelten Tagesablauf. „Sie muss um acht Uhr abends die Nachrichten sehen“,
sagte Tineke. „Sie will ganz genau wissen, was auf der Welt passiert. Danach
kommt ein Quiz oder ein harmloser Krimi oder eine Theaterkomödie. Um zehn geht
sie schlafen. Ich eigentlich auch.“ Sie sah mich fragend an.
Ich zuckte mit den
Achseln. „Ich? Ich bin sowieso müde. Hab ja nur die paar Stunden heute
Vormittag geschlafen. Musst mir nur sagen, wo mein Schlafplatz sein soll.“
Tineke wiegte
unentschlossen den Kopf. „Du kannst wieder auf die Couch im Wohnzimmer, oder
wir pusten dir eine Luftmatratze auf und du kommst zu uns.“
Ich wusste nicht
genau, wie ich das verstehen sollte: zu
uns.
„Es ist so“, erklärte
sie, „ich schlafe zurzeit mit meiner Oma im Ehebett. Sie hat sich das so sehr
gewünscht. Die Betten stehen allerdings nicht direkt nebeneinander. Ein Nachttisch
trennt uns.“ Sie blinzelte. „Da bin ich in ihrer Nähe, wir können vor dem
Einschlafen reden oder ich lese ihr was vor. Deine Bücher. Das macht sie sehr froh.“
Tineke lächelte. „Und wenn du willst, legen wir die Luftmatratze neben das
Bett, und somit bist du nicht allein, sondern wir sind zu dritt.“ Sie kicherte.
„Du kannst dir sogar aussuchen, auf wessen Seite du liegst. Auf meiner oder auf
der von der Henriette.“
Ich breitete die Luftmatratze an der
Seite aus, auf der Tineke schlief. Das bedurfte ja keiner Erwähnung. Wenngleich
das Liegen auf der Luftmatratze nicht eben einer Verheißung gleichkam. Ich lag zunächst
zu hart, weil die Matratze zu straff aufgepustet war. Ich ließ daher Luft ab.
Danach spürte ich den blanken Boden unter meinem Körper. Es war, als läge ich
auf einem Bettvorleger. Ich pustete erneut, und es wurde besser. Tineke amüsierte
sich. Sie kam aus dem Bad. Sie war in einem kurzbeinigen, luftigen Schlafanzug.
Sie kletterte, als ich da mit dem Ventil am Mund auf dem Boden saß, über mich
hinweg in ihr Bett. Ich ließ die Matratze nach unten fallen und starrte sie
unwillkürlich an. Sie zischte: „Ferkel.“ Aber es klang eher amüsiert als
boshaft.
Die Henriette lag
bereits auf ihrer Seite. Still und andächtig mutete das an. Als würde sie
beten. Für einen sanften Tod? Oder für einen schönen neuen Tag. Morgen.
Tineke erriet
meine Gedanken. „Ja, sie betet, und sie lauscht zum offenen Fenster hin.
Draußen passiert so viel, was ein jüngerer Mensch gar nicht beachtet. Das Abendgezwitscher
der Vögel, das Rauschen des Windes. Und das Hochwasser ist auch bald wieder da.
Die Flut.“
Eine Weile blieb
es ganz still. Wir versuchten ebenfalls die Geräusche jenseits der Stille zu
erfassen. Doch es war nicht viel. Ein paar letzte Möwenschreie, nachher ein
Motorrad und das Signalhorn eines fernen Schiffes. Immerhin der Wind. Er
rüttelte am Fensterladen. Mal schwach, mal heftig. „Klingt ja schauerlich“,
sagte Tineke vorsichtig. „Als ob jemand draußen ist. Hab ich an den vorigen
Abenden gar nicht so wahrgenommen.“ Und als ob sie es heraufbeschworen hätte,
fuhr ein besonders derber Windstoß gegen das Haus und ließ den Laden scheppern
wie den ganzen Abend noch nicht. „Auweia“, stieß Tineke hervor, doch die Oma
beschwichtigte sanft: „Ist nur der Blechsplitt. Und wenn doch Ausbrecher da
sind, haben wir ja nun ein Mannsbild im Kalt.“
Wir lachten. Wegen
der Verwechslungen. „Haus ist nicht kalt“, erklärte Tineke.
Und ich protestierte:
„Wenn hier sieben Räuber kommen, um uns zu massakrieren, wird das sogar für
mich schwierig.“ Tineke schaute über die Bettkante zu mir herunter. „Du wirst
doch wohl mit sieben kleinen Räubern fertig werden.“
Prompt meldete
sich auch die Henriette wieder, sie wiegelte mit einem nicht erwarteten
Argument ab: „Wir sind hier nicht auf Siziliarien, Herr Schriftsteller, wo wir die
Leute in der Nacht feierlich hinrichten. Mit der Gegenwart der Polizei. Und
andere schreiben ein Drama davon.“ Wie gut sie auf einmal reden konnte. Nur mit
kleinen Fehlern. War es nicht ein Zeichen, dass sie den Inhalt des Manuskripts
genau kannte und sich damit auseinandergesetzt hatte?
Tineke warf sich
auf ihr Kissen zurück. „Ach Erasmus, mit dieser Passage hast du ja reichlich
dick aufgetragen. Auch wenn’s ansonsten richtig spannend ist, aber das liest
sich irgendwie total unrealistisch.“ Sie schwieg, ich ebenfalls, so dass sie
sich schließlich erneut über die Bettkante beugte, um zu mir herunterzuschauen.
„Du bist aber nicht beleidigt, weil ich das jetzt gesagt habe? Du, ansonsten
hast du ein tolles Buch geschrieben. Ich war begeistert. Und Henriette auch.
Stimmt doch, Henriette?“ Da keine Antwort kam, beugte sie den Kopf wieder
zurück und schaute zur Großmutter. Ein säuselndes Geräusch erklang. Eine
Mischung zwischen lautem Atmen und Schnarchen. „Sie ist eingeschlafen“, bestätigte
Tineke. „Das geht dann immer ganz schnell, und meistens hält es auch bis zum
frühen Morgen an. Bis auf kleinere Pausen. Nur wenn ich ihr was aus deinem Buch
vorgelesen habe, abends, ist sie munter geblieben. Mit riesigen Ohren.“ Ihr
Kopf und ein Teil des Oberkörpers lugten jetzt weiter als vordem über die
Bettkante. Ich konnte es erkennen, weil von draußen immer noch Helligkeit ins
Zimmer drang. Weil ich immer
noch nichts sagte, tastete Tineke mit einer Hand nach meinem Gesicht. „Bitte Erasmus,
sei doch nicht brummig.“ Ich fasste vorsichtig nach der Hand und erwiderte
flüsternd: „Ich bin nicht brummig und nicht beleidigt. Als Autor muss man
darauf gefasst sein, dass einen die Leser kritisieren. Sonst sollte man nichts
veröffentlichen. Aber die Szene, in der die Hinrichtung vorkommt, hatte ich für
besonders gelungen gehalten. Für den Höhepunkt des Buches.“
Tineke atmete
schwer. „Hast du sonst keine Leser? Keine Kritiker?“
Ich dachte an Edward
Erster und an Frau Stine-Pohl. Von dem einen wusste ich, dass er so gut wie
niemals ein Buch las, und der anderen, dieser rationalen Vorgesetzten, traute
ich kein wirklich kompetentes Werturteil zu.
„Nein“, erwiderte
ich also. Es war wieder
Schweigen für einige Sekunden. Nicht nur Schweigen, sondern Stille. Nur das
leichte Atemrasseln der Henriette war zu hören. Selbst der Wind hatte für
Augenblicke nachgelassen. Da fragte Tineke: „Kann ich dich um was bitten?“ Da
ich mit der Antwort zögerte, fuhr sie einfach fort: „Kannst du morgen mal was
machen, dass dieser blöde Fensterladen nicht mehr so sehr klappert?“
Sicher, das konnte
ich, das würde ich. Ich sagte es, und dann fragte ich sie, ob sie nicht zu mir
kommen wollte, herunter, auf meine Luftmatratze. Sie kicherte leise. Und sie
flüsterte: „Dacht ich’s mir doch, dass du was planst. Dass du mich verführen
willst. Du Schuft.“ Dann glitt sie fast geräuschlos über die Bettkante und lag
neben mir.
Sie blieb ganz
lange. Mindestens bis um halb vier. Ich sah auf die Uhr, dann auf ihre nackten
Beine, die soeben hinter der Bettkante verschwanden. „Tinchen“, sagte die
Henriette verschlafen und mit ausgedörrter Stimme, „liebes Kind.“ Und dann
setzte wieder das rasselnde Schnarch-Atmen ein. Ich dachte genau dieselben
Worte, aber viel intensiver und voller Glück. Und nachdem ihre Hand noch einmal
zu mir herab getaucht war, um meinen Kopf zu streicheln, schlief ich innerhalb
weniger Sekunden ein.
Um sechs Uhr war es fast unwirklich hell
im Schlafzimmer. Das Tageslicht war mit einer Intensität gekommen, die es bei
uns in der Stadt nie geben würde, am wenigsten im Umfeld meiner
Hinterhofwohnung. Ich setzte mich auf und stellte fest, dass die Fensterläden
offen standen und die Fensterflügel weit aufgeklappt waren. Tineke lag nicht
mehr im Bett. Die Henriette jedoch war da, sie lag wach. Sie hatte die Hände
ineinander gegraben und bewegte tonlos die Lippen. Sie betete, ganz bestimmt.
Ich kroch von der Luftmatratze, ging in die Küche und ins Bad. Von hier konnte
ich durch ein kleines Fenster sehen, dass sich im Garten ein paar hohe Pflanzen
bewegten. Der Verdacht, den ich hatte, bestätigte sich, nachdem ich hinausgegangen
war und nachschaute: Tineke. Sie machte sich in einem Beet zu schaffen. Blumen
pflückte sie, dabei war sie noch in ihrem kurzbeinigen Schlafanzug. Ich grüßte
leise und verliebt und sie erwiderte, ohne sich umzudrehen. Als hätte sie mich
längst bemerkt. „Ich suche einen Strauß zusammen, für den Frühstückstisch.
Solange hier noch nicht alles verwildert ist.“ Sie richtete sich auf und
streckte mir die Blumen, die sie bereits geschnitten hatte, entgegen. Es sah
bunt aus und lebendig.
„Schön. So schön wie
du“, sagte ich.
„Mehr fällt dir
dazu nicht ein?“, stichelte sie.
Ich dachte an ein
Lied, das ich von einer Platte aus der Sammlung meines Vaters kannte. Ich sang leise den Text.
Butterfly, red, white and blue You love flowers, I love you.
Sie lächelte. „Kann es sein, dass ich
das Stück schon mal gehört habe? Von einer Platte aus meiner wunderbaren Sammlung?“
Ich zuckte mit den Achseln, und ich sah etwas wehmütig aus. Die
Plattensammlung, jaja.
Sie versprach:
„Wenn ich demnächst nach Berlin zurück muss, kriegst du die Scheiben wieder. Alle.
Und diese mit dem schönen Lied lege ich oben drauf, damit du sie gleich findest
und sie immerzu hören kannst. You love
flowers, I love you. Und das Geld will ich sowieso nicht wiederhaben. Oder hast
du das tatsächlich jemals gedacht?“ Ja, nein, ich
wusste es nicht. Ich wusste nicht mal, ob ich die Platten wiederhaben wollte.
Nicht wegen des Geldes, das ich vielleicht hätte zurückzahlen sollen, sondern
wegen der Vergangenheit. Mein Vater, meine Mutter, mein Onkel. Meine Kindheit,
meine Jugend. Wer hat nicht irgendwann mal das Bedürfnis, alles abzuschütteln?
Die Henriette machte sich bereits im
Bad zu schaffen, als wir wieder im Haus waren. Die Tür des Badezimmers war nur
angelehnt. „Das macht sie immer. Weil sie meint, es könnte ihr etwas zustoßen
und sie Hilfe braucht.“ Tineke zeigte auf meine Kleidungsstücke, die sie
ordentlich zusammengefaltet hatte. „Zieh dich mal an und fahr zum Bäcker. Zu
diesem herrlichen Morgen passt nicht nur das schöne Lied, sondern auch was
Schönes zu essen.“ Ich holte das alte
Fahrrad, das im Stall stand und trällerte dem Hamster einen Morgengruß zu. Er
erwiderte ihn, indem er seine Schnute durch das Drahtgeflecht steckte und in meine
Richtung schnüffelte. Er lebt, dachte ich, welch ein Glück. Ich bestieg das
Fahrrad und trat tüchtig ins Pedal. Brötchen, Brot und etwas Kuchen. Für
gleich, für später. Als ich zurück war,
hatte Tineke den Tisch gedeckt. Die Henriette saß erwartungsvoll auf ihrem
Stammplatz. Es roch nach frischem Kaffee. Wir frühstückten in einer
Vertrautheit, als gehörten wir schon ewig zusammen. So zu dritt.
Es war gemütlich
und unterhaltsam. Ganz sicher wäre ich gern noch sitzen geblieben. Auch die
Henriette. Aber Tineke sagte: „So richtig faul wollten wir den Tag nun auch
nicht herumbringen, oder?“ Ich wusste nicht, was sie meinte. Einen Spaziergang auf
dem Deich? Mit einem neuerlichen ausgiebigen Gespräch? Nein, es ging in eine
andere Richtung. Sie fragte vielmehr: „Fühlst du dich fit genug, um im Garten
zu helfen? Hast ja selbst gesehen, wie das Unkraut wuchert. Ich hätte so gern
den Vorgarten etwas gejätet. Es macht keinen guten Eindruck.“
Ich bemühte mich,
nicht zu murren. Mir ging der Slogan durch den Kopf „Für dich tu ich alles“.
Ich überlegte, ob es wirklich etwas geben würde, das ich für sie nicht getan hätte.
Nein, mir fiel nichts ein. Ich hätte mich allein ganz weit ins Watt gewagt und
es todesmutig mit den Ofenfischern aufgenommen, oder ich wäre mit dem
Schlauchboot von hier aus in Richtung Nordpol gerudert.
Irgendwann wäre
ich gar auf eine Eisscholle umgestiegen ...
Und das andere, das
Treffen an Brücke sieben des Autobahnabschnitts 52? Hätte ich den Mut gehabt, um
Tinekes Willen nicht zum Fernreisebahnhof zu gehen und somit den geheimen
Termin nicht wahrzunehmen?
Ich hatte keine
Antwort.
Ungeachtet dieser
Unklarheit hatte sich die Wartezeit inzwischen weiter verkürzt. Um drei Tage. Noch
dreieinhalb Wochen sollte es dauern, bis ich den Fernreisebahnhof der
Hauptstadt betreten würde. Und obwohl es mich kolossal drängte, Tineke von dem
Treffen zu erzählen, ihre Meinung zu erfahren, musste ich doch tiefes
Stillschweigen bewahren. Was für eine Marter.
