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literatur GEGEN Gewalt und Extremismus

Die nachfolgende kostenlose
Fortsetzungsreihe erfolgt aus dem Roman

SEIN ERSTES BUCH
von Alexander Richter-Kariger

erschienen 2011 im
firstminute Taschenbuchverlag
540 Seiten
© alle Rechte beim Verlag


*****          *****          ******          ******



Liebe Lese-Community, bitte folgen Sie den (nicht immer ganz)
regelmäßigen Fortsetzungen. Es wird immer spannender.


I. Teil

Über Tineke, mich und mein erstes Buch 

Dies ist die Geschichte meines ersten Buches. Ich habe dieses Buch wegen Tineke geschrieben. Und wegen mir. Und weil es eine Menge zu erklären gab. Natürlich, ich wollte Schriftsteller werden. Das sowieso.Tineke hat mein erstes Buch gefallen, und das hat mich glücklich gemacht. Und noch glücklicher gemacht hat mich, dass sie gesagt hat, wie sehr sie mich liebt.
Das war allerdings schon vorher. Bevor ich mit dem ersten Buch überhaupt begonnen hatte.Ich selbst hatte mich auch verliebt. In Tineke. Sozusagen unsterblich. So wie sie sich in mich verliebt hatte. Mindestens so. Vielleicht noch mehr. Das war noch in der Zeit, in der ich an einem anderen Buch gearbeitet habe. Dieses andere Buch hatte ursprünglich mein erstes Buch werden sollen. Ja, so ändern sich Pläne. Und Absichten. Das andere Buch ist jedenfalls liegen geblieben. Vielleicht wird es mein zweites Buch. Oder mein drittes. Oder gar keines.
Mein erstes Buch berichtet von seltsamen Erlebnissen. Alle sind wahr. Dabei hatte ich zunächst nicht geglaubt, diese Erlebnisse niederzuschreiben zu können. Aber Tineke hatte mich ja dazu ermutigt. Zum Schreiben. Zur Wahrheit. Das, genauer sie, hat mir Sicherheit gegeben. Und Mut. Beim Denken, beim Schreiben. Beim Planen neuer Bücher. Für das Leben überhaupt. Ich setze mich nun nicht mehr unter Druck. Ich versuche nicht, es zu erzwingen. Weil ich kapiert habe, dass man einfach mal auf jemanden, der einem sehr nahe steht, hören soll. Und eine Pause einlegen. Und am Leben teilnehmen. Und man soll ruhig mal einen tollen Ausflug machen, den einem nachher niemand glaubt. Oder eben nur ein paar Leute.

Ja, vielmehr will ich vorab gar nicht ausplaudern. Es findet sich alles. Wenn man’s liest. Mit ’s meine ich die Geschichte meines ersten Buches.
Ich freue mich, wenn Sie sie lesen. Oder du.    

Über Edward Erster 

Edward Erster ist mein Onkel. Er ist fünfzig Jahre älter als ich. Nein, nur neunundvierzigeinhalb. Edward Erster geht es gut, gesundheitlich und vor allem finanziell. Trotzdem stresst er hin und wieder. Mich. Er stresst, wenn er sich in meiner Nähe aufhält. Zumindest, solange ich diese Wohnung hatte, in die sonst niemand gezogen wäre, hat er es getan. „Eine Höhle.“ Ganz Unrecht hatte er damit nicht. Edward Erster tut, als müsse er sich um mich Sorgen machen. Er tut nicht nur so. Er macht sie sich wirklich. Weil ich nicht so lebe wie er. Er tut, als müsse ich zurück in seine Villa ziehen oder mir von ihm eine Eigentumswohnung schenken lassen. Oder ein Häuschen. Oder eine ganze Straßenzeile. Damit ich ein Leben führe wie er. Dann wäre er eine wesentliche Sorge los. Ich für meinen Teil halte Edward Ersters Sorgen für völlig überflüssig. Ich habe andere Ansprüche an das Leben als er. Es geht mir nicht um finanzielle Erfolge. Zumindest um keine, die ich Edward Erster zu verdanken haben soll. Ich möchte mir das selbst erarbeiten. Er hat es schließlich auch getan. Trotz der unterschiedlichen Ansprüche und Ansichten fühlen wir uns sehr miteinander verbunden. Verwandtschaft eint; vor allem, wenn sie nur aus zwei Personen besteht. Einem Alten, der sich nicht alt fühlt und es irgendwie auch nicht ist, und einem Jungen, der sich abgrenzt, weil er eigenständig sein will. „Verwandtschaft sollte Transparenz schaffen.“ Edward Erster wünscht sich diese Transparenz. Von mir. Er sagt: „Du solltest keine Geheimnisse vor mir haben und endlich mal die Karten auf den Tisch legen. Ich habe schließlich auch keine Geheimnisse vor dir.“ Nun denn, ich ließ die Karten lieber zugedeckt. Man kann hier nachfolgend lesen, warum ich das tun muss. Oder tun musste, denn irgendwann habe ich sie ja doch aufgedeckt, diese Karten. Und meinen Lebensstil habe ich, weil es unvermeidbar war, sowieso geändert. In einigen Belangen jedenfalls. Ich habe es aber nicht wegen Edward Erster getan, wiewohl er damit mal wieder seine Grundsätze bestätigt sah. Diese fürchterlichen Grundsätze, sie sind in unserer Familie besonders ausgeprägt. Geheimnisse beispielsweise werden nicht ohne weiteres offenbart. Und Gefühle versteckt man auch bestmöglich voreinander. Schon gar nicht zeigt man sie vor anderen, unbeteiligten Leuten. Grundsätze werden jedem neu geborenen Erster bereits in die Wiege gelegt. Oder sollte man sagen, an der Wiege gesungen? Damit hat er dann sein Leben lang zu kämpfen. Allein mit dem Grundsatz und den Folgen der Doppel-Initialisierung des Namens. Das E. „Solange der Name Erster vererbt wird, haben der Nachname und der Vorname seines Trägers mit einem E zu beginnen!“ So spricht Edward Erster. Und somit heiße ich Erasmus Erster. 