Meine Gedanken erfuhren keine
Fortsetzung, die Fragen keine Antworten. Der Garten rief. Nein, der Vorgarten,
und auch hier nur der Bereich, der unmittelbar an den Zaun zur Straßenseite
grenzte. Diese fürchterlich hohen Wildstauden wollten gestutzt und gelichtet,
das hartnäckig sich ausbreitende Unkraut gerodet und die vom Unwuchs befreiten Flächen
erst mal richtig umgegraben, gewässert und geharkt werden. Nein, ich schaffte
nicht alles. Das nicht. Aber es war genug, um Tinekes Augen leuchten zu lassen
und auch die Henriette in befreiender Zufriedenheit zu wiegen.
Die nächtlich
rappelnden Fensterläden harrten meines Einsatzes schließlich ebenso. Der
Spezialauftrag mit schlafschonender Wirkung für die Nacht. Die Henriette,
während sie mich beim Festschrauben der Halterung von ihrer Bank beobachtete,
mutmaßte spitz: „Über die sieben sizilianischen Landräuber werden wir dann vor
dem Einschlafen wohl nicht singen. Sind gebannt jetzt.“ Sie kicherte froh und
schloss gleich die Augen. Ein Nickerchen. Und die Sonne schickte warme Strahlen
auf ihre knittrige Haut.
„Schön, wie du das
alles gemacht hast“, lobte Tineke. „Wie ein echter Handwerker.“ Sie kündigte
an, da es für die Aussaat von Kartoffeln zu spät sei, auf dem gerodeten Teil
des Vorgartens Blumenbeete anzulegen, Spätblüher. Studentinnen-Blumen, Astern,
vielleicht sogar Dahlien. „Die könnten noch vor dem Herbst blühen.“ Und in
einer Ecke auch Rettich und Sellerie. Sellerie? Sie lächelte verstohlen, als
ich sie fragend anschaute. „Weißt du nicht, welche Wirkung man dem Sellerie
nachsagt?“ Ich lächelte mit und
kommentierte den Sellerie nicht. Nur ihre Gartenlust, die nannte ich „Agrarambition“. Tineke sah
glücklich aus. Vielleicht stellte sie sich das an diesem Vormittag vor: sie und
ich und die Henriette in dem Küstenhaus, bei Gartenarbeit und Deichwanderungen.
Frische Seeluft und frisches Gemüse. Rettich und vor allem Sellerie. Herrlich
bunte Blumen. Frieden und Zufriedenheit. Sie sagte aber nichts davon. Es mochte
zu viel Idylle sein, zu viel Erträumtes.
Folge 9 vom 08. April. 2020
Die Tage gingen dahin. Aufregend und
im Gleichmaß in einem. Wir säuberten den Vorgarten komplett, Tineke legte ihre
Beete an. Das Eckchen mit Sellerie. Ich reparierte einige schadhafte Stellen am
Zaun, reinigte die Dachrinnen an dem Häuschen und richtete den Stall, in dem
der Hamster weiterhin ein zufriedenes, obschon sehr unbeachtetes Dasein führte,
wieder her. Es war nicht ausgeschlossen, dass hier demnächst Tiere einzogen.
Keine Ziege, kein Schaf, nein, womöglich ein paar Hühner, vielleicht eine
Weihnachtsgans. Weihnachten,
wie weit lag das vor uns? Nicht mal mehr ein halbes Jahr.
Wir sprachen
auch über den hinteren Teil des Gartens. „Nein“, entschied Tineke, das ist
Acker. Der ist verwildert, da muss Nachbar Clements kommen. Mit seinem
Traktor.“
Clements, ach
ja, der Lieferant von selbst angebauten Erzeugnissen. Eiermann. Konnte man Eier
anbauen?
Immer wieder
summte und sang ich dieses Lied You love
flowers, I love you. Und immer, wenn sie in meiner Nähe war und es hörte, sang
sie mit, und wir sahen uns in die Augen. Tineke. Es war wieder der mittelmäßige
Film, mit seinem kitschigen Inhalt, in dem man in den Tag hinein lebt und
alles, was einen in Widersprüche verwickeln konnte und was Ängste und Sorgen
schafft, verdrängt, ignoriert, besiegt. Beseitigt, zumindest temporär. Die
Firma, der Job, den ich in dieser Land- und Liebesidylle aufs Spiel zu setzen
drohte. Der mir zusehends egal war. Selbst der Termin an Brücke sieben, der mit
jedem Tag unserer Zeitlosigkeit, in der Nur-Gegenwart, näher rückte. In solchen
Filmen, in denen sich alle Probleme im Feuer der heißen Liebe auflösten, ging
das eben.
Ohne es mir
einzugestehen richtete ich mich auf das geruhsame Leben ein. Ich hätte es jetzt
fast darauf ankommen lassen, alles aus den Händen zu geben, was eine andere,
eine abhängige Existenz ausmachte. Einen Job, wie ich ihn wohl nie wieder
angeboten bekommen würde. Selbst die Konsequenzen, die sich aus dem Verzicht
auf das Treffen an Brücke sieben ergeben mussten. Auch sie.
Tineke hatte
sicherlich dieselben Anwandlungen realistischer Wahrnehmung. Nach mehr als
einer Woche sagte sie nachdenklich: „Bevor ich in dieser unergründlichen
Romanze ganz dahinschmelze, will ich halt doch mal erst in die Stadt zurück.
Mein Urlaub geht zu Ende, und Jonathan kann ich sowieso nicht so lange allein
lassen.“ Ihr Entschluss war für mich, als würde am Nachttisch der Wecker
klingeln und mich aus dem schönsten aller Träume reißen.
Egal, dass ich
schon eine Weile halbwach gelegen hatte.
„Vielleicht kommst
du mit und bringst auch einiges in Ordnung? Mit deinem Job, mit der Wohnung.
Vor allem solltest du wieder schreiben. Ein Schriftsteller, wenn er am Tag
profane Garten- oder sonstige Arbeit verrichtet, muss die Nacht hindurch
Geschichten und Romane schreiben, bis die Finger schmerzen und die Augen
entzündet sind.“
Ich rieb mir
die Stirn, denn ich hatte auch noch eine ganz andere Sorge: „Und deine
Großmutter, wer kümmert sich um sie, wenn wir in Berlin sind?“
Tineke umarmte
mich spontan. Sie war gerührt. „Schön, dass du so mitfühlend an meine Henriette
denkst. Das zeigt, dass du auch das Potenzial eines treu sorgenden
Familienvaters hast.“ Sie beruhigte mich zugleich. „Denk mal an das
Obergeschoss.“ Sie ging mit mir zum Eingang des Hauses und zeigte im Flur auf
die Treppe. „Hast du dich nie gefragt, wohin sie führt?“ Sie wartete keine
Antwort ab. „Oben befindet sich eine kleine Wohnung. Früher hatte meine
Henriette dort noch Feriengäste. Aber seit einigen Jahren ist die Wohnung fest
vermietet gewesen. An zwei Frauen. Eine von ihnen hat einen Pflegedienst
gegründet. Sie heißt Dominique. Sie hat sich um Henriette gekümmert, morgens
und abends mal geguckt und ihr dieses und jenes geholfen. Dafür konnte sie hier
mit ihrer Freundin umsonst wohnen. Die beiden trennen sich. Dominique hat was
Größeres gemietet, wo sie sich ein Büro einrichtet. Ihre Freundin will weiter
oberhalb der Küste ein Café eröffnen. Es ist der übernächste Ort. Bis wir
wieder eine passende Mieterin gefunden haben, kommt Dominique öfter, um nach
der Henriette zu gucken.“ Ich seufzte und
erlebte am nächsten Tag die Rückkehr der beiden Frauen. Zwei Mitteljunge. Recht
rustikal und nicht eben exemplarisch weiblich. Tineke bestätigte mir, als wir
ein paar Stunden später im Silverhawk bereits zurück in die Hauptstadt düsten,
dass sie zusammen lebten, als Paar. Gelebt hatten. „Kann sein, dass sie sogar
verheiratet sind. Oder waren. Dass sie sich jetzt scheiden lassen wie bei einer
Ehe aus Mann und Frau“, sagte sie. „Aber dagegen hat unsereins keine Vorurteile.
Oder?“
Nein, ich hatte
keine. Ich hatte die zwei, als wir, das Verdeck aufgeklappt, die Sonnenstrahlen
auf den Gesichtern, den Käfig mit dem Hamster auf dem Rücksitz, im Silverhawk
saßen und zurück in das reale Leben der Großstadt fuhren, schon wieder
vergessen.
Was war dieses reale Leben? Es kam
mir wie ein Leben vor, aus dem ich vor unendlich weit zurückliegender Zeit
ausgeschieden war. Dabei hatte sich in den wenigen Tagen meiner Abwesenheit
nichts verändert. Nicht auf den Straßen der Stadt und nicht in meinem
Hinterhof, wo die Tippelbrüder am Mittag noch im Treppenschlag des Hausflurs
schliefen, um für die Gelage der nächsten Nacht ausgeruht und trinkdurstig zu
sein; und schon gar nicht in meiner Wohnung, wo es muffig roch und Schatten und
Finsternis unerschütterbar verharrten wie am Nord- und Südpol vorläufig noch
das ewige Eis.
Peterchen Zwo
nahm die vertraute Witterung sofort auf. Ihm gefiel es hier, er fühlte sich
heimisch. Er arbeitete, er rannte und schleppte dieses und jenes umher, verschwand
damit in seiner Papphöhle und kam wieder hervor. Hatte das etwas auf sich? Was?
Es gab
wichtigere Beobachtungen, Erkenntnisse, Fragen für mich. Sie hingen mit den
zwei Briefen zusammen, die in meinem wackligen Postkasten steckten. Einmal war
es Edward Erster, der sich mit einer sehr, sehr dünnen Sendung meldete. Ich
erkannte ihn als Absender, obwohl er keinen solchen auf den Umschlag
geschrieben hatte. Den oder die Absender des anderen Briefes hätte ich
ebenfalls ohne den Aufdruck, den der Umschlag allerdings doch aufwies, erkannt.
Es war mein Arbeitgeber. Meine Arbeitgeberin. Welchen Brief
sollte ich zuerst lesen? Ich hatte bei beiden ein leicht mulmiges Gefühl. Daher
wollte ich Peterchen Zwo entscheiden lassen. Kam er in den nächsten zehn
Sekunden nicht aus seiner Höhle, wäre es der Brief von Edward Erster gewesen.
Ansonsten der andere. Peterchen Zwo kam sofort. Trotzdem hielt ich mich nicht
an die Abmachung mit mir. Ich las den Brief meiner Firma.
Es war kein
richtiger Brief, nur die Mitteilung, ich solle mich nochmals zu einem
persönlichen Gespräch einfinden. Bei Frau Stine-Pohl. Ich schaute auf das
angegebene Datum und die Uhrzeit und stellte fest: Es ist knapp. Ich hatte noch
nicht mal eine Stunde Zeit, um mich in der Personalabteilung einzufinden.
Glück gehabt,
oder? Einen Tag später und der Termin wäre geplatzt. Und dann? Ich sauste los
und steckte den Brief von Edward Erster ungelesen ein. Ich vergaß gar, dass es
ihn gab. Es lag an der Aufregung. Oder war es eine Art Verheißung, die ich in
dem Termin in der Firma sah? Würde mir die Firmenleitung mit einem „Nein, wir
können und wollen Sie doch nicht einstellen“ die Entscheidung abnehmen. Nicht
abnehmen, sondern manifestieren. Ich hatte mich doch entschieden: Du wirst
Schriftsteller, Erasmus; das ist deine Berufung.
Frau Stine-Pohl empfing mich gewohnt
gelassen-freundlich. Ob diese Miene nur dienstliche Distanziertheit bedeutete
oder ob die Dame infolge der Manuskript-Lektüre eine gewisse Sympathie für mich
entwickelt hatte, vermochte ich nicht zu erkennen. Ich dachte kurz, wenn du dir
jetzt etwas wünschen könntest, dann wäre das ein Lob: „So, Herr Erster, wir (!)
haben Ihr Manuskript komplett gelesen und finden den Inhalt großartig, fast
genial. Es wäre unverantwortlich, wenn Sie angesichts Ihrer enormen Begabung
bei uns als normaler Mitarbeiter, selbst in der gehobenen Leitungsebene,
arbeiten würden. Das wäre ein Verlust für die gesamte europäische Kulturszene.
Wir bieten Ihnen vielmehr ein ansprechendes Stipendium an, damit Sie Ihr Buch
in Ruhe abschließen und veröffentlichen und an Ihrem nächsten Werk schon
vorausarbeiten können. Wir befristen das zunächst auf ein Jahr, und es ist uns
ganz egal, wo Sie Ihren Wohnsitz nehmen.“ Mit einem solchen Spruch wäre vieles
gelöst gewesen. Das Finanzielle, das Zeitliche. Ich hätte mir gegenüber
lediglich die moralische Komponente kompensieren müssen: „Mit der Armut und dem
Durchbeißen ist es allerdings vorbei.“ Nun, ich hatte
keine Zeit, darüber nachzudenken. Egal, wie ausgesprochen zuversichtlich mich der
Gedanke an eine derartige Offerte aussehen lassen musste. Und Frau Stine-Pohl
bestätigte es prompt. „Schön, dass Sie sich so gut erholt haben und so voller
Optimismus herkommen, Herr Erster. Hoffen wir, dass das bis zu Ihrem
Dienstantritt so bleibt. Und vor allem danach. Es gibt viel Arbeit. Sehr viel
Arbeit, um genau zu sein.“ Ihre Miene wurde ernster, doch eine distanzierte
Freundlichkeit blieb. Sie reichte mir den Umschlag, in dem mein Manuskript
steckte. „Da werden Sie dann wohl keine Zeit mehr für Nebenbeschäftigungen
haben, wenn Sie wieder für uns arbeiten. Auch nicht fürs Schreiben.“ Ich griff
zu und drückte das, was mein erstes Buch werden sollte, an mich. Der Umschlag
mit dem Manuskript. Ich versuchte, nicht verwirrt und nicht enttäuscht, vor allem
nicht neugierig, auszusehen. Ich wollte mir keine Blöße geben. Frau Stine-Pohl
lächelte kühl und abgeklärt, und sie wirkte ein wenig verärgert und nunmehr so
ganz von oben herab. „Was meinen Sie, Herr Erster, wie viele Leute sich schon
mit dem Schreiben versucht haben. Und wie viele es immer noch versuchen.