 
Eskimoküsse

Es war der erste Besuch, den mir Edward Erster in meiner Berliner Hinterhofwohnung abstattete. Sicher auch der letzte. Es hatte seinen Grund, dass er gekommen war. Er hatte ihn, Edward Erster, diesen Grund. Nein, nicht die Ankündigung seiner bevorstehenden Abwesenheit. Die nahm er nur als Vorwand. Wenngleich er sie mit gewohnter Ernsthaftigkeit, sogar mit einer gewissen Strenge vortrug. „Ich habe eine Einladung zur Vorstandssitzung unseres Clubs.“ „Sind es die Milliardäre oder nur die Millionäre?“ Er überging meine hämische Frage. „Es ist in der Schweiz. Ich bin also einige Zeit fort.“ „Schweiz ist immer gut.“ Ich lächelte zustimmend. „Die Luft, die Berge. Die Menschen, besonders die Frauen.“ Auch darauf reagierte er nicht. „Da ich mit dem Auto fahre und die Reise demzufolge einige Zeit in Anspruch nehmen wird, habe ich beschlossen, gleich etwas länger zu bleiben. Ich fahre zwei Wochen, bevor die Sitzung stattfindet und gehe noch in ein kleines Wellness-Hotel. Bisschen Fitness, bisschen Entspannung.“ „Und bisschen Amüsement“, ergänzte ich. „In der Schweiz hat das alles Niveau.“ Edward Erster lächelte jetzt. Doch er wurde gleich wieder ernst. „Ich möchte, dass du dich während meiner Abwesenheit um etwas kümmerst. Es ist ein persönliches Anliegen, das ich keinem anderen Menschen übertragen will.“ Er stellte einen großen, kastenförmigen Behälter, der oben einen Griff hatte, auf den Boden. Was sich in dem Behälter befand, konnte ich nicht sehen. Er war mit einem dunkelblauen Tuch überdeckt.
„Ist das ein Vogelbauer?“, fragte ich. „Ich wusste gar nicht, dass du dir einen Vogel zugelegt hast.“
Edward Erster wischte unwillig mit den Händen durch die Luft. „Nein, kein Vogel. Aber eine Art Bauer ist es schon. Da ist ein Hamster drin. Ein wunderbares Tier.“ Ich verstand es nicht, ihn verstand ich nicht. Ein Hamster, auch ein anderes Haustier, das war völlig gegen seine Art. Es belastete ihn, es machte ihn abhängig, verantwortlich. Und er mochte ja gar keine Tiere. Außer auf dem Fernsehbildschirm, hin und wieder. „Hamster sind im Grunde ganz wunderbare Gefährten. Kuschelig, anhänglich, bis zu einem gewissen Grade sogar intelligent. Eigentlich auch anspruchslos. Dieser ist zudem besonders schön. Sein Fell wird durch eine bläulich schwarze Tönung bestimmt. Das gibt es, habe ich mir sagen lassen, nur selten.“ Er zog vorsichtig die Decke weg, faltete sie zusammen und legte sie neben den Bauer. Und mit einem bedeutungsvollen Blick sagte er: „Er ist ein Geschenk einer alten Freundin, die mich neulich besucht hat.“ Weibergeschichten, dachte ich, wenn er hundert werden sollte oder einhundertundfünf, Edward Erster, wird er damit nicht aufgehört haben, weil er nicht aufhören wird, den Frauen hinterherzusteigen, weil er sie nicht aus seinem Kopf bekommen wird. Allerdings auch: sie ihn nicht. „Sie konnte sich selbst nicht um ihn kümmern, und daher hat sie mir das reizende Tierchen überlassen. Als Geschenk. Obwohl es ihr sichtlich schwergefallen ist.“ Geschenk, dachte ich, Hoffnungen wirst du ihr gemacht haben, Edward Erster, daher hat sie dir den Hamster aufgedrückt. Um sich bei dir in Erinnerung zu bringen. Ich schwieg jedoch. „Stell dir vor, sie hatte dem Tier nicht mal einen Namen gegeben. Deshalb habe ich es getan. Ich habe ihn Peterchen genannt. Ich hatte da in meiner Firma vorübergehend einen Mitarbeiter, dem er ähnlich sieht. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Mitarbeiter hieß Petermann, aber hinter seinem Rücken wurde er Peterchen genannt. Dieser Petermann war keineswegs unbegabt. Du weißt, ich habe in meiner Firma stets ein Auge auf gute Leute gehabt. Wie weit sie auch unter mir gearbeitet haben. Ich habe sie gefördert, weil sie mir nützlich waren. Diesen Petermann habe ich mir beizeiten in die Zentrale geholt. Er hatte das Zeug zu einem kreativen Werbespezialisten. Umsichtig und flexibel. Ich habe ihm in Eigenverantwortung ein großes Projekt übertragen und ihn gut bezahlt. Ich hatte ihn auch schon für weitere Aufträge eingeplant. Nun, er hat seine Chance nicht genutzt, er war nicht loyal. Er hat heimlich Unterlagen von fast fertigen Projekten kopiert, um sie weiterzuverschachern. Wie idiotisch. Der Betrug kam heraus, ich musste ihn rausschmeißen.“ Ich starrte durch die Gitterstäbe des Hamsterkäfigs auf das kleine schnüffelnde Kuschelknäuel, das sich seinerseits in Männchen-Manier emporreckte und mich frech anblinzelte. Ich fragte: „Wie ich dich kenne, hast du an diesem Petermann noch anderweitig Rache genommen, als nun nach Jahrzehnten einen Hamster nach ihm zu benennen.“
Edward Erster überging die Bemerkung. Er ließ seinen Blick durch die Wohnung schweifen: „Dieser Hamster möchte am liebsten bei jeder Gelegenheit seinen Stall verlassen. Natürlich darf er das nicht. Er könnte weglaufen. Oder er macht sich an den Möbeln zu schaffen, was für gewöhnlich zu Ärger führt. Na ja, wenn er bei dir mal ein Stuhlbein annagt, ist das nicht so schlimm.“ Er räusperte sich, was ein bisschen eine Entschuldigung sein sollte. „Ich stelle das rein theoretisch fest.“ Egal, die Bemerkung regte mich weder an noch auf. Was meine Möbel anging, stand ich absolut über den Dingen. Es gehörte einfach zu meinem Lebensstil, dass sie einen exemplarischen Sperrmüll-Charme ausstrahlten. Heruntergekommen, aber stolz, so lautete meine Lebenseinstellung, so sah mein Weltbild aus. Auch was die Möbel anging.
„Wie ist das nun mit dem Futter?“, fragte ich, um das Hamster-Thema, auch seinen Besuch, wenn schon nicht abzuschließen, so doch abzukürzen. „Kriegt er das schimmlige Brot, das ich in und neben den Mülltonnen finde?“ Edward Erster meuterte gewaltig. Es wirkte beinahe echt.
„Von wegen. Man gibt Tieren keine Nahrungsmittel, die man selbst nicht essen würde. Das wäre unmenschlich.“ Er legte einen Bogen im Format DIN A 4 auf den Tisch. „Hier steht alles drauf. Wann er gefüttert werden muss und womit, was für die Pflege seines Fells erforderlich ist und welche speziellen Zuwendungen er regelmäßig bekommen muss.“
Ich lächelte. Zuwendungen, Pflege des Fells, musste er so dick auftragen? Nein, das war noch gar nichts.
Edward Erster sah mich eindringlich an: „Peterchen braucht unheimlich viele Vitamine und Ballaststoffe, sonst leidet seine Physis ebenso wie seine Psyche! Vor allem könnte sein Fell den Glanz verlieren.“ Ich dachte, das bist nicht du, der da spricht. Nicht Edward Erster, ein Hamsterprediger. Ich schaute auf den Zettel, dann auf Peterchen. Das Gesichtchen des Hamsters wirkte altklug; es hatte eine drohende Miene aufgesetzt: Wehe, Erasmus Erster, du fütterst mich nicht nach Vorschrift. Und wehe, du nimmst es mit der Pflege meines Fells nicht so genau, wie Edward Erster dir das sagt, dann kriegst du Ärger. Ich hatte nicht übel Lust, dem kleinen Kerl die Zunge herauszustrecken. Ich tat es nicht, wegen Edward. Er wollte ernst genommen werden. Und es ging ihm ja nicht um sein eigenes Befinden. Höchstens mittelbar. Ich begnügte mich mit dem Gedanken an jenes Spottlied: Traktor hin, Traktor her, der arme Hamster kann nicht mehr …
„Hier ist das Geld, das du für seinen Unterhalt brauchst“, sagte Edward Erster. „Ich habe alles gründlich durchkalkuliert.“ Er drückte mir fünfhundert Piepen in die Hand. Was für ein Haufen Geld. Für einen einzigen Hamster. Und für mich, der ich als gewollt armes Genie seit mindestens einem Dreivierteljahr ohne Einkommen lebte. Meine gesamten Ersparnisse hatte ich verbraucht und danach peu á peu meine sämtlichen Besitztümer verkauft. Zuletzt hatte ich sogar die kostbare Plat­tensammlung weggegeben. Verborgt, verpfändet, wie immer man das nennen mochte. Ich schloss kurz die Augen und rechnete ein bisschen. Und siehe, ich kam auf einen Pflegesatz von mindestens dreißig Euro je Tag. Dreißig Euro für den Hamster. Dreißig Euro für mich. Ich überlegte, ob ich das Geld annehmen sollte. Verstieß der Zuschuss nicht gegen meine Grundsätze? Durchbeißen, selbst verwirklichen, entbehren. Kein Geld andrehen lassen, das du nicht wirklich selbst verdient hast. Und später, wenn ich Erfolg haben würde, sagen können: Das habe ich mir sauer erkämpft, erhungert, erlitten. Fast erstorben. Nur so ist man heutigen tags als Bestsellerautor authentisch. Na ja, Augenzwinkern. Ich musste die Fünfhundert nicht als Geschenk betrachten. Ich erhielt sie als Lohn und als Aufwandsentschädigung. Ich verdiente sie, indem ich mich mit dem lästigen Hamster herumplagte. Ein Job. Und so gesehen waren dreißig Euro pro Tag eher ein lausiges Einkommen.  