Versuchen. Die meisten nehmen ja nicht mal so viel auf sich wie Sie. Ein Jahr
pausieren, keine Einkünfte. Askese.“ Ihre Miene drückte jetzt sachliche
Anerkennung aus. „Und das Schwerste ist es dann, sich das Unvermögen
einzugestehen. Ein Stümper zu sein. Sie haben das ja geschafft. Glückwunsch und
erst mal Auf Wiedersehen.“ Sie reichte mir die Hand. „Ich bin, wenn Sie in
Kürze Ihre Arbeit hier aufnehmen, im Urlaub. In den USA. Wir sehen uns also erst
mal eine Weile nicht.“ Mir war, als
ich anschließend im Flur stand, nach mindestens drei großen Flaschen Bier
zumute. Zur Tröstung, zur Betäubung, zur Besänftigung. Oder zum Sterben. Nein,
das nun nicht gerade. Aber ein Gespräch mit Tineke, zur Herzausschüttung dieser
jüngsten Erfahrung, schien mir unausweichlich. Und richtig, prompt piepte mein
Handy, und es zeigte eine Message von ihr an: Können wir uns bitte gleich treffen? In deiner Wohnung? Ich fühlte
einen Schauer am Rücken. Ein klassischer Fall von Gedankenübertragung. Gab es
so etwas nicht nur, wenn zwei Menschen unerhört verliebt ineinander waren? Ja, simste ich zurück, bin in einer halben Stunde da. Und ich brannte darauf, alsbald
reden zu können und ein bisschen getröstet zu werden.
Folge 10 vom 09. April. 2020
Es kam jedoch völlig anders. Tineke sah
blass und völlig verwirrt aus, sie zitterte. Sie warf sich in meine Arme und
weinte. Ich sah diese Stationsärztin vor mir. Die Übermutter. Was hatte sie meiner
Liebsten angetan? Halt, Tineke hatte ja gar keinen Kontakt zu ihr gehabt. Sie
war in der WeGe gewesen. Also hatte ihr Kummer nicht mit ihr zu tun. Mit wem
dann? Jonathan. Der Kerl mit der Latzschürze. Hatte er ihr eine Szene gemacht? Womöglich,
weil sie ihm von unseren schönen Tagen an der See erzählt hatte. Ich ballte die
Fäuste. Diese exemplarische Ausgabe von einem Weichei. „Soll ich in die WeGe
fahren und diesen Jonathan aufmischen?“ Tineke löste sich
von mir. Sie sah mich verständnislos an und zog einen Umschlag aus dem Hosenbund.
„Lies das mal. Das ist jetzt das Problem, nicht Jonathan. Jonathan, den schätzt
du, glaube ich, sowieso ganz falsch ein. Über den können, müssen wir mal bei
Gelegenheit reden.“
Ich faltete einen
Briefbogen auseinander. Er stammte von der Leitung des Großklinikums. Groß,
nicht nur, was die Ausmaße anging, sondern groß vom Ansehen her. Groß in den
Aufgaben und Entscheidungen. In den Erfolgen.
Die Leitung teilte
Tineke mit, man hätte nach dem kürzlich geführten Gespräch die Beurteilungen
ihrer bisherigen Arbeitsabschnitte geprüft und ihre Arbeitsergebnisse für sehr
anerkennenswert befunden. Es sei nun vorgesehen, sie kurzfristig in die
Chirurgische Zentralklinik des Großklinikums umzusetzen. Professor Kurz, der
neue Chefarzt, habe für sie eine besondere Stelle eingerichtet.
Noch während ich
las, sagte Tineke: „Damit hatte ich am aller wenigsten gerechnet. Professor
Kurz, das ist der, von dem ich dir erzählt habe. Kurz-Franzl, der Oberarzt, der
mich immer gefördert hat. Demnach ist er jetzt Chefarzt, Donnerwetter, wirklich
eine Kapazität.“ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Und sie sah blass aus
und geschafft. Fassungslos. „Wenn ich bei ihm arbeite, werde ich in allen
Fachbereichen eingesetzt und spare mir die Wanderungen durch die einzelnen
Stationen. Und ich kann unheimlich viel lernen.“ Ich sagte: „Dann
war es also richtig, dass du neulich mal Gas gegeben hast. In diesem Gespräch.
Es hat geholfen.“ Ich lachte, wir umarmten uns spontan. Sie lachte auf einmal
auch, dann aber weinte sie erneut.
„Warum weinst du?“
Ich fragte das, obwohl ich ahnte oder sogar wusste, dass es um ihre Großmutter
ging.
Sie sagte es ja:
„Es ist wegen meiner Henriette. Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch mal so
eine Mieterin wie Dominique finden. Eine, die sich dann um meine Henriette kümmert.
Es würde mich in der Seele schmerzen, wenn ich hier arbeite und wohne, und sie ist
so allein und hilflos. Ich müsste dauernd an sie denken. Und ich hätte ein
schlechtes Gewissen.“ Sie sah mich an, aus Augen, die in Tränen schwammen. Ich seufzte, ich
dachte, es ist alles total verfahren. Nicht nur bei ihr.
Ich starrte auf
den Umschlag mit dem Manuskript, den ich zusammen mit meinen
Einstellungspapieren auf den Tisch geworfen hatte. In meinem Kopf dröhnten jene
Worte von Frau Stine-Pohl wie dumpfe Hammerschläge. „Ein Stümper.“ Ein Jahr
Askese, das ich für nichts als das dürftige, desillusionierende Statement dieser
Dame auf mich genommen hatte. Für die Rückkehr in meinen Job. Obwohl ich nicht zurückkehren
wollte.
Ich dachte, warum
schmeiße ich dieser gefühllosen Person nicht die Papiere vor die Füße und
verschwinde aus der Hauptstadt. Ab an die Küste. In das hübsche kleine Friesenhaus.
Dort würde ich Zeit und Ruhe zum Schreiben haben. Ich würde nach der Henriette
sehen. Und Tineke vollendete ihren Facharzt und kam irgendwann nach. Ich atmete tief
ein und aus. Ich sah traurig aus. Ich wollte gern über die Abfuhr reden, die
ich soeben erfahren hatte. Über meinen Kummer, der auch kein leichter war. Es
ging nicht, solange sich Tineke ihren Kummer nicht endgültig von der Seele
geredet hatte. Zudem wusste ich nicht, wie beginnen, wo aufhören.
„Mir ist, als
müsste ich mich jetzt besaufen, bis zur Besinnungslosigkeit“, sagte Tineke
plötzlich. „Nach einem Vollrausch sieht man die Dinge wahrscheinlich klarer.“
Sie fasste meine Hände. „Du könntest, glaub ich, auch ’nen Schluck vertragen.
Siehst aus, als wäre bei dir auch was schiefgelaufen und du möchtest drüber
reden. Mit mir.“
„Alkohol
verschärft eher die Probleme“, widersprach ich. „Hinterher weiß man gar keinen
Ausweg mehr. Von dem fürchterlichen Kater ganz zu schweigen.“ „Nicht, wenn man
zu zweit ist und zusammen aufwacht. Dann ergibt minus mal minus plus.“
Wahrscheinlich
hatte sie Recht. Und wenn nicht, war es den Versuch wert. Ich flitzte los und holte
von unten aus dem Supermarkt eine große Flasche Fusel und eine Tüte Erdnüsse. Tineke
sah mich erstaunt an: „Solch eine riesige Flasche? Ganz so wörtlich hättest du
meine Äußerung in Sachen Vollrausch vielleicht doch nicht nehmen sollen.“ Ich
kam nicht zum Antworten. „Weißt du, was mir aufgefallen ist?“, fragte sie
gleich. „Dein Hamster, das ist kein Peterchen Zwo, sondern eine Petra die Erste.
Passt ja auch besser zu deinem Familiennamen. Erster. Er, genauer sie, hat
Junge.“ Ich sackte erschrocken
auf den wackligen Stuhl. „Bist du sicher?“
„Du, das wäre mir
sogar ohne Medizinstudium aufgefallen.“ Und nun? Edward
Erster, nun musste ich ihm das erklären: „Ich habe deinen Hamster ausgetauscht.
Gegen eine Hamsterin. Der, den du mir zur Betreuung gebracht ist, ist draufgegangen.“
Aus unerfindlichen Gründen. Unerfindlich?
Oder sollte ich
Petra der Ersten die Jungen wegnehmen und Edward Erster gegenüber so tun, als
wäre sie kein Weibchen? Was für eine Gemeinheit. Edward Erster. Jetzt
fiel mir der Brief ein. Der lag mit den anderen Sachen auf dem Tisch. Ich
öffnete den Umschlag und zog eine dünne Seite mit wenigen Zeilen heraus.
Lieber
Erasmus, habe
eine interessante Neuigkeit für dich. Habe hier jemanden kennen gelernt, eine Frau,
die in einem Verlag arbeitet. Dort werden Taschenbücher veröffentlicht. Wir haben zusammen Kaffee getrunken und kamen auf das
Thema Bücher zu sprechen, wobei ich auf dein Manuskript abgestellt und es ihr gegeben
habe. Helene, so heißt die Dame, hat schon einen Teil des Textes
gelesen, und der hat ihr recht gut gefallen. Sie sagt, sie würde versuchen, es
in ihrem Verlag unterzubringen. Sie ist diesbezüglich sehr zuversichtlich. Aber
du musst das mit ihr selbst besprechen.Falls für diese Veröffentlichung ein Zuschuss zum
Drucken erforderlich sein sollte, komme ich dafür gern auf. Es ist bestenfalls
eine niedrige vierstellige Summe. Es ist ja dann immer noch dein alleiniges Projekt,
denn ich werde mich keinesfalls einmischen. Du kannst mir das Geld
gegebenenfalls später wiedergeben. Mach’s gut und sei gegrüßt von deinem Onkel Edward
Ich war völlig sprachlos. Ich ließ die
Hand mit dem Brief sinken und starrte wieder auf den Tisch, wo der Umschlag mit
dem Manuskript lag. Helene. Bekanntschaft, Druckkostenzuschuss, Urlaub. Und
nun?
Tineke sah mich
besorgt an. „Schlechte Nachrichten?“
Ich reichte ihr
den Brief. Sie las. Und dann las sie noch mal. Und sie wendete den Brief und
las immer noch. Dann sagte sie: „Ist doch alles super. Als ob man an einer
Strippe zieht, und plötzlich sind alle problematischen Verfitzelungen und Knoten
aufgelöst.“ Ihr Gesicht wurde richtig hell, es zeugte nahezu von Eifer. „Du, mal
angenommen, du fährst gleich morgen los, um deinen Onkel zu besuchen, könnte
ich da nicht mitkommen? Ein paar Tage Zeit bleiben mir auf jeden Fall noch.
Egal, ob ich die Stelle antrete oder nicht. Und in die Schweiz wollte ich schon
immer mal.“
Ich verstand sie
nicht. „Wohin, bitte schön, sollte ich morgen fahren?“
Sie gab mir den
Brief zurück. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Rückseite einige Nachsätze
enthielt.
PS: Lieber
Erasmus, könntest du nicht einfach mit dem Silverhawk kommen und mit Helene selbst
über dein erstes Buch sprechen? Es wäre bequemer und sinnvoller.Ach so, den Hamster will ich nicht wiederhaben. Ich
habe ihn dir gebracht, damit ich dir ohne Erklärungen etwas Geld zukommen
lassen konnte. Ich konnte deine spartanische Lebensweise einfach nicht mehr mit
ansehen. Ich mag gar keine Hamster. Du hast es doch gewusst, oder?
Als ich den Brief sinken ließ, sagte
Tineke: „Wenn ich den Namen Erster höre oder lese, denke ich zwar an dich, aber
neuerdings fallen mir auch die Süßigkeiten mit demselben Namen ein. Die Eskimoküsse.
Mit leckerer Creme gefüllt und weißer Schokolade überzogen. Die aus der eleganten
Schachtel. Wo draufsteht: Die original
Eskimoküsse – Ersters Erste Garde. Gar nicht so übel. Ich weiß, das klingt absurd,
aber ich habe plötzlich die Vorstellung, dein Onkel Edward Erster könnte etwas
mit diesen Dingern zu tun haben.“ Ich lächelte. „Eskimoküsse
heißen diese Dinger schon seit
geraumer Zeit nicht mehr. Das sind jetzt Schneeküsse. Der ursprüngliche Name
wurde als Diskriminierung einer bestimmten Volksgruppe gebrandmarkt. Der Inhalt
ist hingegen der gleiche geblieben. Der Geschmack natürlich auch. Der letzte
Einzelherrscher über diese Firma hat peinlichst darauf geachtet, dass nicht das
kleinste Detail geändert wurde.“
Da wurden Tinekes
Augen ganz groß. „Du sagst das, Erasmus, als wäre an meiner Vermutung etwas
Wahres dran.“
Ich seufzte.
„Nicht nur etwas. Die Firma hat meinem Onkel tatsächlich gehört. Er hat sie
nach dem Krieg aus Trümmern und Ruinen aufgebaut, er hat eine Art Imperium
daraus gemacht, und weil aus unserer Familie der einzig in Frage kommende
Nachfolger, nämlich ich, sein Lebenswerk nicht fortsetzen wollte, hat er sie
vor zehn Jahren schweren Herzens gegen diverse Millionen oder Milliarden verkauft.
Einschließlich aller Herstellungsrezepte.“ Sie staunte, sie
war sprachlos und zugleich voller Fragen. Und ich glaube, ich war ihr für die
nächste Stunde nicht mehr geheuer.
Folge 11 vom 10. April 2020
Wir sprachen vorerst nicht mehr über
diese Dinger, die Eskimo-Schnee-Küsse.
Egal, wie sie jetzt hießen, wer mittlerweile an ihrer Herstellung und
Vermarktung verdiente. Und schon gar nicht über das Vermögen meines Onkels, für
das es nur einen Erben gab. Oder zwei? Wir wandten uns
den organisatorischen Aufgaben zu. Zunächst verschenkten
wir den Fusel und die Erdnüsse an die Tippelbrüder und fuhren zu Tinekes WeGe.
Dort gaben wir den Hamster in Pflege. Jonathan erglühte vor Leidenschaft, als
er Petra die Erste mit ihren Jungen sah. Er wischte aufgeregt mit den
Handflächen über das Oberteil seiner Latzschürze und redete auf die Mitglieder der
Hamsterfamilie ein, als seien sie kleine Menschen.
„Das Problem
Hamster wäre somit gelöst. Ich glaube fast, Jonathan möchte deine Petra Eins sogar
für immer behalten“, mutmaßte Tineke, als wir auf dem Rückweg waren. „Über die
anderen Probleme müssen wir halt reden. Nach deinem Eskimo-Schneekuss-Geständnis
kommt es mir vor, als müsste ich mein Verhältnis zu dir neu definieren.“
„Warum kann
nicht alles bleiben, wie es ist?“ Tineke seufzte.
„Wie es ist, ist es inzwischen sowieso
nicht mehr. Wegen mir, wegen dir. Wegen allem. Und so wie es war, kann es
eigentlich auch nicht mehr werden. Man kann die Tatsachen, von denen ich bisher
nichts gewusst hatte, nicht ignorieren. Alles könnte aber in eine neue Qualität
umschlagen. Schön bleiben, sogar noch schöner werden.“ Sie streichelte meinen
Arm. „Lass uns eine Flasche Sekt und Pizza zum Aufbacken kaufen“, schlug sie
vor. „Dann redet sich’s leichter.“
Ich zögerte.
Mit der Backröhre des alten Elektroherdes war nicht mehr viel los. Tineke ließ
sich nicht beirren. Sie holte die Pizza, den Sekt und ein paar Lebensmittel aus
dem Supermarkt, und nachher schaffte sie es, die Backröhre anzuheizen. Wir saßen
und aßen schweigend, und als wir das erste Glas Sekt tranken, fragte sie, warum
ich ihr nicht gleich gesagt hätte, dass ich möglicherweise steinreich sei.
Ich erwiderte,
die Betonung liege in der Tat auf möglicherweise.
Klar, Edward Erster würde mir beim Wink mit dem kleinen Finger mindestens
sein halbes Vermögen überschreiben. Ich wollte mir jedoch selbst was schaffen.
Geschenktes Geld machte unfrei und abhängig. „Kannst du das nicht verstehen?“
Ja, sie
verstand es, und sie fand es beeindruckend. Sie rückte ein Stück an mich heran.
„Diese gewollte Armut“, sagte sie, „das ist die eine Seite. Du nimmst alles in
Kauf, um dich zu verwirklichen.“ Sie überlegte und sie sagte dann auch: „Aber
wenn ich mich mal wegdenke aus deinem Leben, und das mit der Schreiberei geht
gegen den Baum, würdest du dann lieber verwahrlosen und irgendwann verhungern
oder zu deinem Onkel zurückkriechen?“
Ich ging nicht
auf die Frage ein. Ich erzählte ihr von dem dritten Weg. Die Firma. Dass ich,
während sie den Brief vom Klinikum aus ihrer Wohnung geholt hatte, noch mal bei
Frau Stine-Pohl gewesen sei. Es bedurfte noch einer Unterschrift, dann wäre mein
Arbeitsverhältnis reaktiviert. In nicht mal acht Wochen würde ich mein neues
Büro beziehen.
Tineke begriff.
Sie sah nachdenklich aus. Auch enttäuscht?
Ich erzählte ihr
zunächst stockend, wie es gelaufen war, von dem Brief, den ich vorhin im Kasten
gefunden hatte. Ich erzählte von Frau Stine-Pohl, von dem letzten Gespräch. Ich
erzählte von dem Manuskript, das ich der Dame gegeben hatte. Aus Feigheit hatte
ich mich nicht gegen ihre Forderung gewehrt. Ich erzählte, wie sich Frau Stine-Pohl
zu dem Manuskript geäußert hatte. Ein Verriss für einen dummen, aber
einsichtsbereiten Stümper. Ich
brachte es nicht mal fertig, dieses ehrverletzende Wort für mich zu behalten.
Und ich erzählte von meiner Absicht, mein Arbeitsverhältnis komplett aufzulösen
und als Schriftsteller und Oma-Betreuer an die Küste zu gehen. In ein kleines,
romantisches Küstenhaus, an dem mich dann an jedem Wochenende die schönste
junge Frau Europas besuchen würde.
Sie sah mich
mitleidig an. Und liebevoll. Sie streichelte meine Hand. „Wie gemein von der
alten Kuh. Aber es sind Erfahrungen für dich, Erasmus, sie machen dein Leben authentisch.“
Sie küsste mich. Sie sagte: „Für mich ist alles, was dich betrifft – nein,
nicht alles, aber ganz vieles – wieder transparent. Da bin ich richtig froh
drüber. Trotzdem sollte man von einer Managerin kein prosaisch gefärbtes Urteil
erwarten. Man sollte solchen Leuten erst gar keine literarischen Texte zu lesen
geben. Bei denen zählt nur Sachlichkeit. Sie denken in anderen Kategorien.
Hauptsächlich in Zahlen. Und, ich kann’s ja nicht beweisen, es klingt, als
hätte es die Dame früher selbst mal mit dem Schreiben versucht. Vermutlich ist
sie damit kläglich gescheitert.“ Tineke streichelte wieder meine Hand. „Versuch
halt einfach, dieses Gespräch auszuklammern bei deiner Zukunftsentscheidung.
Aber entscheiden wirst du dich müssen.“
Tineke hatte Recht. Natürlich.
Entscheiden. Das hieß: Buch fertig schreiben und mit Hilfe dieser Helene und
ein bisschen mit dem von Edward Erster gewährten Rückenwind veröffentlichen.
Letzteres hieß somit, doch zu Kreuze kriechen, indem ich einen Bruchteil seines
riesigen Vermögens in Anspruch nahm. Also keine berufliche
Karriere. Absage an Frau Stine-Pohl.
Absage auch an
Berlin, an die Hinterhofwohnung? Es hing von Tineke ab, wie die Entscheidung
ausfiel.
Erst noch mehr
Sekt.
Wir tranken wieder
und sahen uns in die Augen. Ich fragte: „Und wenn ich den Gedankenzug ernst
gemeint habe, mich um die Henriette zu kümmern? Als Schriftsteller kann man
überall arbeiten. Auch in einem alten Haus an der Küste.“
Tineke blieb
kühl, nüchtern. „Weiß nicht. Jedenfalls halte ich nichts davon, dass du das
eine mit dem anderen in Verbindung bringst. Deine Arbeitsstelle aufzugeben und die
Betreuung meiner Großmutter zu übernehmen. Um mir einen Gefallen tun. Das könnte
uns beide auf Dauer belasten. Womöglich wirst du damit in die Arme deines
Onkels getrieben. Wo du bisher so tapfer um deine Unabhängigkeit und deinen
eigenen Weg gekämpft hast.“ Wir tranken
wieder und recht unverhofft fragte sie: „Liebst du mich?“
Ich lächelte,
und ich nickte. „Sehr.“
Und sie
erwiderte: „Ich dich auch.“ Dabei war ihre Stimme warm geworden. „Wenn es nicht
so wäre, wäre ich niemals mit in diese Bruchbude von Wohnung gekommen. Und zu
meiner Henriette hätte ich dich auch nicht mitgenommen.“
Das war dann der neue Tag. Noch ganz
früh. Noch vor Sonnenaufgang. Tineke hatte bei mir geschlafen, ohne Murren und ohne
Klagen; und mit mir, auf der ächzenden Couch. Zum ersten Mal in meiner
Hinterhofwohnung, in dieser Bruchbude. Wir fuhren im Silverhawk
auf der Autobahn. Sie lehnte mit dem Kopf an meiner Schulter. Im Radio quasselte
jemand über Politik, Wirtschaft und Soziales. „Es geht den Menschen immer
schlechter. Die Armut hat sich im Land regelrecht ausgebreitet.“ Blablabla. Ich
schaltete ab. Ich dachte, wenn man alle, die sich nicht dieses und jenes
leisten können, als arm bezeichnet, wie wäre es demnach mit mir? Superarm,
heruntergekommen, verwahrlost? Ich hatte ja nicht mal mehr meine
Plattensammlung. Oder? Ich hatte sie doch. Wieder. Und nicht nur die
Plattensammlung. Glück hatte ich, Liebe. Tineke. War ich arm? Reich.
Ich hatte in
der Nacht endgültig den Entschluss gefasst, auf meinen Job zu verzichten. Ich
würde in das Küstenhaus ziehen. Zu Tinekes Großmutter. Dort das Buch fertigstellen,
neue Bücher schreiben. Und ich würde der Henriette helfen, wenn sie Hilfe
brauchte. Vor allem: einfach da sein. Das Häuschen wollte ich in Ordnung
bringen, den Garten. Die obere Etage. Eine Wohnung für Feriengäste. Oder für feste
Mieter. Auf jeden Fall: Mieteinnahmen, Nebeneinkünfte, nicht ganz so arm sein
wie bisher. Nachher wollte
ich Tineke meinen Entschluss mitteilen. Erklären wollte ich ihr ihn. Dass er
hauptsächlich mit mir zu tun hatte. Mit meinem Ziel, Schriftsteller zu werden.
Mit ihr natürlich auch. Sogar mit der Henriette. Und mit Frau Stine-Pohl. Mit
ihrer Einschätzung. Ein Stümper. Ich war kein Stümper. Ich wollte Tineke sagen:
„Es hat auch mit den Tagen zu tun, die wir gemeinsam dort verbracht haben.
Diese schönen Tage. Mit dir. An der Küste.“
Ich sang wieder
leise unseren Schlager. Butterfly, red, white and blue – you love flowers, I
love you. Tineke stimmte ein. Sie hakte sich in meinen Arm und kam näher
an mich heran. Wir sangen. Ein morgendliches Duett. Immer diese beiden Zeilen. Und
weiter. Bis sie schlief.
Sie wachte erst
wieder auf, als ich an einer Baustelle langsamer fahren und den Schalthebel
betätigen musste. Einige Sekunden lehnte, lag sie noch an mir. Dann richtete
sie sich auf und rekelte sich. Die Autobahn führte über eine kleine Anhöhe, weit
breiteten sich unter dem Morgendunst Felder und Wiesen dahin. Dazwischen
Baumgruppen, ein paar Anwesen, ein paar Weiher. Bis zum Horizont. Die ersten Sonnenstrahlen
fluteten gelbrot in den frühen Tag. Ihre Spitzen sammelten sich direkt auf Tinekes
Gesicht. Wie das leuchtete, strahlte. Sie sah mich an, lachte. Sie fragte:
„Hast du diesen Morgen so wunderbar arrangiert? Die Sonne? Ersters erste
Sonnenstrahlen?“
Natürlich hatte
ich. Sie kippte die Sitzlehne ein kleines Stück zurück und schloss wieder die
Augen. Sie sang leise. Red, white and blue … I love you.
Nach einer Stunde
verließen wir die Autobahn. Wir fuhren auf der Landstraße. Entlang eines grünbraunen
Waldsaumes. Wir hielten auf einer Lichtung. Wir hatten ein paar Brote und Kaffee
mitgenommen. Tineke hatte das vorbereitet. Unser Frühstück in der Natur. Mit
Vogelgezwitscher und einem wütend hackenden Spechtschnabel an der riesigen
Tanne. War das nun perfekte Romantik? „Ein Reh fehlt noch“, sagte Tineke. „Es
müsste scheu auf die Lichtung treten und uns in einer wunderbaren Sprache viel
Glück wünschen.“ Sie umarmte mich. „Es ist aber auch ohne dieses Reh der
schönste Morgen meines Lebens.“
Nachher setzte
unverhofft die Geräuschkulisse einer morgendlichen Treibjagd ein. Piffpaff, der
Hall der Schüsse machte Angst, und er kam schnell näher. Wir flüchteten. „Es
ist überhaupt nicht angebracht, am schönsten Morgen seines Lebens an den
Gebrauch von Schusswaffen erinnert zu werden, geschweige denn eine Kugel
abzubekommen“, orakelte Tineke. „Es könnte nichts Gutes verheißen.“
Folge 12 vom 11. April 2020
Auf
der Autobahn hatten wir den grellrotgelben Sonnenball zu unserer Seite. Ich
hielt den Augenblick für angebracht, ihr meine Entscheidung mitzuteilen:
Henriette, Küste, Ferienwohnung, Ersters erstes Buch. Und spezielle
Facharztstelle in der Chirurgischen Zentral Klinik des Großklinikums, Professor
Kurz, genannt Kurz-Franzl. Zusammenleben heftig erwünscht. Wenn auch zunächst
nur an den Wochenenden.
Tineke hörte zu, ihre Miene war undurchdringlich und
angespannt. Sie schwieg ganz lange, nachdem ich fertig geredet hatte. Endlich
antwortete sie: „Ich hab auch drüber nachgedacht. Natürlich. Was du gestern
gesagt hast, hat mich nicht kalt gelassen. Im Gegenteil. Es hat mich so total
glücklich gemacht. Und jetzt, wo du noch mal nachgedacht und drüber geschlafen
hast, bin ich auch bereit, über dein Angebot zu reden. Über die praktischen
Seiten.“ Sie fasste nach meiner Hand und sagte: „Aber nicht in dieser Stunde,
wo alles so unglaublich schön ist, so wie in einem kitschigen Film.“ In der Tat sah sie so sehr glücklich aus, entspannt. Sie
lächelte. „Jetzt bin ich erst mal auf deinen Onkel gespannt. Den Ex-Eskimo. Und
auf diese Helene.“
Ich grinste ein bisschen. „Wenn das mal nicht mehr ist
als nur eine Kaffeebekanntschaft.“ Ich machte ein paar Andeutungen zu Edward
Ersters Einstellung gegenüber Frauen. Zu seinem illustren Vorleben. Zu seinen
jetzigen unveränderten Ambitionen. Tineke fand es nicht schlimm. „Wenn er sich diesmal eine
Freundin gesucht hat, die im Verlagswesen arbeitet, ist es doch in Ordnung. Du
kannst dein erstes Buch veröffentlichen, ohne deinem Onkel direkt verpflichtet
zu sein. Er hat den Anstoß gegeben, na gut. Vielleicht noch diese Summe.
Niedrig vierstellig. Aber es ist und bleibt dein Buch, das Ziel deines ganz
individuellen Weges.“ Sie schloss die Augen. Sie schwieg. Dann sagte sie: „Ich
bin dir dankbar, dass du mich erst mal in diesen Teil deiner Familiengeschichte
eingeweiht hast. In den Schokoladen-Teil. Ich kann mir dich nun besser
erklären. Deine Abgrenzungen, deinen Idealismus. Deine Eigenbrötlerei. Egal
wenn es mir andererseits regelrecht unreal vorkommt und ich ja auch mal nach
deinen Eltern fragen müsste. Aber wer weiß, was dann dabei herauskommt. Also
warte ich lieber.“ Zum Glück, sie wartet, schoss es mir durch den Kopf. Ich
hätte in diesem Augenblick nicht gewusst, wie ich ihr das hätte beibringen
sollen: meine Eltern. Nein, es wäre nicht gegangen. Es hätte mit dem Termin an
Brücke sieben zu tun gehabt. Ich hatte Redeverbot. Autobahnbrücke sieben, Abschnitt 52, Fernreisebahnhof.
Plötzlich musste ich wieder daran denken. Noch zwei Wochen? Vierzehn Tage. Oder
hatte ich mich verzählt?
Wir
passierten die Grenze. Rein ins Schweizlein.
„Es sieht eigentlich kein bisschen anders aus als bei
uns“, stellte Tineke fest. Wir befanden uns schon ein Stück im Land.
„Es ist ja auch nicht anders als bei uns“, antwortete
ich. „Die Menschen, die Lebensverhältnisse. Alle sind freundlich und
hilfsbereit. Und aufgeschlossen. Nur die Art zu sprechen ist anders.