Edward Erster war längst nicht fertig mit seinen Erklärungen, seinen Fragen. „Stimmt es wirklich, dass du unsere schöne Plattensammlung verkauft hast?“ „Diese Plattensammlung gehörte mir. Nicht uns. Bitte, vergiss das nicht, Edward. Und genau genommen habe ich sie nicht verkauft. Ich kann sie jederzeit wiederbekommen. Als Gesamtpaket oder in einzelnen Exemplaren. Ich könnte sie mir auch ausleihen oder ganz zurückgeben lassen. Schenken. Ich müsste sie nicht mal auslösen.“
Edward Erster ließ das nicht gelten. „Die Platten waren von deinem Vater. Er hat sich jede einzelne Scheibe vom Mund abgespart. Jede Woche ist er zu einem dieser Musikläden gelaufen und hat sich die neuesten Erstausgaben geholt. Oft genug musste er sogar anstehen. Alles Stücke aus der großen Zeit. Du glaubst gar nicht, Erasmus, wie auch ich an der Sammlung gehangen habe. Und noch hänge.“
„Und wenn, Edward. Vererbt hat er sie mir. Nicht uns beiden. Folglich kann ich damit machen, was ich will. Und wenn mal meine große Zeit kommt, hole ich sie mir ja wieder. Endgültig. Oder ich lasse diese Platten, wo sie sind. Weil ich sie vielleicht gar nicht mehr will.“
Edward Erster seufzte schwer. „Du weißt, Erasmus, dass ich dir die Platten ebenso abgekauft hätte.“ „Ja“, erwiderte ich. „Und ich weiß, dass du mir das Geld auch einfach so gegeben hättest, ohne dass du die Platten hättest haben wollen. Das Doppelte, das Dreifache. Aber das wollte und will ich nun mal nicht.“
Er tat, als hätte er mich nicht gehört. Sein Blick durchwanderte meine Wohnung, und er seufzte gleich noch mal, diesmal viel herzhafter, irgendwie richtig deprimiert. „So wie du hier haust, in diesem Loch von einer Hinterhofbehausung, fällt es mir schwer, an eine große Zeit für dich zu glauben.“ Er nestelte unruhig mit der linken Hand an seinem Halstuch, das von einer goldenen Spange, auf der ein ziemlich kostbarer Stein prangte, zusammengehalten wurde.  Ich zuckte ostentativ gelangweilt mit den Achseln und schwieg. An sich hätte Edward Erster jetzt gehen müssen. Zurück in seine Villa oder hinunter auf die Straße, wo eines von seinen exklusiven Autos stand. Mehr oder weniger war alles besprochen. Zwischen uns. Aus meiner Sicht. Aus seiner nicht. Er kam, um sich noch festzuhalten, daher wieder auf den Hamster zu sprechen. Auf dessen Betreuung. Auf jenen Bogen mit den Anweisungen. Was da alles notiert war, unglaublich. Ein König konnte nicht besser versorgt werden. Peterchen musste nicht nur erstklassiges Futter bekommen, sondern Edward Erster hatte auch ein ausgeklügeltes Pflegeprogramm für ihn festgelegt. Wer ihm das nur ausgearbeitet hatte? Ein Rassekaninchen-Züchter vielleicht? Seinen Notizen nach wurden diverse kostspielige Mittel benötigt, die ich alle beschaffen sollte: Shampoo, Softgel, Öl, sogar ein Zahnpflegemittel. Und dabei tat Edward Erster, als hätte er noch nicht mal an alles gedacht. Er überlegte auffällig angestrengt, ob er nichts vergessen habe. Tatsächlich setzte er noch eins drauf: „Alle diese Mittel kriegst du nur in einem Spezialladen. In der Genossenschaft an der stillgelegten Fernverkehrsstraße. Bitte versuche nicht mal in Gedanken, sie in einem anderen Geschäft zu kaufen. Du könntest Peterchens Konstitution damit schwächen.“ Ich stöhnte in mich hinein, dann entgegnete ich entschlossen: „Die Genossenschaft liegt immerhin achtzehn Kilometer vor der Stadt. Da fährt nicht mal mehr ein Bus. Ich müsste erst mein Fahrrad reparieren, um dorthin zu kommen.“ Edward war auf diesen Umstand vorbereitet. Er hatte ihn ja wohl absichtlich herbeigeführt. „Ich lass dir eines von den Autos hier, den Hawk. Er steht vor der Haustür. Bin damit gekommen. Ein Chauffeur holt mich gleich mit der Limousine ab. Das heißt, wahrscheinlich wartet er schon unten.“ Er klopfte mit der flachen Hand auf sein Jackett, auf die Stelle, wo die Brieftasche saß. „Übrigens, bei der Versicherung habe ich dich schon vor längerer Zeit als Mitnutzer eintragen lassen. Und zwar für alle Fahrzeuge. In meinem Alter muss man mit allem rechnen. Du bist also im Falle eines Unfalles abgesichert.“ Er bedachte mich mit einem viel sagenden Blick.
Ich nickte zweifelnd. Es war ungewöhnlich, dass er von sich und dem Tod in einem Satz redete. Er hielt sich vielmehr für unsterblich. Genauso ungewöhnlich war es, dass er mir den Hawk überlassen wollte. In Sachen Autos war er bislang sehr speziell gewesen. Mit speziell meine ich das Gegenteil von großzügig. Seine Autos waren für ihn das, was dereinst für meinen Vater die Schallplatten gewesen sein mussten. Eine Leidenschaft. Tatsächlich besaß er acht sehr teure Fahrzeuge, die er sorgsam hütete und eigentlich nie aus der Hand gab. Vier davon waren ausgesuchte Oldtimer, Einzelstücke. Sie befanden sich in einer hochgradig gesicherten Garage außerhalb der Stadt. Sie wurden zu besonderen Anlässen vorgeführt. Zu Fototerminen, für Werbespots oder teure Spielfilmproduktionen über alte Zeiten, zuweilen auch für Dokumentationen über andere pröllige Kapitalisten, die sich das Luxusgefährt ebenfalls gegönnt hatten. Die Haltung der Fahrzeuge war nicht eben billig, doch die Film- und Foto-Aufnahmen, die sich Edward Erster fürstlich vergüten ließ, bescherten ihm zugleich ansehnliche Einnahmen, die er keineswegs brauchte und über deren Höhe er kein Wort verlor. Den Silverhawk hatte er hingegen hier in der Stadt. Der Wagen war erklärterweise sein Lieblingsspielzeug. Eine spezielle Spezialanfertigung mit schwindelnd hoher PS-Zahl, aufklappbarem Dach und so manchen Raffinessen. Gewiss der Traum von einem Auto schlechthin, von dem es in dieser Ausführung auf diesem Erdball kein zweites Modell gab. Edward Erster benutzte das Prunkstück zu Ausfahrten, die über die Stadtgrenze hinaus führten und bei denen er gegebenenfalls mal ordentlich aufdrehen musste, wollte, durfte, oder er fuhr damit bei jemandem vor, um ihr zu imponieren. Ich gebrauche absichtlich die weibliche Form, denn es ging fast nur um hübsche Frauen, deren Altersunterschied, gemessen an seinem Alter, von Jahr zu Jahr zunahm. Ansonsten fuhr er meist ein farblich unauffälliges Modell der äußerst gehobenen Luxusklasse, das er Limousine nannte. Er reichte mir den Schlüssel, und er sagte: „Das Verdeck lässt sich leicht aufklappen. Erst die Sperre unterhalb der Armaturen lösen und danach den grünen Button drücken. Für alle Fälle liegt das Heft mit den Bedienungsanweisungen sowieso immer im Fach der linken Tür. Da steht aber auch die Nummer der Service-Zentrale drin. Du kannst dort jederzeit anrufen, wenn du an dem Auto Schäden oder Unregelmäßigkeiten feststellen solltest. Sie können alles online beheben. Ohne dass sie kommen und den Wagen berühren müssen.“ Er lächelte beglückt. „Ich hab’s schon zweimal ausprobiert. Eigentlich nur, um den Service zu testen. Es klappt vorzüglich.“ Ich staunte. Nicht nur über die Service-Möglichkeiten, vielmehr über die Tatsache, dass mir Edward Erster seinen Hawk überlassen wollte. Es war für mich bis dato unvorstellbar gewesen, jemals dieses Fahrzeug zu steuern. Nicht mal in jener Zeit, als ich bei ihm in der Villa gewohnt hatte, hatte ich damit gerechnet, hinter das Steuer steigen zu dürfen. Es wäre zuviel Luxus für mich gewesen. Mit diesem Wagen fuhr man nicht einfach nur so über die Straßen. Damit war man abgehoben. Man hatte das grüne Laubdach alter Alleen über sich und schaukelte sanft einem roten Sonnenball, der großsommerlich kitschig am Horizont klebte, entgegen. Man hörte altmodische Schlager oder italienische Opernarien, deren Melodien mit dem Kratzen abgenutzter Schallplattennadeln untersetzt waren. Man war absolut entspannt und entrückt. Man zeigte dies der übrigen Welt, ohne sich selbst zu zeigen. Das passte nicht zu mir. Ich hatte das immer gemeint. Und was ich noch viel schlimmer fand: Diesen Silverhawk zu fahren, damit zu protzen und zu provozieren, das schien mir der blanke Hochmut, fast schon hielt ich es für unmoralisch. Um sich dieses Luxusauto leisten zu können, musste man sich entweder verschuldet haben oder man beutete schamlos andere Menschen aus, Arbeiter und Angestellte. Oder beides. Das hatte ich gemeint. Bis eben. Ich zögerte trotzdem keine Sekunde, die Wagenschlüssel anzunehmen. Ich hatte immerhin einen Grund: Ich nahm mich des Silverhawks an, weil ich mich des Hamsters annahm. Nein, kein Grund, nur ein Alibi. Und wenn schon.  