Schwyzerdütsch. Und die Berge sind etwas höher als unsere. Die Preise auch.“
Ich machte eine bedeutungsvolle Pause. „Ist aber kein Problem, das Geld. Für
uns. Wir sind von meinem Onkel eingeladen. Er bezahlt das Hotel und was Schönes
zu essen. Und ich habe nicht mal ein schlechtes Gewissen, wenn ich das
annehme.“
Tineke nickte. „Du bist nun mal sein einziger
Angehöriger.“ Ich schwieg, so dass sie zögernd fragte: „Oder habe ich das
falsch verstanden?“
Ich schüttelte den Kopf. Tineke kniff die Augen zusammen. Ihre Lippen bewegten
sich tonlos, und sie sagte nach einigen Sekunden: „Na gut, ich habe
beschlossen, dich vorerst nicht nach den restlichen Familienmitgliedern zu
fragen. Daran will ich mich auch halten. Meine Gedanken kann ich deswegen aber
nicht unterdrücken. Dein Onkel heißt also Erster. So wie du. Folglich muss er
der Bruder deines Vaters sein.“ Sie sah mich nachdenklich an. „Ich glaube, wenn
dein Vater nicht mehr am Leben wäre, hättest du mir das gesagt. Es muss
folglich einen Konflikt gegeben haben oder geben. Zwischen beiden Brüdern. Oder
zwischen dir und deinem Vater. Ist es das, was dir zu schaffen und dich
sprachlos macht?“
Ich erschrak, ich zuckte zusammen. Ich machte auch, wie
man so sagt, dicht, ich schloss kurz die Augen. Fast verlor ich die Kontrolle
über das Auto. Tineke erschrak ebenfalls. „Achtung!“, rief sie. „Du fährst zu
weit links. Merkst du das nicht?“ Sie war aufgeregt. Doch es bestand keine
wirkliche Gefahr. Ich korrigierte den Kurs sofort. Sie beruhigte sich also
wieder. Sie entschuldigte sich. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht aufregen.
Ich hab dich mit der Fragerei zu sehr durcheinander gebracht. Mit meinen
Spekulationen.“
„Du solltest Krimis schreiben. So wie du durch die Gegend
kombinierst. Schwyzer-Krimis, die gibt’s noch nicht. Die Leser werden von
deinem logisch funktionierenden Denkvermögen gefesselt sein.“
Sie dehnte ihren Sicherheitsgurt aus und beugte sich zu
mir. Sie küsste meine Wange. „Es reicht, wenn einer von uns beiden schreibt.
Du. Einen Sizilien-Krimi. Da nehme ich hinreichend Anteil. Ich kombiniere und
denke logisch mit. Und nach deinen Familienverhältnissen, wie außergewöhnlich
sie auch sein mögen, werde ich nicht mehr fragen, solange du nicht selbst
anfängst, mir alles aufzudecken. Nicht mal, wenn dein Ex-Eskimo-Onkel in meinem
Beisein über seinen Bruder reden sollte.“
Nein, damit war nicht zu rechnen. Über seinen Bruder
redete Edward Erster nur bei bestimmten Anlässen. Und das dann auch nur mit
rhetorischem Sicherheitsabstand. Ein couragierter, lebensgefeiter Jungsenior
wie er. Er scheute davor zurück. „Hast du mal wieder Gelegenheit, ihn zu
sehen?“ Er sagte ihn, wenn er nach
den unmittelbaren Kontakten zu Ernesto fragte. Meistens jedenfalls. Er war
mitunter einfach nicht in der Lage, den Namen oder das
Verwandtschaftsverhältnis auszusprechen. „Meinen Bruder. Deinen Vater.“ Soviel
Respekt steckte zuweilen in ihm. Oder Abwehr, Verachtung, Gekränktheit?
Dabei hatte er eine exemplarische Antenne für alles, was
mit meinem Vater zusammenhing. Wie entfernt es auch vom Thema sein mochte.
Was würde ich also antworten, wenn er zu ahnen, zu
fragen, zu bohren begann, dass eine Begegnung bevorstand? Nichts, ich musste
schweigen. Jeder Hinweis, jedes kleine Wort war mir verboten. Verstieß ich
dennoch gegen die Geheimhaltungsvorschrift, und sie kamen dahinter, und das würde zu hundert Pro der Fall sein,
würde der Termin platzen. Sie würden
mich nicht mal über die Absage informieren. Sie
würden mich dort stehen lassen, an Brücke sieben. Vielleicht schon am Fernreisebahnhof.
Bis ich mein Fehlverhalten begriffen hatte, bis ich aufgab.
Ich
hatte direkt ein bisschen Herzklopfen, als ich vor dem noblen Hotel vorfuhr.
Diese gediegen gestaltete Auffahrt, an deren Fassung sich große Palmentöpfe
befanden. Schwarze Autos parkten in einigen Nischen, monumentale getönte
Türscheiben öffneten und schlossen sich, sobald sich jemand näherte. Und
natürlich: jede Menge Bedienstete. Zwei von ihnen, in dunkelgrünen Uniformen,
die mit goldenen Borten betresst waren, stürzten noch vor dem endgültigen
Stillstand des schillernden Hawks auf die Türgriffe zu. Was für ein Wagen,
deutlich herausragend selbst aus der Palette aller hier verkehrenden
Luxuskarossen. Und: Was für ein reicher Ankömmling mochte sich hinter der
getönten Scheibe verbergen? Ein sehr reicher. Aussicht auf fettes Trinkgeld.
Bei Tineke war es nicht nur Herzklopfen, das ihre
Reaktion bestimmte. „Auweia“, flüsterte sie eingeschüchtert. „Was ist das denn?
Wir sind doch keine Millionäre.“ Sie presste sich in den Sitz. „Kannst du hier
nicht rasch wieder wegfahren?“ Zu spät. Die Türen wurden aufgerissen. Wir wurden beim
Aussteigen von je einem der uniformierten Diener eskortiert. Ein dritter
Uniformierter machte sich am Griff der Heckklappe zu schaffen. Wohl wegen des
Gepäcks, das er schleppen wollte. Ich unterband das. Ich schüttelte energisch
den Kopf. „Gepäck ist nicht.“ Ein Satz, der hier eher Seltenheitswert zu haben
schien. Ich erntete verwunderte, auch enttäuschte Blicke. Ich ging besser in
die Offensive. Selbstbewusst, abgeklärt. Einziger Verwandter eines äußerst
einflussreichen, reichen Mannes. „Den Wagen bitte nur vorübergehend parken. Ich
muss erst Doktor Erster sprechen. Würden Sie ihn bitte informieren lassen. Sein
Neffe ist eingetroffen. Es ist dringend.“ Ich zog zwei Zehner heraus. Die
steckte ich den beiden nächst stehenden Dienern zu. Tinekes Augen wurden riesig
groß. Noch größer, als sie sonst waren. Immerhin, das Trinkgeld half. Einer der
Uniformierten sauste los wie ein Blitz, ein anderer stieg hinter das Steuer, um
den Hawk fortzuschaffen, in die Parklandschaft, und der dritte stellte sich bei
strahlender Miene vor den Sensor der Tür, damit diese weit offen blieb. Danach
geleitete er uns, während er geübt flüssig, wenn auch sehr allgemein über das
Wetter in der Region plauderte, an die Rezeption. Wir standen dort, und er
erklärte einer Mitarbeiterin, weshalb wir gekommen seien. Die Mitarbeiterin
griff zum Telefon und redete mit jemandem.
„Donnerwetter“, raunte mir Tineke zu. „Wie du mit denen
klarkommst, das hat Stil.“ Sie sah immer noch eingeschüchtert, dennoch
erleichtert aus. „Du wirkst hier ganz anders als in deiner Hinterhofbude.“
Ich war stolz, ließ es mir jedoch nicht anmerken. Ich
sagte: „Die kochen alle nur mit Wasser. Und diese Pagen und Diener sind ja nur
arme Schlucker, die im Leben nicht weit kommen werden. Je mehr Trinkgeld sie
kriegen, umso mehr katzbuckeln sie vor dir.“
„Schrecklich“, schimpfte sie leise. Sie hielt sich an
meinem Arm fest. „Ich fühle mich hier nicht wohl.“
Und ich? Fühlte ich mich denn wohl? Die Frage war
unbedeutend. Ich musste auf Edward Erster warten. Mit Tineke.
Die Dame von der Rezeption kam. Sie trug ein schwarzes
Kostüm, aus dem am Halsausschnitt der Kragen einer weißen Bluse ragte. Auf
einem goldfarbenen Namensschild, das sie unterhalb des linken Revers angesteckt
hatte, las ich in schwarzer Schrift Lydia Krause-Kegel. „Herr Erster, guten
Tag.“ Das war an mich gerichtet. Und zu Tineke: „Guten Tag, gnädige Frau.“ Und
zu uns beiden: „Herr Doktor Erster ist über Ihre Ankunft informiert. Er kann
den Kongress derzeit nicht verlassen. Er wird aber erscheinen, sobald es ihm
möglich ist. Die Sekretärin bittet Sie daher, auf der Club-Terrasse zu warten.“
Sie blickte in die Weite der Halle und befahl durch eine fast unmerkliche Geste
einen weiteren Pagen herbei, der uns an den besagten Platz führen sollte.
Folge 13 vom 12. April 2020
Die Club-Terrasse war besonderen
Gästen vorbehalten. Sie war in Private Rooms aufgeteilt. Separees. Wir saßen in
futuristisch geformten Rohrsesseln und blickten auf ferne und nahe Berggipfel,
zwischen denen sich kitschig pittoresk-schöne Täler und der unverwüstliche See
mit seinem nicht ganz wirklichen Blau und den aus dieser Ferne klein und makellos
weiß anmutenden Luxusyachten entlang zogen. Bei einem Cocktail, bei einem
riesigen Gefäß voller Capuccino. Und bei einem erlesenen Imbiss. Häppchen mit Fischgeschmack,
bestrichen mit fremdartigen Cremes, umlagert von feinem Gebäck. Niemand sah und
hörte uns. Hier war der Platz, an dem sich nur reiche Leute aufhielten. Außer
uns. Tineke entspannte
sich. „Wenn einem keiner seine Gesellschaft und vor allem seine Dienste aufdrängt,
ist es in diesem Luxus-Klotz vielleicht doch nicht so übel.“ Sie schränkte jedoch
gleich ein: „Ob ich es hier sehr lange aushalten werde, weiß ich aber nicht.“
Sie hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. „Ich hab schon dauernd
überlegt, ob in meinem Leben jemals jemand gnädige Frau zu mir gesagt hat.“
„Und? Hat jemand?“
Sie schüttelte
den Kopf. Sie lächelte. „Die Antwort lautet nein. An der Küste sind die
Menschen nicht so charmant. Und beim Studium oder im Klinikum herrscht ein
anderer Umgangston, da ist man ehrlich zueinander.“ Sie gähnte erneut. Jetzt heftig,
und das, was sie gleich darauf sagte, klang recht schläfrig. „Ich kann mir
nicht vorstellen, dass ich ewig so angeredet werden will. Es ist zu förmlich. Auch
das Drumherum. Trinkgeld in schwindelnder Höhe. Autotür aufmachen. Bei jedem
Schritt eine Eskorte.“ Sie brach ab, dann fragte sie mit leiser Stimme: „Du,
Erasmus? Stört’s dich, wenn ich kurz die Augen zumache. Bin irgendwie müde.“
Schon schlief sie,
und es störte mich nicht.
Edward Erster kam angestürmt wie ein
Vierzigjähriger. Seine Beweglichkeit war in der Tat beeindruckend. Und sein Aussehen,
seine Ausstrahlung. Er hatte ein glattes, braungebranntes Gesicht, eine
schlanke Figur und er wirkte entschlossen und schneidig. Die Wellness-Tage, die
er sich gegönnt hatte, waren seinem Äußeren durchaus zuträglich gewesen. Lediglich
die Geheimratsecken schienen an Tiefe und Auffälligkeit zugenommen zu haben. Kündigte
sich nicht doch endlich eine Glatze bei ihm an? Ich dachte an einen seiner
Grundsätze: „Das Letzte, was ich mir antun würde, wären falsche Zähne und
künstliche Haare. Und schon gar nicht würde ich mich liften oder mir Fett absaugen
lassen.“
Er war sichtlich
in Eile. „Ich bin nur mal kurz raus aus der Tagung. Wir sitzen seit Stunden im
erweiterten Vorstand. Es ist einfach nicht möglich, eine reguläre Pause
hinzukriegen. Und ich muss auch gleich wieder hoch, ansonsten fliegen da die
Fetzen.“ Trotz der Eile ließ er es sich nicht nehmen, Tineke gründlich zu
mustern. Sichtlich mit Zustimmung, mit Sympathie. Mit einem Zwinkern in meine
Richtung.
Ich sagte
notgedrungen: „Das ist meine Freundin. Sie hat die Plattensammlung bekommen, dadurch
habe ich sie kennen gelernt. Und sie mich.“
Er staunte. Er wurde
milde. „Na, wenn es so ist, wenn die Platten in so charmante Hände gewandert
sind, nehme ich die Kritik an dem Verkauf zurück. Dann war es den Verlust gewiss
wert.“
„Ich habe die
Platten nicht verloren“, widersprach ich. „Es war auch kein Verkauf, nicht mal
ein richtiges Pfandgeschäft zwischen Tineke und mir.“
„Tineke.“ Edward
Erster sah mich, danach Tineke anerkennend an. „Was für ein Name. Ganz
ungewöhnlich. Ganz anders als diese ewigen Nadines und Nicoles und wie sie alle
heißen.“
„Ich wollte
Erasmus zunächst mal aus der Patsche helfen. Es war irgendwie nicht zu
ertragen, wie er dahinvegetierte.“ Tinekes Erklärung klang ein bisschen
schüchtern. Umso wohlwollender wurde sie von Edward aufgenommen. „Ich habe das
seit gut einem halben Jahr versucht, meine Liebe. Ihn aus dem Eremitendasein
herauszulocken. Ohne jeden Erfolg. Er wollte von mir keine Unterstützung. Nicht
für seinen Unterhalt und nicht für die Buchveröffentlichung. Die nächste
Station wäre gewesen, dass er betteln geht.“ Edward Erster verdrehte voller
Unverständnis die Augen. „Hauptsache nichts vom etwas wohlhabenderen Onkel
annehmen.“ Buchveröffentlichung
war das Stichwort für mich. Ich wollte ihn fragen. Nach Helene, nach dem Verlag
und vielleicht sogar nach seiner Finanzspritze. Vierstellig, niedriger Bereich.
Da sagte er es schon von selbst, und er blockte per Geste und Miene jede
weitere Frage und Erklärung ab. „Helene ist inzwischen abgereist. Es gab Verwicklungen.
Aber bitte denke jetzt nichts Falsches. Es war sowieso eine eher flüchtige
Bekanntschaft. Immerhin befasst sie sich mit deinem Manuskript. Sie hat es
mitgenommen. Sie hatte ja vor der Abreise schon einen Teil gelesen. Das Thema
Buch ist also nicht vom Tisch. Wir reden später darüber.“ Er sah auf die Uhr.
„O je. Ich muss jetzt.“ Er sagte: „Ich habe eine frühere Angestellte
angewiesen, eure Unterbringung und das Drumherum zu regeln. Sie ist bereits
damit zugange.“ Er atmete tief durch. Er sah auf die Tür. „Wir sehen uns
wahrscheinlich morgen erst.“
„Puh“, machte Tineke. „Ich bin
ziemlich hin und her gerissen, wenn ich dran denke, dass du seine Erbanlagen haben
könntest. Das eine gefällt mir, dieses Flotte, das Lebhafte, sein jugendlicher
Touch; das andere lässt mich vorsichtig sein. Dieses Großspurige, diese Hektik.
Seine Dominanz.“ Sie sah verwirrt, fast aufgeregt aus. „Er kommt mir so unbesiegbar
vor.“
Erst als wir in
der Club-Cafeteria saßen, glätteten sich ihre Gedanken und Gefühle. Sie sagte:
„Ich habe womöglich zu schnell über deinen Onkel geurteilt. Wenn man bedenkt,
was er im Leben und im Beruf geleistet hat, was er immer noch leistet. Da
bewertet man aus meiner Perspektive schnell mal jemanden falsch. Ich bin auch,
muss ich eingestehen, von allem, was wir hier erleben, regelrecht überrollt
worden.“ Ich nickte
zerstreut. Ich dachte an Helene, meine Verlags-Hoffnung. Hatte er sie einfach
so abserviert? Weil sie ihm nicht gut genug oder weil er ihrer überdrüssig
gewesen war? Ärger baute sich in mir auf. Edward Erster, du Egoist, dachte ich,
brichst Frauenherzen und lässt deinen Neffen nicht seinen Weg gehen. Nur Geld
willst du ihm in den Rachen stopfen. Ich empfand es kurzzeitig als Genugtuung,
dass sein Hamster durch meine Unachtsamkeit in den ewigen Hamsterjagdgründen gelandet
war. Nein, doch nicht. Wie albern. Edward Erster meinte es ja gut. Mit mir. Immer.
Auf seine Kapitalisten-Art. Das verstand unsereins nicht. Und er verstand
andersherum mich nicht. Wir redeten und handelten also aneinander vorbei.
Tineke hatte es ja gerade erkannt: Er und sie und ich hatten andere
Perspektiven. Und Peterchen Eins hatte mit diesen komplex kompletten
Missverständnissen nichts zu tun gehabt. Der Hamster tat mir nun leid. Weil er
tot war und weil dem guten Edward Erster an dem armen Tier gar nichts gelegen
hatte. Eine zu früh verstorbene Vollwaise. Tineke sah jetzt
zufrieden aus, entspannt. „Ich bin trotz allem froh, dass ich ihn nun kenne,
deinen Ex-Eskimo-Onkel, den gewaltigen Edward Erster. Du und er, ihr seid gewiss
nicht so verschieden wie du denkst. Es gibt allerlei Ähnlichkeiten, bestimmt
sogar Parallelen.“ Sie nickte ermunternd. „Und für dein Buch, Erasmus, sehe ich
jetzt kein bisschen schwarz. Für eine Veröffentlichung. Diese Helene wird sich
alsbald wieder melden. Wenn nicht bei deinem Onkel, dann bei dir. Ich bin ganz
sicher. Und falls sie es wider Erwarten nicht tut, wird es auch ohne sie mit
der Veröffentlichung klappen. Glaub mal, Verlage, die Bücher gegen Autorenfinanzierung
veröffentlichen, gibt’s mehr als genug.“
Ich bedankte mich
für ihren Zuspruch. Ich dachte, sie hat Recht. Irgendwie wird’s gehen.
Ich bestellte
Sekt, wir ließen die Gläser gegeneinander klingen. Wir vergaßen all die
Förmlichkeiten unserer vornehmen Umgebung.
Nach einer Stunde verließen wir das
Hotel. Die frühere Angestellte, die uns von Edward Erster angekündigt worden
war, war sichtlich aktiv geworden. Gründlich und aufmerksam. Sie hatte einen
perfekten Job gemacht. Sie wirkte perfekt. Unalt und unjung, unauffällig und unübersehbar,
abgeklärt und dennoch verbindlich. Wir durften, sollten, mussten umziehen. Das
stand schon mal fest. Wir wollten es ja auch. Das heißt, da wir in den hiesigen
Nobelkasten nicht eingezogen waren, zogen wir nicht um, wir verließen nur das
Hotel.
Tineke nahm es
mit Ruhe, dennoch nicht ohne Bange. „Handelt es sich um ein Hotel wie dieses,
in das wir ziehen?“ Ihre Frage klang ein bisschen naiv. Edward Ersters frühere
Angestellte wusste nicht so recht darauf zu antworten. „Herr Doktor Erster
wählt für sich und seine Angehörigen nur die besten Unterkünfte aus.“ Sie hätte
hinzufügen können, dass das selbstverständlich sei. Sie tat es nicht. Ich gab
Tinekes Frage daher eine andere Richtung. „Ob es sich um ein ähnlich großes
Haus handelt, wüssten wir gern. Uns wäre ein kleineres lieber.“ Sie schaute
mich ernst an. „Ja, es ist kleiner. Es ist das Golden Mountain Castle. Es liegt
ein Stück weiter in den Bergen. Also höher. Es ist sehr romantisch und zugleich
gediegen. Wenn Sie die Anzahl der Appartements und Zimmer erfahren möchten,
werde ich dort selbstverständlich anfragen oder im Internet nachschauen.“ Nein! Keine Umstände.
Wir würden es innerhalb kurzer Zeit selbst sehen.
Ich folgte, wir
folgten. Tineke neben mir.
Zunächst zur
Rezeption, schließlich zur Auffahrt des Hotels. Die Glastüren, die Palmentöpfe.
Und unser Silverhawk.
„Es ist alles
bereit, der Wagen wartet auf Sie.“ Edward Ersters frühere Angestellte betonte
die Ansage so, auf dass diese als Abschiedsformel zu werten war. Tineke atmete
erleichtert auf. Endlich weg. Endlich allein. Sie und ich.
Nein, eine
Anmerkung sollten wir noch erfahren. „Herr Doktor Erster hat alle Kosten
beglichen. Hier und im Golden Mountain Castle Hotel. Das betrifft auch das
Trinkgeld.“
Ich lächelte vor
mich hin. Da standen wir bereits vor unserem Hawk. Die Uniformierten hielten
die Türen fest. Ich nickte unverbindlich, ohne jemanden anzusehen. Wir stiegen
ein und fuhren los.
Das Golden Mountain Castle Hotel war
nicht weit entfernt. Eine knappe Stunde, die wir brauchten. Sicherlich wäre der
Weg in noch kürzerer Zeit zu schaffen gewesen. Doch wir ließen es entspannt
angehen. Mit Blick in die Landschaft. Und mit der Frage, ob wir nicht besser
heimfuhren. Zurück in unsere gewohnte Umgebung. Die Hauptstadt. Oder die Küste.
Nein, nicht heim.
Tineke war entschlossen zu bleiben. „Ich glaube, ich fühle mich schon sicherer
in dieser Welt der Reichen und der Reichtümer. Es ist auch eine
Herausforderung, sich zu behaupten. Für mich. Du hast offenbar Erfahrung.“
Ihre Feststellung
glich eher einer Frage. Oder einem Test. Sah sie in mir nicht doch noch den
verwöhnten Kapitalisten-Neffen, der sich auf der Suche nach Selbsterfahrungen
vom Geldpolster seines Gönners nicht wirklich entfernt hatte? Nur mal raus für
ein paar Monate aus der Sattheit, mal so richtig auf Armut machen, trotzdem
immer das Ende des Tunnels mit dem rettenden Licht der schillernden Goldbarren und
dicken Aktienpakete des Onkels in Sicht. Alles nur gespielt. Alles nur um des
Rufes und einer scheinbar authentischen Vita willen. Vom bettelarmen
Hinterhofschreiber zum hoch gepuschten Erfolgsautor.
„Ich habe immer
versucht, diesen Erfahrungen aus dem Weg zu gehen. Dass ich denn doch hin und
wieder mit der Welt meines Onkels in Berührung kam, ließ sich nicht vermeiden.“
Ich hob erklärend die Hände vom Lenkrad. „Es ist tatsächlich nicht das erste
Mal, dass ich ihn in einem noblen Hotelkasten aufsuche.“
„Pass auf!“, rief
Tineke. Sie deutete auf meine Hände. „Du kommst ja von der Fahrbahn ab!“
Ich setzte die
Hände wieder zurück. Wir fuhren ein Stück schweigend, und ich dachte, das Thema
Reicher, sich jedoch arm stellender Neffe
sei abgeschlossen. Nein, sie fragte prompt: „Und bei deiner Arbeit, haben sie
dort gewusst, mit wem du verwandt bist und wen du mal beerben könntest?“
Ich schüttelte
den Kopf. „Hab’s keinem erzählt und mich bei Anspielungen, wenn etwa in meinem
Beisein die Eskimo-Schnee-Küsse herumgereicht und sie bei offenkundigen Anspielungen
mit meinem Namen in Verbindung gebracht wurden, dumm gestellt. Hab entweder die
Klappe gehalten oder gemault, ob die Kollegen glaubten, ich würde für sie den
popligen Leiter-Stellvertreter spielen, wenn ich mit dem berühmten Edward
Erster verwandt wäre.“ Tineke nickte.
„Das hast du gut gemacht, Erasmus Erster. Ich bin stolz auf dich.“
Folge 14 vom 13. April. 2020
Das Golden Mountain Castle Hotel war
kleiner, es wirkte angenehmer. Ruhiger und weniger aufdringlich. Oder lag es an
uns? Wir hatten uns jetzt. Wir allein, wir zwei. Ganz anders als vorher. Nicht
mehr Hinterhofwohnung mit Hamster, nicht mehr Stadtwohnung mit latzschürzigem
Mitbewohner, nicht mal mehr Küstenhaus mit Großmutter. Wir kümmerten
uns einfach nicht um das Drumherum. Hoteldiener, Parkplatzlandschaft,
Trinkgelder. Wir waren wir. Nicht der Neffe des reichen Edward Erster und seine
hübsche Freundin. Auch wenn wir es trotzdem waren. Im Ahnen und in den Blicken
des Personals.
Wir ließen uns
geduldig und wortlos auf das Zimmer geleiten, wir lächelten uns im Aufzug still
an, wir unterdrückten jedwedes Staunen über die Ausstattung unserer Suite.
Nobel, teuer, perfekt luxuriös. Balkonblick wieder auf den See, auf die
Bergspitzen, in das Unwirklichkeitsbild der Täler. Wir fielen uns in die Arme,
als wir allein gelassen waren und lösten uns wieder voneinander, weil es prompt
klopfte. Die Tür. Ich öffnete, ein Angestellter höheren, sehr hohen Ranges, in
zivil eleganter Kleidung erkundigte sich, ob alles zu unserer Zufriedenheit
gerichtet sei. Seine verbindliche Begrüßung.
Ich lächelte
großzügig, gönnerhaft. Aber sehr distanziert. So hatte ich das oft bei Edward
Erster gesehen. So war ich in dieser Szene. Der Neffe des Dr. Erster. Nun doch. Der Mann sagte,
mit der Buchung dieser Suite sei auch ein Butler gebucht. „Ganz speziell. Nur
für Sie.“
Wir staunten.
Wir schwiegen.
Der Mann sagte
weiter, dieser Butler warte bereits vor der Tür. Ob er hereinkommen und sich
vorstellen dürfe. Ich fasste mich
allmählich. Ich dachte, ein Butler, wie lästig. Ich erwiderte daher: „Nein, wir
brauchen insgesamt keinen Butler. Wenn wir etwas benötigen, informieren wir den
Service. Das reicht für uns.“
Tineke nickte
heftig. Zustimmend. Und erleichtert.
„Sie können
sich auch gern direkt an mich wenden. Falls Sie sich doch anders entscheiden.“
Er gab mir seine Karte. Ich überflog flüchtig die zweite Zeile der
Textkomposition. Ich stellte fest, dass er der Direktor des Hotels war.
Immerhin,
Direktor. Wenn der sich schon persönlich um uns bemühte, war ein Butler
vielleicht doch angemessen. Sollte ich also umentscheiden?
Tineke
verhinderte es vehement. „Wir wollen ganz für uns sein. Endlich mal. Es ist ein
besonderer Anlass, hier zu übernachten. Wir bereiten sein erstes Buch vor. Wir
brauchen deshalb Ruhe.“
Der Direktor
nickte, ohne ein Zeichen des Unmuts oder der Enttäuschung zu verraten. Auch
nicht der Neugierde. Nur die linke Augenbraue hob sich ein wenig. Allerdings
musste man sehr genau hinschauen, um das zu bemerken. Er trat drei Schritte
zurück und verabschiedete sich mit den Wünschen für einen angenehmen
Aufenthalt. Tineke starrte
auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte. Sie schüttelte den Kopf,
immer noch staunend. „Was ich mit dir alles erlebe, Erasmus. Sogar einen Butler
hätte ich kriegen können. Wie soll ich das denn meiner Henriette erklären? Oder
Jonathan. Das glaubt doch keiner.“ Wir tranken den Champagner, den man uns
hingestellt hatte. Wir wollten uns erneut umarmen. Da klingelte das Handy. Ich
las jenes Kürzel auf dem Display: Dr. EE.
„Ist alles in
Ordnung?“, fragte Edward Erster und fügte hinzu, er sei – auch jetzt,
eigentlich wie immer – in Eile. Es konnte nicht anders sein. Egal, dass sie
endlich eine von allen akzeptierte Pause hätten einlegen können. Auf sein unnachgiebiges
Drängen hin. „Falls wir uns heute nicht sehen sollten, so wird es hoffentlich
morgen.“ Er redete zwischendurch mit jemandem aus seiner Umgebung, wandte sich
dann wieder dem Telefon zu. Vertraulich, fast flüsternd nun. „Diese Kleine, die
du mitgebracht hast, Erasmus, die ist klasse. Sieh zu, dass sie dir nicht von
der Fahne geht.“ Ich brummte
Zustimmung und war zugleich empört. Alter Lüstling, dachte ich, dennoch
lächelte ich Tineke zu, die hingegen mich fragend ansah.
„Dass du die
Plattensammlung für sie aufs Spiel gesetzt hast, macht nichts. Unter diesen
Umständen hätte ich nicht mal was gesagt, wenn sie uns abhanden gekommen wäre.