Und so geht es, wenn Sie mögen (oder du magst),
morgen (30.03. 2020) weiter:
Ich dachte an Tineke. Ich kannte sie seit einer Woche. ...


Folge 2 vom 30.03. 2020  

Ich dachte an Tineke. Ich kannte sie seit einer Woche. Seitdem wir in der Bibliothek nebeneinander gesessen und uns ineinander verliebt hatten und ich mit ihr zusammen im Kino gewesen war. Ich hatte sie danach noch zweimal gesehen. Beim ersten Mal hatte sie mir die versprochenen dreihundertfünfundachtzig Piepen für die Plattensammlung gebracht, und ich hatte sie anschließend zu einer Pizza mit Cola eingeladen. Dafür hatte ich etwa zweieinhalb Prozent des Kauf- beziehungsweise Pfandgeldes aufgewendet. Beim zweiten Mal hatte sie mir den Schlüssel für einen klapprigen Caravan gegeben, und ich hatte die Plattensammlung anschließend in dem alten Gefährt, das an der Heckscheibe einen Aufkleber mit der Aufschrift Ich fahre am liebsten mit Jonathan trug, verstaut und vor dem Haus, in dem sie wohnte, abgestellt. Den Autoschlüssel schmiss ich in den Briefkasten mit einem weiteren Aufkleber: Hinter dem Deich beginnt das schöne Leben – komm doch mal hin. Und ich hatte das Gefühl gehabt, als hätte ich auch mein Herz in diesen Briefkasten geschmissen. So verliebt, so ausgeliefert fühlte ich mich. Seit ich Tineke kannte, war alles anders. Ich. 

„Ich will den Chauffeur nicht ganz so lange warten lassen“, sagte Edward Erster. Er zögerte, bevor er sich in Richtung Wohnungstür bewegte. Er gab sich zerstreut, und ihm fiel plötzlich ein: „Jetzt, wo du das Auto hast, musst du auf jeden Fall auch reichlich Benzingeld haben. Der Hawk hat nun mal nicht den Verbrauch eines Mittelklassewagens.“ Er tat, als würde er rechnen und bewegte tonlos die Lippen. „Das sind mindestens noch zwei Hunderter, die du kriegen musst. Oder drei?“ Er sah absichtlich an mir vorbei. „Weißt du was? Ich gebe dir noch mal fünfhundert. Dann hast du eine runde Summe, und du bist autark. Dann brauchst du insgesamt nicht zu knausern. Ich sag dir, Erasmus, der große Schlitten nimmt solche Unmengen an Sprit, als hätte er ein gewaltiges Loch im Tank. Aber es macht einfach Spaß, damit zu fahren. Man wird ein anderer Mensch.“ Ich atmete tief durch, und ich sah meinerseits an ihm vorbei. Auch absichtlich. Nur jetzt nicht nachdenken. Ich fasste die Scheine, die er aus seiner Brieftasche gezogen hatte und stopfte sie in die Brusttasche meines Hemdes. Ich dachte, am besten lasse ich das ganze Bündel erst mal in meiner Schatulle verschwinden. Bei dem Geld, das ich für die Plattensammlung bekommen hatte. Ich hatte es zwar, aber ich würde es nicht verbrauchen. Ich würde es zurückgeben. Wirklich? Ich redete mir das so ein. Eine super Idee, ich atmete auf. Edward Erster atmete gleichfalls auf. Er hätte jetzt gehen können, müssen, sollen. Wo er mir ja das Geld untergeschoben hatte und mich finanziell gestärkt wusste. Wo er mich ins Wanken gebracht hatte. In meiner Armut. Meiner Eigenwilligkeit. In meiner Moral. Freilich nicht in meinen Absichten. Er hoffte, dass da vielleicht noch mehr zu erreichen war. Dass er mich noch weiter würde kippen können. Und ihm ging noch etwas anderes im Kopf herum. Er kam da aber nicht so leicht, so locker, so weltmännisch zur Sache, wie es ihm eben noch bei der Geldausschüttung gelungen war. Es war das Inhaltliche. Mein Inhaltliches. Mehrmals räusperte er sich, setzte er zu sprechen an, ehe sich endlich die Frage, die ihn letztlich überhaupt in mein Quartier geführt haben dürfte, über seine Lippen quälte: „Und das mit dem Schreiben ist dir immer noch ernst? Mit diesem Roman?“ Ich grinste ein bisschen. Er hatte sich so sehr um einen nebensächlichen Tonfall bemüht, um Desinteresse. Aber nun verfloss seine sonst so perfekt zelebrierte hochmütige Haltung. Neugierde und eine gewisse Verzweiflung waren ihm für einige Sekunden anzumerken. Enttäuschung. Weil er von mir keine Antwort bekam. Weil ich ihm keine andere Antwort geben konnte als auf all seine früheren gleich lautenden Fragen. „Ja.“ Das war alles, das sagte alles. Es bestimmte alles. Doch Edward Erster wollte vor seinem Neffen nicht als aufdringlicher Dümmling dastehen. Er straffte sich. Er warf noch einen Blick auf den Hamsterkäfig. Er sagte: „Du weißt ja wohl, dass mir bedeutend mehr an dir liegt als an dem Hamster.“ Das klang wieder kühl und unangefochten und klar. Dennoch wusste ich, welche enorme Überwindung ihn diese Bemerkung, der Besuch in meiner Wohnhöhle gekostet hatte. Es rührte mich, ganz ohne Frage, und das nicht zu knapp. Aber ich dachte: Bloß jetzt nicht einknicken, nicht deinem einzig erreichbaren Verwandten auf den Leim gehen und deine Ideale nicht in Zweifel ziehen lassen oder herunterspielen. Und ich dachte auch: Er tut es ja für sich, er möchte sich seiner wesentlichsten Sorge entledigen, indem er dich in sein Wohlstandsnest zurückführt. Wir schwiegen also beide. Bis Edward sagte: „Dann will ich mal los. Ganz und gar will ich’s mir mit dem Chauffeur denn doch nicht verscherzen. Die Firma gehört schließlich nicht mehr mir, und somit ist dieser Mensch auch nicht bei mir angestellt.“ Wir reichten uns stumm und männlich die Hände, danach verschwand er schnell. Ich dachte: Dass wir diese Rührung beide so mühevoll voreinander verborgen gehalten haben, das ist so typisch für uns. Für die Ersters.

Später meldete sich Edward Erster noch einmal auf meinem Handy. Er rief von seiner Villa aus an. „Bitte Erasmus, vergiss nicht, dein Mobiltelefon aufzuladen“, schärfte er mir ein. „Es könnte ja mal was passieren. Unterwegs, zu Hause. Womöglich bist du dann selbst verärgert, weil du niemanden anrufen kannst. Mich.“ Ein Vorwand, ganz klar. Er kam nicht los. Von mir, von seiner Sorge um mich. Ich kapierte es, weil er erneut auf das Thema, mit dem er kurz zuvor bei mir abgeblitzt war, zu sprechen kam. „Erasmus, habe ich dir eigentlich jemals erzählt, dass dein Vater auch mal Ambitionen hatte, Bücher zu schreiben?“ Ich schwieg. Ich wollte mich auf ein solches Gespräch nicht einlassen. Nicht zum Thema Schreiben, nicht zum Thema Vater. „Er war noch viel jünger als du jetzt. Trotzdem hat er rechtzeitig erkannt, dass er damit scheitern würde. Er hat in einer einzigen Nacht sämtliche literarischen Ergüsse vernichtet. Rein damit ins Kaminfeuer. Kein Mensch hat sie je zu lesen bekommen.“ Er machte eine Pause, wohl damit ich den Bezug zu mir selbst herstellen sollte. Schließlich fügte er hinzu: „Er hat sich irgendwann der Musik zugewandt. Die Plattensammlung muss ihn inspiriert haben. Da hat er sehr viel Leidenschaft entwickelt. Er fing eines Tages an, Gitarre zu spielen. Im stillen Kämmerlein natürlich nur. Diese Beat-Musik. Gitarre, Schlagzeug, die beiden Hauptinstrumente. Dazu lautes Geschrei. Allzu viel weiß ich darüber auch nicht. Ich war schon viel zu alt für dieses Gewummer. Und ich musste ja Tag und Nacht in der Firma arbeiten. Wir expandierten kolossal. Ich. Global. Aber dein Vater, der muss sechzehn oder siebzehn gewesen sein, als dieser Kram in Mode kam. Nicht nur die wilde Musik. Lange Haare, die bunten Hemden, diese weiten Hosen. Das Antiautoritäre.“ Warum strampelt er sich so sehr ab?, dachte ich. Ich werde mich in kein Gespräch verwickeln lassen, nicht zu diesem Thema. Er begriff es. Er spürte meine Unnahbarkeit und lenkte ein: „Noch zu dem Auto, Erasmus. Der Hawk, bitte achte auf ihn. Bitte nicht über Nacht auf der Straßen stehen lassen. Womöglich vergreift sich jemand daran. Bitte schaffe ihn zu mir aufs Grundstück. Da ist er sicher. Du hast ja für die Rückfahrt mit der gelbblauen Bahnlinie eine direkte Verbindung.“ Ich versprach es, sonst sagte ich nichts. Er hingegen überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, konnte, durfte. Nein, es war nichts. Keine Fragen, kein Redebedarf. Meinerseits. Er schloss die Leitung.