Beziehungsweise dir.“ Wieder wurde im Hintergrund geredet. Und Edward Erster
sagte zu jemandem: „Ich werde das ganz bestimmt nicht sein, der den Vorsitz
übernimmt. In meinem Alter!“ Es klang energisch, empört. Und es konnte sich wahrlich
nicht um einen harmlosen Antrag gehandelt haben, da er nun sein Alter vorschob,
um sich einen ehrenvollen Posten abzuwimmeln. Seine letzte Waffe. Das Alter,
das er seinen Äußerungen zufolge niemals spürte. Die Empörung hielt in seiner
Stimme an, als er nun wieder in das Telefon sprach. „Stell dir vor, sie wollen
mir den Posten des Vorsitzenden aufdrücken. Ich hab meine Firma verkauft, um
freier zu sein, und nun kommen mir diese Leute so.“ Und er lachte wie über
einen sehr schlechten Scherz, wobei es sogar ein solcher sein mochte. „Ich muss
auflegen, Erasmus. Ich muss denen die Leviten lesen. Sonst passiert das Unglück
tatsächlich. Grüß deine Kleine.“
„Halt!“, rief
ich gerade noch. „Ich muss dich was fragen. Wenn ich jetzt nicht dazu komme,
wird es womöglich niemals mehr.“
Ahnte er etwas?
„Dann mach schnell.“
Ich hörte
jemanden sagen: „Doktor Erster, die Sitzung geht weiter. Bitte. Ohne Sie können
wir nicht anfangen.“
Ich ließ mich
nicht beirren. „Was ist eigentlich mit dem Manuskript? Mit dieser Helene?“
Er zögerte
keine Sekunde mit der Antwort. „Abgereist. Sie meldet sich aber. Hat sie
gesagt. Hab ich von ihr verlangt. Wegen deines Manuskripts.“ Da ich schwieg,
wurde er unruhig. Er zischte überscharf: „Du denkst doch wohl nicht, ich hätte
mit ihr …? Also, ich bitte dich. Sie hatte mit ihrem Uraltauto eine Panne und
stand total verzweifelt am Straßenrand. Das war während meines
Wellness-Aufenthalts. Ich habe angehalten und den Hilfsdienst gerufen. Ihr
Wagen wurde in eine Werkstatt gebracht. Weil sie keinen Anspruch auf einen
kostenlosen Mietwagen hatte, habe ich sie mitgenommen und ihr später eine
preiswerte Bleibe in der Nähe meines Hotels besorgt. Am nächsten Tag hat sie
mich in der Lobby abgepasst. Sie wollte sich bedanken. Hat sie gesagt. Ich habe
sie zu einem Kaffee eingeladen, und wir sind ins Gespräch gekommen. Sie hat
erzählt, dass sie in einem Verlag arbeitet. Mir kam die Idee, ihr dein
Manuskript zum Lesen zu geben. Ich hielt es für einen guten Weg, dir zu helfen,
ohne mich einzumischen. Ich schrieb es dir.“ Er zögerte, ob er weiterreden
solle. Er entschied sich trotz der Unruhe, die ihn umgab, dafür. Er sagte
leise, fast kleinlaut: „Sie war schon hier, als ich dir das erste Mal schrieb.
Darum hatte ich dich um das Manuskript gebeten. Sie sollte es lesen und
beurteilen. Dann kam jedoch diese Hiobs-Botschaft, es hieß, in ihrem Verlag
liefe einiges schief. Konkret gesprochen stand ihr Job auf dem Spiel.
Wahrscheinlich hat sie ihn schon nicht mehr. Das hat sie ziemlich umgehauen.
Sie ist zwei Tage später Hals über Kopf abgereist. Mich hat das vor ein Problem
gestellt. Sollte ich dich anrufen und zu dir sagen: ‚Komm nicht her, mein
lieber Neffe, es lohnt nicht mehr. Wegen deines Buches.‘ Ich hätte dir das aus
der Ferne nicht erklären wollen.“ Er machte eine kurze Pause, er überlegte, ob
er weiterreden sollte, konnte. Er sagte dann: „Jetzt bin ich froh, dass ich
dich nicht angerufen habe. Ich bin sicher, es lohnt sich, dass du gekommen
bist. Für dich. Für euch. Wo du diese nette Freundin hast und euch ein
Aufenthalt im Golden Mountain gut tut.“ Er hatte zuletzt lauter und recht
schnell gesprochen. Er wirkte erleichtert. Er wurde jedoch aus dem Hintergrund
gemahnt. Dringend, drängend. Unnachgiebig. Er klang nun aufgeregt, ungehalten.
„Erasmus, du musst mich nicht all diese Sachen fragen. Schon gar nicht übers
Telefon und erst recht nicht, wo es hier so teuflisch zur Sache geht. Wenn du
den Weg, den du eingeschlagen hast, weiter gehen willst, musst du auch Geduld
aufbringen. Und du musst mir vertrauen. Ich mische mich jedenfalls nicht in
diese Angelegenheit. So.“
Ich bedankte
und entschuldigte mich und wünschte ihm einen guten Verlauf des weiteren
Kongresses. Anschließend saß ich zunächst stumm. Ich starrte. Auf das
Champagner-Glas, auf das Bild mit dem abstrakten Motiv, das an der Wand hing,
auf die tief stehende Sonne inmitten des malerischen Bergpanoramas. Tineke
versuchte mich zu trösten, aufzurichten. Sie hatte die letzten Worte mithören
können. Wegen der Nachdrücklichkeit, der Lautstärke.
Sie verteidigte
Edward Erster nun, sie wusch mir den Kopf. „Es war unnötig, ihn zu nerven. Er
hat Recht. Wenn du seine unmittelbare Hilfe nicht willst, musst du tatsächlich
Geduld aufbringen. Und was ist daran so schlimm? Du und ich, wir sind jetzt
hier. Wir haben uns entschlossen, den vorhandenen Luxus auszukosten und uns von
niemandem verschrecken zu lassen. Hast du gesehen, was es hier alles gibt?
Beheizter Pool, Sauna, Salzfass, einen Kosmetiksalon, eine Bar mit erlesenen
Cocktails. Nur von einem persönlichen Butler steht nichts in den Prospekten.
Der wird demnach nicht gleich jedem zugeteilt. Nur den erlesenen Gästen.“
„Soll ich den
Direktor anrufen und sagen, wir haben uns anders entschieden. Meine wunderbare
Freundin möchte halt doch mal ausprobieren, wie das ist, ein persönlicher
Butler?“ Ich griff demonstrativ zum Telefon.
„Von wegen!“,
kreischte sie. Und sie schwenkte das pompös gestaltete Hotelprospekt. „Ich
möchte ganz was anderes. Hier steht, man kann im Bett frühstücken. Sie bringen
einem alles herauf. Alles. Bitte Erasmus, das vor allem wünsche ich mir.
Wünschst du dir das nicht auch?“ Ich schloss
kurz die Augen, ich atmete tief durch. „Ja“, sagte ich. „Das wünsche ich mir.
Aber bitte nicht von einem Butler serviert.“
Wir tranken auf der
Restaurantterrasse des Hotels Kaffee und Wein, und später schwammen wir im
blauen Wasser des Hotel-Pools. Wir tunkten in Holzbottichen mit duftenden Essenzen,
rieben uns mit Salz ein und aalten uns unter verschiedensten Wasserbrausen und
Farblampen. Tineke ließ sich eine komplizierte Gesichtsmaske im Kosmetiksalon
auflegen, ich schwitzte ganz allein im wohligen Kräuterdunst eines großen
Saunakastens. Zum Abend bestellten wir uns im vornehmen Restaurantgewölbe des
Hotels das neungängige Menü nach Art des Hauses und ließen uns an der Club-Bar
Cocktails mit exotisch klingenden Namen mixen. Wir nippten daran und bestellten
uns das nächste Getränk. Einfach so. Weil wir ausgelassen und glücklich waren.
Überall umschwärmten uns Kellner und Keeper, unter denen sich vielleicht auch
ein verkleideter Butler befand. Kerzenschein und ein milder Duft, die Klänge
dezenter Hintergrundmusik begleiteten uns. Wir schwelgten und genossen. Wir
waren ausgelassen und redeten nicht über die Unklarheiten der zurückliegenden
Tage oder über Zukunftssorgen. Nicht mal über betreuungsbedürftige Großmütter
und vermeintlich stümperhaft verfasste Manuskripte, nicht über unseren Gönner
Edward Erster und dessen Kongressverpflichtungen. Schon gar nicht erwähnte ich
das Treffen an Brücke sieben, das nun wieder ein paar Stunden näher gerückt
war. Nein, ich hatte es aus meinen Gedanken ausgeblendet.
Es war alles zu
berauschend. Das riesige Hotelbett mit den duftenden Bezügen, das Bad, das
vielmehr einem Labyrinth glich, das kontrastierte so wohltuend und auch so
unwahr zu meiner Hinterhofbehausung, selbst zum romantischen Küstenhaus der
Henriette. Wir staunten und kicherten und summten wieder Red, white and blue. Und Tineke sagte: „Ich vermisse deinen Hamster
und noch mehr das Knarren dieser alten Couch.“ Und ich erwiderte: „Und ich
vermisse die unbequeme Luftmatratze und das gespenstische Klappern deiner
Fensterläden. Keiner will uns überfallen.“ Wir ließen uns nach Mitternacht
abermals zwei außergewöhnliche Cocktails auf das Zimmer bringen. Sie wurden von
insgesamt drei Kellnern serviert, unter denen sich mindestens zwei Butler
befanden, wiederum verkleidet. Wir stießen fröhlich auf uns und auf diese
herrliche Nacht, auf unser Leben an. Wir lagen uns in den Armen. Ich flüsterte:
„Es ist wie eine Hochzeitsnacht. Eine Hochzeitsnacht ohne Butler.“ Und Tineke
flüsterte zurück: „Es ist viel zu schade, um die Zeit mit Schlafen zu vertun.
Und da wir unserem Butler Ausgang gegeben haben, gibt es wenigstens keine
Zeugen.“ Wir redeten und
alberten, wir tranken und umarmten uns, und als uns endlich die Augen zufielen,
wurde es draußen schon hell.
Wir erwachten
am späten Vormittag. Die Sonnenstrahlen kamen durch die offene Balkontür
hereingestürmt, sie tanzten wie lustige Kobolde über unsere Gesichter. Wir
machten wahr, was wir uns vorgenommen hatten: Frühstück im Bett. Ein Tablett
mit vielen geheimnisvollen Speisen und Getränken wurde verschmitzt diskret in
unser Zimmer geschoben. Sonnenschein. Bergpanorama. Romantischer Kitsch,
Realität. Tineke rekelte sich. „Der schönste Morgen unseres Lebens kann dies
leider nicht mehr sein. Den hatten wir gestern.“ Sie seufzte voller glücklichem
Bedauern. „Es sei denn, ein Reh würde plötzlich auf dem Balkon stehen und uns
Glück wünschen. Du weißt schon, in der wunderbaren Sprache.“
„Nein“, erwiderte
ich. „Ein Reh passt nicht in diese Umgebung. Es würde auf jeden Fall mit uns
frühstücken wollen. Und das geht nicht.“
„Geht wohl. Es
könnte Käse bekommen und Salatblätter. Auch Früchte. Orangensaft.“
Ich blieb bei
meinem Widerspruch. „Es ist nicht wegen der Kost, sondern weil wir das schönste
Frühstück unseres Lebens bereits hatten.“ „Ach ja.“
Tineke erinnerte sich. „Die Ofenfischer. Oder?“
„Ja“, sagte
ich. „Die friesischen Wattgnome würden uns das niemals verzeihen, wenn wir das
schönste Frühstück unseres Lebens wiederholen würden. Sie würden sich dann
verpflichtet fühlen, in unserer Nähe zu sein. Also müssten sie uns ins Hotel
folgen. Und das wäre ihr Untergang. Die Hoteldirektoren und die persönlichen
Butler hassen die Ofenfischer, wie man nur irgendwas und irgendwen hassen kann.
Sie würden sie einfangen und in der Küche zur Sklavenarbeit zwingen.“
Tineke fuhr
auf. „Sag bloß. Und warum?“
„Keiner weiß es
genau. Ich schon mal gar nicht. Ich wusste ja bis vor ein paar Tagen noch nicht
mal von der Existenz der Ofenfischer.“
„Aber von der
Existenz des Schweizleins wusstest du schon. Oder?“
Ich grinste.
„Auf jeden Fall. Mindestens seit drei oder vier Jahren. Ich wusste aber nicht,
dass es im Schweizlein so viele Butler gibt. Getarnte auch noch.“ Wir sahen uns
an. Wir kicherten.
Folge 15 vom 14. April. 2020
Nach dem
Mittag erst krochen wir aus dem Bett. Tineke sagte: „Ich möchte unbedingt auch wandern.
Nur im Hotel hocken, das ist kein richtiger Urlaub. Dafür kommt kein gebildeter
Mensch in das wunderbare Schweizlein. Ich will die Berge sehen und das einmalig
spezielle Grün der Almen. Und die sagenhaften Schweiz-Kühe sowieso. Vor allem
will ich hören, ob sie beim Muhen denselben Dialekt benutzen wie die anderen
Einheimischen. Und ich will Blumen pflücken und schweizcharakteristische Fotos
machen, die ich demnächst meiner Henriette zeigen kann.“ „Sie war niemals in der Schweiz, deine Henriette“, vermutete
ich treffsicher. „Nur mal im Sauerland. Und davon zehrt sie noch heute. Als
wäre es eine Weltreise. Oder?“
Tineke protestierte. „Spiel mal bitte nicht den Großkotz, du
potenziell reicher Kapitalisten-Neffe. Meine Henriette war nicht nur im Sauerland,
sondern auch im Schwarzwald. Und im Harz. Und zweimal in Holland und später gar
in Oberammergau. Sie hat alles mit der Bahn oder mit dem Bus und zu Fuß
bewältigt. Also waren es auch Weltreisen. Für sie. Und für mich. Wenn du es
genau wissen willst, haben diese Urlaube vor allem wegen mir stattgefunden. Und
mit mir. Damit ich was sehe von der wunderbaren Welt und damit ich mich erhole.
Weil ich dünn war und erschöpft und krank. Und weil mich die Welt nicht gut
behandelt hatte. Mich, das geplagte Scheidungskind. Und natürlich aus Gründen
der Vorsorge. Falls mal ein als bettelarm sich ausgebender Kapitalistenerbe
meinen Weg kreuzen sollte. So ein eigensinniger Schriftsteller, dem ich ein
paar eigene Lebenserfahrungen würde entgegensetzen müssen.“ Sie hatte sich in meinen Arm gehakt. Wir stolzierten durch
die Lobby des Hotels. Man nickte uns respektvoll zu. Und dienerte und knickste
man nicht auch? Verbeugungen, bei denen die pomadegetränkten Frisuren trotz tief
geneigten Kopfes am Schädel klebten, und Knickse, bei denen sogar die
Kleidersäume der nur knielangen Dienströcke den spiegelglatten Fußboden polierten.
Der ursprünglich als bettelarm getarnte Schriftsteller mit seiner hübschen
Freundin. Die beiden hatten freiwillig auf ihren persönlichen Butler
verzichtet. Trotzdem und gerade deshalb: Warm halten, das sind und das werden gute
Pfründen. Diese zwei. Jetzt und später.