Ich fuhr doch nicht gleich, wie ich das zunächst vorgehabt hatte, zu Tineke. Lediglich ging ich hinaus auf die Straße, um mich zu vergewissern, dass mir Edward Erster dieses super Auto wirklich hiergelassen hatte. Ja, da stand es. Die freundlichen Sonnenstrahlen des Nachmittags überzogen den hellen Lack und die herausfordernd schillernden Chromteile mit dem romantisch anmutenden Glanz heiler Filmwelten. Unendlich scheinende Straßen, die sich als schmaler werdendes Band in amerikanische Landschaften schnitten. Wüsten, Gebirge oder Küstenregionen, und ich musste über die Ausdrücke lächeln, mit denen Edward Erster jene Sechziger-Jahre beschrieben hatte: Beat-Musik, Gewummer, das Antiautoritäre. Die Leidenschaft des Schallplattensammelns. Die Jugend meines Vaters. Die eine Vergangenheit. Die andere Vergangenheit waren Edward Ersters Gründerjahre. Der Silverhawk ergab das Sinnbild der Erfolgsgeschichte jenes Mannes, der auf den Trümmern einer zerbombten Fabrik jenes große Unternehmen errichtet hatte. Ein Imperium.  

Ich arbeitete weiter an dem Manuskript. An meinem Roman. Ersters erstem. Ich hatte gerade in den letzten Monaten eine Menge geschafft, so dass ich eigentlich schon ein fertiges Buch vor mir zu liegen hatte. Ich meinte das. Die letzte fertige Grundfassung hatte ihre dritte Überarbeitung erfahren. Ich fand keine Widersprüchlichkeiten im Inhalt mehr, ich war mit der Aufteilung der Kapitel zufrieden, und ich sah keine Fehler im Ausdruck. Ich wollte nun alles noch einmal mit Ruhe und Konzentration lesen und notfalls Korrekturen einbringen, bevor ich den Schritt der Verlagssuche in Angriff nahm. Andererseits kreisten meine Gedanken unwillkürlich immer wieder um das Fahrzeug vor der Tür. Der Silverhawk. Ich konnte mich nicht auf den Text konzentrieren. Und das Geld hatte ich ja auch. Die Hunderter meines Onkels. Sie lagen in der Schatulle. Es kribbelte in mir. Alles hier liegen lassen und losdüsen. Laubbeschattete Alleen. Mildmatte Abendsonne. Und Tineke neben mir. Schmale Schultern, um die ich wie selbstverständlich meinen rechten Arm legte. Nette Gespräche, Küsse; und irgendwann ein Zwischenstopp in einem romantischen Café. Ein fulminanter Eisbecher mit Erdbeeren. Sagte, schrieb, aß und genoss man fulminant? Wenn man verliebt war?  

Folge 3 vom 31. März 2020

Und Peterchen, lenkte der mich nicht auch ab? Immer wenn ich zu ihm hinschaute, musste ich an diese alten Geschichten denken. Edward Erster. Mein Vater. Die so völlig unterschiedlichen Lebensläufe und Schicksale. Die noch unterschiedlicheren Brüder. Karrieren. Wirklich unterschiedlich? Ja, das lenkte ab. Ich stand auf und verfrachtete den Käfig samt Hamster in meine Mini-Küche. Dort sah ich das aufgeregt schwadronierende Wuschelknäuel von meinem Schreibplatz aus nicht mehr. Doch auch wenn ich Peterchen jetzt nicht sah, so blieb doch die Unruhe. Er krakelte: krach, kratz, ratz, schmatz, quietsch, schurr, scharr, schnarr, schurf und manches mehr. Ein Störfaktor, der allerlei Geräusche erzeugte und mir weiterhin die Konzentration nahm. Ich überlegte, wie ich ihn zur Ruhe bringen konnte. Mit etwas Futter? Mit viel Futter? Edward Erster hatte mehrere Tagesrationen hiergelassen. Oder wäre nicht ein Schälchen Bier geeigneter? Bier beruhigte, es machte schläfrig. Aber wie viel Bier konnte so ein Hamster vertragen. Mochte er es überhaupt? Oder vorlesen? Vorlesen beruhigte Kinder, es unterhielt Alte, es hielt Autofahrer wach. Warum sollte es nicht auch positive Auswirkungen auf kleine, nervende Tiere haben. Da ich keine Zeitungen besaß, blätterte ich in meinem Manuskript. Ich wollte Peterchen die schönste Passage des gesamten Werkes vortragen. Eine Passage, an der ich sehr lange und regelrecht verbissen gearbeitet, gefeilt hatte. Jetzt, da sie endlich fertig war, bezeichnete ich sie als sehr gelungen und äußerst spannend. Sie war – ich meinte mit Recht – eine Art Höhepunkt des gesamten Romans. Meine beiden Handlungsträger zogen schon seit mehreren Wochen durch Italien, um eine Gangsterbande zu verfolgen. Nun waren sie auf Sizilien angekommen und hatten sich den Gangstern quasi auf eine Armlänge genähert. Es war Nacht, und die zwei, ein scheinbar auf Hochzeitsreise befindliches junges Paar, hatten sich in einem Museum versteckt und sich dort raffinierterweise einschließen lassen. Nun beobachteten sie mit Schrecken durch ein kleines Fernster des Museums eine bandenmäßig organisierte Mehrfachhinrichtung.
War das wohl das Richtige für einen Hamster? War es nicht zu aufregend?
Ja, es war zu aufregend. Ich entschied mich daher für die Variante der Vernunft. Ich schüttete dem Hamster Futter in den kleinen Trog. Eine Art Körnermüsli, wie es vielleicht sogar manche Menschen mögen. Vegetarier beispielsweise. Ich achtete darauf, dass es genau die Menge war, die auf Edward Ersters Zettel eingetragen war. Doch ich hatte keinen Erfolg. Peterchen würdigte das vegetarische Hamster-Müsli keines Blickes. Er krakelte weiter, jetzt noch lauter als vorher. Nun gut, dachte ich, dann muss er sich halt die Lesung aus dem Manuskript gefallen lassen. Allein damit er meine Überlegenheit ihm gegenüber zu akzeptieren lernt. Ich setzte mich vor seinen Käfig, ich schlug die Passage mit der sizilianischen Hinrichtung auf und begann zu lesen. Peterchen wurde zunächst ruhig. Er hockte dicht an der Gittertür des Käfigs und machte schließlich sogar Männchen. Es sah nicht nur so aus, als höre er mir zu, sondern als sei er von meiner Erzählung gefesselt. Donnerwetter, dachte ich, der versteht tatsächlich alles, und er kann es gut bewerten. Das schmeichelte mir. Dann jedoch, als ich die Stelle erreichte, an der die Schüsse fielen und das Blut und die Gehirnmasse der Hingerichteten gegen die weiße Mauer der gegenüber befindlichen alten Kathedrale nur so spritzten, wurde Peterchen sichtlich unruhig. Nicht nur unruhig, er wurde wild. Mit jedem Wort wurde es schlimmer. Er sprang durch den Käfig, kratzte an den Gitterstäben und keifte fürchterlich. Was für ein Lärm. Nicht mal nachdem ich mich genötigt gesehen hatte, mit dem Lesen aufzuhören, beruhigt er sich. Ich starrte missmutig auf die Seiten des Manuskripts. War der Roman zu gut oder zu schlecht? Oder fühlte sich Peterchen nur allgemein nicht so recht wohl? Vielleicht lag es an mir. Vielleicht fremdelte er. Ich ging in das Zimmer zurück, damit er mich nicht mehr sah. Nein, es half nicht. Die Unruhe blieb. Der Lärm, der Krawall. In mir wuchs ebenfalls die Unruhe. Ich setzte mich an den Arbeitstisch und presste die Handflächen auf meine Ohren. Ich las tonlos. Es war wiederum die Passage der Hinrichtung. Todesschüsse auf dem Museumsplatz. Nur wirkte der Text nun nicht mehr auf mich, ich konnte mich nicht konzentrieren und keinen Satz mit meinen Gedanken umklammern. Peterchen krakelte immer noch. Wild und laut, aufgeregt. Was tun? Ich warf einen Blick auf das Handy. Lieber Edward Erster, leider kann ich dich nicht anrufen und fragen, was ich tun soll, denn ich habe keine einzige Einheit als Guthaben. Du hattest es angemahnt. Ich habe es noch nicht geschafft, die Karte aufzuladen. Und Peterchen rackerte weiter. Die Variante Bier fiel mir wieder ein. Ich hatte noch eine halbe Flasche. Bier beruhigt, dachte ich, Menschen. Und Hamster? Ich trank einen schönen Schluck, dann ging ich in die Küche und goss, ohne nachzudenken, was ich tat, Peter­chens Wassertrog bis zur Oberkante voll. Tatsächlich gab es eine Wirkung. Peterchen zeigte sich interessiert. Er schnupperte, und endlich trank er. Letzteres ohne aufzuschauen und ohne abzusetzen und, wie es schien, mit Genuss. Bis das Gefäß leer war. Danach schaute er eine Weile zu mir durch die Gitterstäbe, sodass ich überlegte, ob ich ihm noch mehr Bier geben sollte.
Nein, ich tat es nicht. Nicht, weil ich geizig gewesen wäre, sondern weil er offenbar genug hatte. Er krabbelte in seine künstliche Höhle und kam nicht mehr hervor. Er schläft, dachte ich, was für ein Glück. Ganz wohl war mir allerdings nicht. Ich deckte den Käfig mit dem blauen Tuch, auf das, wie ich jetzt erst feststellte, eine gelb strahlende Sonne gedruckt war, zu und trank den Rest des Bieres selbst. Danach machte ich mich wieder über mein Manuskript. Die plötzliche Ruhe tat mir gut. Ich konnte die Passage mit der bandenmäßig organisierten Hinrichtung weiter verfeinern. Durch das Hinzufügen einiger italienischer Vokabeln gab ich der Szene weitere Brisanz. Ich ließ die mordenden Gangster ungewöhnlich lange zum besagten Museumsfenster hinaufschauen. Das junge Paar bekam Angst. Es litt, zitterte, wie nur jemand leiden und zittern kann. Lange, intensiv, schmerzvoll und in quälender Ungewissheit. Aber doch nicht ohne glühende Hoffnung. Und natürlich: Die Züge der Killer versah ich mit zusätzlicher Härte, und die Schreie und Bitten der Hinrich­tungsopfer ließ ich trotz der derben Mundknebel nochmals heftiger und flehender werden. Ich schlachtete das Vor­spiel der Todesschüsse mit geradezu sadistischer Genüsslichkeit aus. 

Nach zwei Stunden ging dann nichts mehr. Ich fühlte mich erschöpft, trotzdem sehr zufrieden. Ich war mir eines sehr gelungenen Romans sicher. Die Verlage würden sich dafür interessieren. Welche Verlage? Die großen, die angesehenen? Vielleicht. Wenn nicht, würde es sicherlich irgendwo einen Nischenverlag geben, der in eine Auflage von vier- oder fünftausend Exemplaren investierte. Sei es, dass er fürs Erste die letzte Null wegstrich. Ich brauchte nun Ablenkung, Entspannung. Tineke, der Silverhawk, die Alleen, der Eisbecher. Ich nahm mir ein einigermaßen sauberes Hemd aus dem alten Schrank und zog mich um. Haare gekämmt und den Autoschlüssel gegriffen. Ab ging’s. Halt, noch einen Blick in die Küche geworfen. Der Hamsterkäfig. Na bitte, alles friedlich. Immer noch. Ich hob den Zipfel des Tuches und lugte hinein. Peterchen lag weiterhin in der Höhle. Er verschlief seinen Rausch. Ganz leise zog ich den Trinkbehälter aus der Halterung, spülte ihn aus und füllte ihn mit frischem Wasser auf. Der kleine Bursche würde mit Sicherheit Durst haben, wenn er wach wurde. Dann saß ich hinter dem Steuer des Silverhawks. Was für ein Gefühl. Mindestens fünf Minuten verharrte ich, ohne den Zündschlüssel umzudrehen. Ich trat vorsichtig ein Pedal nach dem anderen durch, probierte diesen und jenen Hebel oder Schalter aus, strich mit den Händen sehr sachte über das makellose Armaturenbrett und atmete den unaufdringlichen Geruch der sorgsam gepflegten Ledersitze ein. Was für ein herrliches Fahrzeug. Ich fuhr langsam, denn es war schon acht Wochen her, dass ich mein Auto zu Gunsten meines Lebensunterhalts veräußert hatte. Es war mir allerdings schwer gefallen, den geräumigen Caravan wegzugeben. Da ich mich in keinem festen Arbeitsverhältnis befand, konnte ich bis dato bei schönem Wetter einfach ans Meer oder irgendwo an einen See fahren. Ich hatte mein Schreibzeug dabei und saß damit an wilden Strandabschnitten, oberhalb einer Steilküste oder an einem unbelebten Ufer. Spät abends fuhr ich den Wagen in eine Waldschneise, aß und trank ein paar belanglose Sachen. Ich wickelte mich in vier oder sechs Decken und schlief selbst im Spätherbst und in milden Winternächten noch auf den abgeklappten Sitzen. Nach dem Verkauf des Caravans bekam ich die Armseligkeit der Hinterhofwohnung zu spüren. Der Gebäudekomplex, zu dem sie gehörte, war längst zum Abriss freigeben. Nur stand der Termin nicht fest, weshalb ich keinen Mietvertrag hatte und auch keine Miete zahlte. Ich lebte hier lediglich mit dem Handicap, innerhalb von wenigen Tagen rausgeschmissen werden zu können. Romantik und Armut waren es also, die mich umwoben. Soziale Härte. Und doch auch eine von üppigen Inhaltsstoffen berstende Vereinsamung. Dies alles und noch mehr machte für mich die absolute Authentizität beim Schreiben aus.  