Immerhin, Tineke fand sich inzwischen gut mit der Rolle der
Kapitalistenfreundin zurecht. Schnell hatte sie gelernt, den Umgang mit dem
Luxus zu meistern. Unverbindlich erwiderte Freundlichkeit. Distanz. Selbstsicherheit. Und doch war sie froh, als wir uns außerhalb des Hotels befanden.
Außer Sichtweite der diversen Augenpaare. Weg von den Schönen und Reichen. Von
den Verwöhnten und den Bequemen. Auf frohem Wanderkurs. Kraxeln. Auf sanften
Bergpfaden und in lauschigen Wäldern. Wir waren unbeobachtet und konnten wieder
albern und ausgelassen sein. Wir sangen kitschige Volkslieder, wir schunkelten,
während wir liefen. Wir belauschten die rotbunten Kühe, aus deren Euter jeden
Abend beim Melken die auffällig verpackten Schweiz-Tafeln purzelten. Wir
pflückten schlicht blühende Blumen und langhalmige Gräser, mit denen wir uns
gegenseitig kitzelten, bewarfen und schmückten.
Und wir kehrten nach strammer Nachmittagswanderung auf des Berges
Gipfel ein. In jenes Café mit dem wunderbarsten Ausblick, den wir uns
vorstellen wollten und mit dem profansten Namen, den man sich vorstellen konnte.
Berg Café. Es herrschte wenig Betrieb, vielleicht, weil wir uns in der Phase
zwischen Kaffeezeit und Abendbrot befanden.
Und doch hätten wir beinahe ihn übersehen. Edward Erster, der mein Onkel war. War er, saß er
wirklich hier? Ich glaubte es zunächst nicht. Es passte kein bisschen in die
Beschreibungen seines Tagespensums, zu seinen Auftritten, zu seinen Klagen und
dem Stöhnen am Telefon. Nun gut, er, wenn er es war, hatte sich im Wintergarten
platziert. Diskret, gedeckt, den Rücken zu uns und den anderen wenigen Gästen gekehrt.
Wir sahen sein Gesicht nicht. Aber die Gesten und die Kontur, auch die Kleidung
sprachen für sich, für ihn: Dies war Edward Erster, nur er.
Nein, nicht nur er.
Nicht allein, sondern zu zweit. Damengesellschaft. Gut aussehend. Blond, glattes Gesicht, Sonnenbrille,
charmant lächelnd. Nicht mal halb so alt wie er. Guter Geschmack, dachte ich, wie immer.
Eine Eroberung? Aus welch anderem Grund sollte sich Edward Erster
hier aufhalten? Zumal er nun auch jene Schlacht verlassen hatte, in der er sich
auf jeden Fall hatte behaupten wollen, müssen, sollen. So wie er es voller
Nachdruck verkündet hatte. Mir, Tineke. Der Kampf um die Ablehnung des
Vorsitz-Postens.
„Soll ich hingehen und ihn ansprechen?“ Ich hatte für einen
Augenblick diese Idee.
„Nein!“, beschwor mich Tineke. „Es könnte ihm peinlich sein. Es
könnte seine Begleiterin in Verlegenheit bringen. Man nennt das
kompromittieren. Vor allem, er könnte denken, wir spionieren ihm nach.“ Sie
lächelte auf einmal verständnisvoll. „Und wenn es eine Affäre ist, geht uns das
rein gar nichts an. Oder? Lass uns verschwinden, solange er uns nicht bemerkt
hat.“
Es war
gut, dass wir keine Neuauflage des vorigen Abends, der vorigen Nacht
veranstalteten. Wir hatten diesmal mehr Schlaf, wir wurden somit durch das
morgendliche Summen des Zimmer-Telefons nicht völlig überrascht.
Überrascht aber wurden wir. Acht Uhr. Nun gut, ich hörte zunächst nichts als tiefe, unregelmäßige
Atemzüge. Doch ich dachte, ahnte, wusste, wer sich an der anderen Seite der Leitung
befand. Die aufgeregt hervorgestoßenen Worte bestätigten es sowieso. „Lass uns heute
abfahren, Erasmus!“ Es war Edward Erster, der darum bat. Ich wartete, dass er gleich mehr sagen würde. Nein, es blieb
still, nur seine Atemzüge drangen erneut wie die Geräusche eines heftig arbeitenden
Blasebalgs zu mir. Ich dachte, er wird seine Gründe haben. Ich sagte daher: „Meinetwegen.
Tineke fängt in Kürze ihren neuen Job an, und für mich ist es auch gut, wenn
ich zu Hause einiges regeln kann. Ich bin gegen zehn bei dir am Hotel.“
Edward Erster fand seine Sprache sofort wieder. Aufgeregt,
ungeduldig. „Um zehn? Himmel, wir müssen gleich los! Ich bin schon unten in
deinem Hotel. Wir nehmen den Hawk; du fährst.“ Er hatte so laut geredet, auf
dass Tineke sich aufsetzte im Bett und sich die Augen rieb. „Ist was passiert?“
Ich gab ihre Frage an Edward weiter. „Das erkläre ich dir, wenn wir unterwegs sind. Vielleicht.“ Damit war das Gespräch zu Ende. Ich ließ mich auf das
Kopfkissen zurückfallen. Ich schloss die Augen und versuchte meine Gedanken zu
sortieren. Tineke richtete sich auf. Sie sah mich wissend an. „Dein Onkel
steckt in der Klemme. Oder?“ Ihre Stimme klang ausgeschlafen. Sie zog an meiner
Decke.
„Er will weg hier. Er wartet unten. Es hört sich tatsächlich an,
als sei er Schwierigkeiten.“
„Wegen der Vorstandswahl?“
„Ich tippe eher auf die blonde Schönheit, mit der wir ihn gesehen
haben. Vermutlich hat er ihr große Versprechungen gemacht, um sie schneller
erobern zu können. Seine Spezialstrecke.“ „So kann’s gehen.“ Tineke hüpfte aus dem Bett. Sie kicherte.
„Ich will mal stark hoffen, dass du seine Masche bei mir nicht kopierst. Das
könnte unangenehme Folgen haben. Für dich.“ Sie verschwand im Sanitärlabyrinth
unserer Luxussuite. Doch sie tauchte gleich wieder auf und warf ihren Pyjama
nach mir. „Trotzdem sollten wir deinen Ex-Eskimo nicht im Stich lassen. Komm
duschen, danach verschwinden wir.“
Schon rauschte das Wasser.
Das
Frühstück entfiel. So sehr eilig hatte es Edward Erster. Er wollte zunächst
auch nicht über den Grund der überstürzten Abreise reden. Gar nicht wollte er
reden. Ein schlechtes Zeichen. Wir saßen im Silverhawk, wir starteten. Ich
sollte fahren. Er hatte es vorhin beschlossen.
„Und die Limousine, wer wird sich darum kümmern? Mit der bist
du doch gekommen.“
Er winkte ab. Es sah oberflächlich aus. „Darüber müssen wir
nicht reden. Vorerst habe ich von der Rezeption meines Hotels aus für einen
Monat eine Einzelgarage gemietet. Dorthin wird der Wagen gebracht. Ich lasse
ihn irgendwann abholen.“ Und er versprach: „Dass ich euch jetzt so abrupt den Urlaub
versaue, tut mir leid. Ich mache das wieder gut.“
Tineke tröstete ihn. „Wir wollten sowieso nicht so lange
bleiben.“
Er nickte. Es sah dankbar aus. Danach fiel er auf den Beifahrersitz
und schwieg und starrte durch die Frontscheibe. Was mochte ihm durch den Kopf
gehen?
Tineke und ich schwiegen ebenfalls. Nach zwei Stunden beschloss
ich, die Fahrt zu unterbrechen. „Wir haben noch keinen Happen gefrühstückt“,
sagte ich. Und: „Und du, Edward, hast du nicht auch Hunger?“
Nein, Hunger hatte er nicht. Gerade noch Appetit auf einen
Kaffee. Und auch den trank er schweigsam und spürbar missmutig.
Wir ließen ihn zunächst in Ruhe. Wir schwiegen mit. Wir
schwiegen uns an. Schließlich fragte ich: „Wie ist das, wenn wir dich nach
Berlin gebracht haben, können Tineke und ich dann mit deinem Hawk weiterfahren,
an die Küste? Nur ein paar Tage. Dieses eine Mal noch.“
Es war, als würde ihn ein Giftpfeil treffen. Oder wenigstens
eine Ladung eiskalten Wassers. Er zuckte zusammen, er schüttelte sich. „Berlin,
um Himmels willen. Dort kann ich die nächsten vier Wochen nicht hin.“ Da wir
ihn erstaunt anstarrten, sah er sich endlich zu einer Erklärung genötigt. „Ich
habe jemandem meine Adresse gegeben. Einer Frau, um genau zu sein.“ Ich
griente, und ich stieß Tineke an. Er sah es, er fauchte: „Nein, keine Affäre.
Wenn es nur das wäre, hätte ich mich nicht so klammheimlich aus dem Staub
gemacht.“ Ich staunte, Tineke ebenfalls. „Ich habe ihr versprochen, in einem
Film mitzuwirken. Ein längerer Werbespot, in dem es um rüstige Senioren geht.
Die Dreharbeiten sollen nach diesen vier Wochen beendet sein.“
„Was ist daran schlimm? Du bist rüstig. Und Senior bist du
auch.“
Er schüttelte den Kopf. Und er starrte, als würde das Gift,
das man ihm per Pfeil verabreicht hatte, jetzt wirken. Als würde es aus seinen
Augen heraussprühen. „Danke für dieses fadenscheinige Kompliment. Ich fühle
mich weder rüstig noch als Senior. Auch wenn die Achtundsiebzig
in meinem Ausweis steht. Ich fühle mich mindestens so leistungsfähig wie einer,
der halb so alt ist wie ich. Vollwertig. Oder meinst du, ich hätte sonst die
Schlacht im Kongress so erfolgreich schlagen und meine Wahl zum Vorsitzenden
abwenden können? So heftig wie sie mich mehrere Tage lang bedrängt und
bearbeitet haben.“
Ich verstand ihn nicht. Ich sagte ihm das. Und ich sagte
auch: „OK, du willst nicht zu deinem Alter stehen. Aber du könntest so tun.
Wenn Schauspieler in Kriminalfilmen irgendwelche hinterhältigen Mörder
darstellen, sind sie es ja in der Realität auch nicht. Jedenfalls ist mir kein
Fall bekannt, in dem es so wäre.“
Er stöhnte. Er wischte mit einer Geste mein Argument vom
Tisch. Und mit seiner Erklärung: „Ich habe dieser Frau zugesagt, dass wir den
Spot in meiner Villa drehen können. Mit alten und jungen Leuten. Wir wollten so
tun, als ob ich allen erlaubt hätte, bei mir zu wohnen.“
„O“, entfuhr es Tineke. „Ein Mehrgenerationen-Projekt. Das
ist ja cool.“
Er schüttelte mürrisch den Kopf. „Ich will das nicht. Ich hatte
das zuerst nicht so wahrgenommen. Aber inzwischen habe ich das Gefühl, es ist
die Realität. Ich spüre, wie ich mich immer weiter hineinsteigere. Und ich
erkenne, dass man mich in dieser Realität voll auf die Seite der Alten gestellt
hat. Das macht mich depressiv. Und alt.“
Wir hatten das Restaurant verlassen und waren jetzt auf dem
Parkplatz. Wir stiegen in seinen Hawk. Er starrte, während wir über die
Autopiste sausten, erneut durch die Frontscheibe. Nur das. Er schwieg dabei. Tineke
und ich starrten und schwiegen mit. Nicht mehr lange und wir würden das
Autobahnkreuz mit dem Abzweig erreicht haben. Berlin, die Küste. Viele andere Ziele.
Wohin sollte es gehen?
Ich fand das Schweigen und Starren furchtbar. Ich schlug
endlich vor: „Du solltest untertauchen. Im Ausland. Am besten im Ostblock. Oder
in China. Dort wird dich niemand vermuten. Niemand wird dich dort finden.“ Er sah ärgerlich aus. Er fauchte: „Spar dir den Zynismus.“ War ich zynisch? „Na gut“, lenkte ich ein. „Dann nimm dir
hier ein Hotel. Oder geh in die Staaten.“
Er schüttelte missmutig den Kopf. „Irgendjemand wird mich
erkennen. Es geht ganz schnell. Gerade, wenn man’s speziell auf Geheimhaltung
angelegt hat. Sofort ist es in der Presse oder in der Glotze, und die besagte Dame
bekommt davon Wind und rückt mir auf den Pelz.“ Er schüttelte den Kopf, er
schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Er schimpfte leise. „Wie
konnte ich nur so unbedarft sein.“ Er flüsterte: „Für eine Nacht ...“ Aha, dachte ich, ausgelassen hat er diese Gelegenheit also doch
nicht. Ich empfand direkt ein bisschen Schadenfreude.
Dann murmelte er: „Ich hätte die Ferienhäuser nicht verkaufen
und in Aktien umwandeln sollen. In dieser Einöde an der See, wo sich Fuchs und
Hase gute Nacht sagen, wäre ich jetzt unauffindbar. Regelrecht unsichtbar.“ Er
machte ein verbittertes Gesicht. „Dieser Finanzberater mit seinen geldgierigen
Ratschlägen, dieser Vollidiot.“
Ferienhäuser – Tineke hatte seinen Monolog ebenfalls mitbekommen.
Sie stieß mich an. Sie hätte es nicht tun müssen, ich hatte im Augenblick den
gleichen Gedanken wie sie. „Du, Edward“, fragte ich ziemlich zuversichtlich,
„was hältst du davon, wenn wir zwei, das heißt wir drei, an die Küste fahren?
In ein kleines Landhaus. Mit Familienanschluss.“
Er starrte nun nicht mehr die Frontscheibe, sondern mich an.
Ich zeigte nach hinten. Dort saß Tineke. Sie erklärte ihm die Offerte. Ferienwohnung,
Henriette, Abgeschiedenheit. Der Deich, die Wiesen, Ebbe und Flut, die
blökenden Schafe. Vier Wochen oder mehr. Allerdings: niemand zum Verführen.
Und die Ofenfischer? Nein, die verschwieg sie, denn die würde
er ohnedies nicht zu sehen bekommen. Er schon mal gar nicht. Dafür aber galt
für ihn: absolutes Inkognito inklusive.
Edward Ersters Gesicht wurde hell, es belebte sich. Er bat,
ich möge an der nächsten Raststätte halten, denn er habe heute noch nicht
gefrühstückt.
Alles konnte, es musste gut werden. Und wenn nicht alles, so
doch eine Menge.
Um Ihnen das Lesen der Fortsetzungen zu erleichtern,
folgen Sie bitte ab dem 15. April 2020 der Romanhandlung mit Folge 16
unter der Rubrik 002-firstminute-lese-community Und so geht es, wenn Sie mögen
(oder du magst), voraussichtlich am 15. April 2020 unter der Rubrik 002-firstminute Lese Community weiter:
mit 2. Teil (dieser wunderbaren Geschichte) VOR, HINTER UND AUF DEM DEICH