Tineke wohnte in einer Zweier-Wohngemeinschaft. Da ich kürzlich den Caravan mit den Schallplatten vor der Tür abgestellt hatte, fand ich nun die Straße, in der sie wohnte, problemlos wieder. Ich parkte, stellte den Motor aus und wartete. Worauf? Tu was, dachte ich, beweg dich, geh hinauf, wenn du hier noch länger stehst, wird sie dich sehen und dich lächerlich finden. Tineke. Und du dich selbst auch.  Kurz entschlossen betätigte ich die Hupe. An der Front mit Tinekes Hauseingang wurde im zweiten Stockwerk ein Fenster, das auf Kippstellung war, weit geöffnet. Ein Mädchen mit kurzen Haaren schaute heraus und verschwand, ehe ich aussteigen und nach Tineke fragen konnte. Und nun? Ich würde hinaufgehen müssen. Ich wollte hinaufgehen. Ich war gekommen, um hinaufzugehen und sie zu sehen. Tineke. Um sie zu einem Ausflug im Silverhawk einzuladen. Warum hatte ich auf einmal Angst? Ich wusste keine Antwort. Oder doch: Ich hatte ja gar keine Angst. Ich gab mir also einen Ruck und stieg aus dem Wagen. Dummerweise fand ich die Haustür verschlossen. Ich musste unter den sechs Namensschildern, von denen nur die zwei mittleren beschriftet waren, das von Tinekes WeGe herausfinden. Ich drückte auf das Schild, das denselben Namen aufwies wie der Briefkasten, in den ich den Autoschlüssel eingeworfen hatte. Hinter dem Deich … Es dauerte nicht lange, ehe es schnarrte und sich eine helle Stimme meldete. „Hallo?“ Ich sagte ohne zu zögern: „Ich möchte zu Tineke.“ Prompt surrte der Türöffner. Ich stieg die Treppen bis zur zweiten Etage hinauf und meinte nach dem letzten Absatz mit jedem Schritt zu spüren, dass mein allmählich stärker klopfendes Herz ein Stück in den Körper hinabrutschte. Ich hätte noch umkehren können. Wie ein ängstlicher, unerfahrener Schüler. Nein, zu spät. Die Tür der WeGe war bereits offen. Dort stand sie. Oder doch nicht? Es war plötzlich wie eine Szene in mittelmäßigen Filmen oder Büchern: Die Flurleuchte verlöschte, das Mädchen im Gegenlicht wurde zur Kontur. Schmale Gestalt, kurze Haare. Kurze Haare? „Ist Tineke gar nicht da?“, fragte ich naiv. „Kommt drauf an, welche Tineke du meinst?“ Die mit den langen Haaren, wollte ich erwidern. Doch ich stand jetzt direkt vor ihr. Ich sah, dass sie es war. Mit einer anderen Frisur, ziemlich verändert. „Die mit der exzellenten Plattensammlung“, sagte ich stattdessen, um auch ein bisschen amüsant zu sein. Der Scherz kam sogar an. Sie lächelte abgeklärt. „Sei froh, dass wir das so geregelt haben, wie wir es geregelt haben. Du hast wieder Geld. Meine letzten dreihundertfünfundachtzig Rettungsanker. Und die Platten hast du eigentlich auch noch. Obwohl sie bei mir stehen. Hättest du eine Annonce aufgegeben, hättest du vielleicht mehr Geld gekriegt, aber der Käufer hätte die Sammlung bestimmt nicht behalten, sondern übers Internet weiterverscheuert – einzeln und zu Höchstpreisen und auf Nimmerwiedersehen.“ Sie rückte ein Stück zur Seite, damit ich den Flur der Wohnung betreten konnte. Dann ging sie vor mir auf ihr Zimmer zu. Schlank und geschmeidig sah sie aus. Wie vorher. Jetzt, mit kurzen Haaren, noch besser. Begehrenswerter. „Ja“, sagte sie, als wir in ihrem Zimmer waren, „da du ja jetzt dieses Kult-Auto hast, gehe ich nicht davon aus, dass du noch weitere Schallplattenraritäten verticken musst. Falls du noch welche hast.“ „Hab keine einzige Platte mehr“, gestand ich und setzte mich auf den Kordpolstersessel, den sie mir herrückte. Mein Blick musste von diesem Platz aus direkt auf die Plattensammlung treffen. Fein säuberlich hatte sie alle Exemplare in einer Vitrine hinter Glas aufgestellt. Alle fünfhundert. Unwillkürlich meldete sich mein Gewissen. Erb- und Erinnerungsstücke meines Vaters; alle gesammelt in der großen Zeit, alle weggeben. Von mir. Um mich als Schriftsteller über Wasser halten zu können. Um überhaupt erst den Gedanken wahr werden zu lassen. Ich will schreiben. Bücher. Ich will anders leben. Frei, kreativ. Wie undankbar, wie verantwortungslos. „Genau genommen bist du der Einzige, den ich noch habe. Denn dass dein Vater zurückkehrt, falls er überhaupt zurückkehrt, das werde ich nicht erleben. Dann müsste ich ja steinalt werden“, beschwor mich Edward Erster nachhaltig in meinen Gedanken. Immer solche Sprüche, dachte ich abwehrend. Nein, nicht Sprüche, sondern Wahrheiten. Auch Vorwürfe. Er hatte sich mit ihnen von mir verabschiedet. Und von seinem Hamster. Und ich hatte auch nur ihn. Hier jedenfalls, in dieser Stadt, in Berlin. Und Tineke? „Klappt’s denn mit dem Schreiben?“, fragte sie hell in meine sich zusehends kräuselnden Gedankenwolken hinein. Ich nickte tapfer. Und ich hätte was drum gegeben, die Roman-Passage mit der sizilianischen Hinrichtung jetzt in der Jackentasche zu haben und sagen zu können, lies das mal. „In den Auslagen der Buchhandlungen, wo ich immer nach deinem Namen spähe, habe ich noch kein Buch von dir entdeckt. Aber anscheinend verdient man auch als weniger bekannter Autor noch gut genug. Oder ist die erste Millionenauflage schon vergriffen?“ „Bis das Buch veröffentlicht wird, wird noch allerhand Zeit vergehen. Ich arbeite noch an den Korrekturen, und mir fallen auch immer ein paar Änderungen ein“, sagte ich ernst. „Aber wenn du auf den Schlitten da draußen anspielst, der gehört meinem Onkel. Edward Erster. Er ist in der Schweiz. Er hat ihn mir aus Gründen überlassen, die ich jetzt nicht ohne weiteres erklären kann.“ „Und da bist du gekommen, um mit mir mal schön eine Runde zu drehen.“ Obwohl ihre Bemerkung eines spöttischen Untertons nicht entbehrte, war ich froh über sie. Ich brauchte Tineke nun nicht mehr für diese Tour einzuladen. Nicht mehr direkt, mit irgendwelchen geschraubten Sätzen. Sie hatte es selbst getan. Andererseits fürchtete ich, sie würde mir einen Korb geben. „Willst du nicht?“ Sie schüttelte den Kopf und nickte zugleich. Es wirkte hastig, aufgeregt. „Was denkst du von mir? Klar will ich. Wann hat unsereins schon mal Gelegenheit, in so einem futuristisch anmutenden Unikum mitzufahren. Umgeben von Chrom, Lack und Leder. Und in der Gesellschaft eines künftigen Erfolgsautors.“ Ich hatte die Antwort auf den Lippen. „Wenn du willst, kannst du diese Gelegenheit die nächsten vier Wochen haben. Jeden Tag.“ Nein, ich brachte eine solche Offerte nicht heraus. Ebenso wenig vermochte ich, als wir dann fuhren, meinen Arm um ihre Schultern zu legen und mich irgendwie anzunähern. Weder körperlich noch im Gespräch. Kitsch und Realität, Traum und Wirklichkeit, nichts stimmte überein. Wenigstens den Eisbecher aßen wir. Wenngleich er nicht fulminant und sonderlich üppig ausfiel und es nicht mal Erdbeeren gab. Und bezahlen wollte sie ihn nachher auch. Ihren und meinen. „Du hast schließlich die Unkosten für das Benzin.“ Es klang diesmal nicht spöttisch, eher freundlich, ein bisschen tröstend. Auch verheißungsvoll? Irgendwie schon, zumal sie hinzufügte: „Kannst mich ja nachher zum Abendessen einladen. Bei dir.“ Und bevor ich zu stottern anfing, dass ich höchstens ein halbes trockenes Brötchen an Essbarem und mittlerweile nicht mal mehr abgestandenes Bier in der Wohnung hätte, bestimmte sie: „Wir halten am nächsten Supermarkt und kaufen was ein.“    

Folge 4 vom 1. April. 2020 

Ich glaube, nein, ich bin sogar sicher, es war das einzige kleine Dinner, das an diesem Tag im ganzen Land von einem absichtlich verarmten potenziellen Erfolgsautor für eine wunderschöne Frau in einer zum Abriss freigegebenen Hinterhofwohnung ausgerichtet wurde. Bei mir in dieser Höhle. Mein erster Damenbesuch sowieso. Es ließ sich zunächst nett an.
Ich schnitt Gemüse auf, machte Salat, und Tineke kümmerte sich um die anderen Speisen. Wir hatten jetzt Wein und tranken schon während der Zubereitung immer mal was. Und weil die Küche wirklich winzig war, stießen wir auch ab und zu sachte zusammen oder streiften aneinander mit Armen und Beinen. Unabsichtlich. Wir kicherten dann oder entschuldigten uns, sonst nichts.
Einmal standen wir uns auch frontal gegenüber. Da sah sie mir tief in die Augen. Und ich ihr. Ich dachte wieder an das Klischee eines mittelmäßigen Films oder Buches und dass wir uns küssen müssten, wobei wir die Arme jeweils seitlich von uns streckten und dabei irgendwelche Gerätschaften oder Instrumente in den Händen schwenkten.
Natürlich kam es nicht zum Küssen. Das lag jedoch nicht an der Verachtung der Gewöhnlichkeit besagten Klischees, sondern vielmehr an Peterchen. Jetzt erst bemerkte sie ihn und erschrak: „Was ist denn das für ein Käfig? Hältst du dir etwa eine Ratte?“ Ich erschrak nicht minder als sie. Sollte wegen des dummen Hamsters unser Date platzen? Ich ergriff in eben diesem Augenblick den Käfig und schaffte ihn fort. Da die Wohnung keinen abgeteilten Innenflur und keine Abstellkammer hatte, stellte ich Peterchen samt Behausung in den Hausflur. An Edward Ersters Mahnung „Er ist der Einzige, den ich noch habe!“ dachte ich nicht.
Überhaupt war mir der Hamster egal.
„So war’s eigentlich auch nicht gemeint“, entschuldigte sich Tineke sichtlich verlegen, als ich in die Küche zurückkam. „Es war nur der Schreck. Im Allgemeinen mag ich Tiere.“ Sie trank etwas Wein und erklärte: „Und ich glaube, es war auch gar keine Ratte. Oder was befand sich unter dem blauen Tuch?“
Ich trank ebenfalls und erklärte ihr umständlich die Zusam­menhänge zwischen Peterchen und dem Silverhawk und Edward Erster. „Einen Hamster“, sagte Tineke, „finde ich nicht schlimm. Mich ekelt’s nur vor Ratten. Auch vor zahmen, vor weißen. Und vor Leuten, die sie sich halten. Ich glaube, ich hab dir Unrecht getan.“ Wir standen erneut dicht voreinander, sie sah mir wieder in die Augen. „Auf jeden Fall scheint’s bei dir noch eine Menge zu entdecken zu geben.“
Sollte ich mich geschmeichelt fühlen? Erwartete sie, dass ich sie küsste? Jetzt, da wir uns über Ratten und Hamster austauschten. Wohl nicht, denn sie fragte deutlich vorbestimmend: „Wenn wir gegessen haben, dann liest du mir doch was aus deinem Manuskript vor?! Ich bin echt gespannt.“ Sie hielt den Kopf ein bisschen schräg. Diese neue Frisur mit den kurzen Haaren, dachte ich, wie gut sie damit aussieht, wie entzückend. „Ich bin ein schlechter Vorleser“, sagte ich unsicher. „Ich lese zu schnell und betone kaum die wichtigen Stellen. Und ich vergesse zu atmen, so dass mir regelrecht die Stimme wegbleibt.“ Ich dachte, sie würde erwidern: „Macht nix, es kommt mir auf den Inhalt an, nicht auf den Vortrag.“ Aber es war nicht an dem. Aus ihrer Reaktion schloss ich, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Sie wich zurück; nicht körperlich, sondern von der Anteilnahme, vom Interesse her. Ein Stück Gefühl schien zu erlöschen. Sie entgegnete in einem Ton, den ich beinahe für geringschätzig hielt: „Dann solltest du das abändern. Und zwar schleunigst. Hier, in deiner Behausung wird ja wohl niemand sein, vor dem du dich bei ersten Misserfolgen schämen müsstest.“
Ihre Bemerkung traf mich. Ich ging in eine Art Igelstellung. Ich konnte nichts dagegen tun. Offensichtlich wurde sie gewahr, dass sie mich mit ihrer Belehrung gekränkt hatte. Sie versuchte einzulenken: „Lesen kann man bis zu einem gewissen Grade lernen. Vorlesen. Fast, bis man perfekt ist. Schreiben nicht. Gutes Lesen und gutes Selbstbewusstsein gehen Hand in Hand.“ Sie hantierte mit dem Besteck und dem Geschirr, und sie sagte, wobei sie sich sichtlich um mehr Wärme in der Stimme bemühte: „Es ist aber auch kein Problem, wenn du mir nach dem Essen das Manuskript gibst. Ich werde allein darin lesen. Du kannst in der Zeit die Küche aufräumen.“ Ihre Stimme war tatsächlich versöhnlicher geworden, dennoch hatte es einen gewissen Knacks gegeben. Zwischen ihr und mir. Ich bildete mir eine Abfuhr ein. Abgeblitzt, mit dem Manuskript. Und mit meiner Verliebtheit. Hinzu kam auf einmal die Sorge um den Hamster. Der hatte sich, als ich ihn nach draußen trug, nicht gerührt. Mit keiner Bewegung, mit keinem Mucks. Kein Kreischen, kein Wispern. Das Bier; hatte ich ihn damit …? Mir wurde es weich in den Knien. „Was ist los mit dir?“ Tineke wandte sich mir wieder zu, schaute mir in die Augen. Wie vorhin. Nein, nicht wie vorhin. Sie starrte mich so seltsam an. „Du, es tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich wollte dir doch nur helfen.“ Ich hörte sie eher aus der Ferne. Ich hörte vielmehr in mir eine Stimme, die mich drängte, in den Flur zu rennen und in den Käfig zu schauen. Noch mehr fürchtete ich mich indessen, diesen Hamster dann tot zu finden. Peterchen. Daher blieb ich, obzwar unruhig und unaufmerksam, in der Küche. Wenigstens bemühte ich mich um äußere Gelassenheit, um Freundlichkeit. „Ist ja nicht so schlimm“, stotterte ich. „Hast ja Recht. Lesen kann man lernen. Ich muss wirklich an mir arbeiten.“ Ich deckte den Tisch, goss Wein in die Gläser. Wir saßen uns gegenüber. Wir aßen und tranken, und wir schwiegen jetzt meistens. Tineke war wunderschön. Schon wegen der neuen Frisur. Ihr hübsches Gesicht kam noch besser zur Geltung, das Leuchten der Augen, die helle Stirn. Fast hätte ich den Hamster vergessen, ebenso das Manuskript. Nur noch Tineke, die ich sah.
Doch sie selbst stieß meine Gedanken wieder darauf. „Ich hab mich ziemlich unmöglich benommen. Erst das Getue um den Hamster, den ich für eine Ratte gehalten habe, danach spiele ich mich als absolute Literaturexpertin auf.“ Sie seufzte. „Dabei ist beides gar nicht so wichtig für mich.“
Ich seufzte gleichfalls, und ich wiegelte erneut ab: „Nicht so schlimm.“ Sie widersprach. „Ich sehe doch, dass es schlimm ist. Du bist ja völlig geknickt.“ Sie legte ihr Besteck neben den Teller. „Glaub mir, Erasmus, ich hatte mich richtig gefreut, als du heute kamst und mich abgeholt hast. Es war so eine echt angenehme Überraschung.“ Ja, doch, ich sah, dass es ihr leid tat, dass sie die Entschuldigung ernst meinte. Ich nickte schwach und lächelte hilflos und sichtlich zerstreut. Und ich dachte prompt wieder an Peterchen. Ich muss wissen, ob er lebt, hämmerte es in meinen Gedanken. Jetzt. Ich stand auf, es war ein Reflex.
Tineke sah mich entgeistert an. Riesig groß wurden ihre Augen; als wollten sie mich hypnotisieren, so dass ich auf den wackligen Polsterstuhl zurück fiel. „Ich bin völlig durcheinander“, gestand ich leise. Und ich wollte hinzufügen, dass es nichts mit ihr zu tun habe. Doch sie war selbst verwirrt, und nun stand sie ebenfalls auf, und sie entschied: „Am besten gehe ich jetzt.“ Und schon war sie zwei Schritte vom Tisch entfernt, nahm sie ihre Tasche. Dabei wünschte ich, sie würde bleiben. Ganz heftig. Aber ich konnte diesen Wunsch nur mehr artikulieren, indem ich auf das Manuskript hinwies, das sie hatte lesen wollen.
Da zögerte sie kurz. Und sie wankte in ihren Absichten. Ich sah es. Bis sie sich besann. „Stimmt. Klar. Das hatte ich gesagt. Und das mache ich auch. Ich werde es lesen. Ich nehm’s mit.“ Sie schaute zu dem Tischchen hinüber, auf dem der Computer stand. Dort lag auch die Mappe mit dem Manuskript. Ich hatte vor Verlassen der Wohnung noch einen Ausdruck der aktuellen Fassung hergestellt. Das tat ich aus Sicherheitsgründen. Falls mal plötzlich die Festplatte kaputtging. Die Qualität des Gedruckten war freilich nicht sonderlich gut. Ich sparte auch bei diesen Aktionen, ich verwendete einfaches Papier und druckte im Sparmodus. Ich rechnete damit, dass Tineke sich darüber aufregen würde. Und ich warnte sie vor und bot an, einen besser lesbaren Ausdruck herzustellen.
Da zögerte sie abermals. Sie kam einen Schritt auf mich zu. Doch sie lenkte wiederum ein. „Irgendwie wird’s schon gehen. Ich bin ja ab morgen unterwegs. Mit dem Zug. Ich lese es während der Fahrt, die ist ziemlich lang, und danach.“
„Willst du verreisen?“, fragte ich überrascht, erschrocken.
„Nicht, um Urlaub zu machen“, erwiderte sie. „Ich habe ein Vorstellungsgespräch. Das heißt, es geht nur um ein paar Informationen, die ich haben will. Es ist eine mittlere Klinik. Ich will mich mal erkundigen, was wäre, wenn ... Es ist in Ostfriesland. In der Nähe von meinem Heimatort.“ Sie lächelte jetzt. Ganz freundlich. „Nicht weit vom Deich. Wo es so schön ruhig und grün ist. Ich würde gern dorthin wechseln. Bin mir aber nicht sicher, dass es passt. Von den Arbeitsbedingungen her.“
Ich erschrak. Wenn sie nach Ostfriesland ging, würde ich sie verlieren. Verlieren? Ich hatte sie ja noch gar nicht gewonnen. „Schön“, sagte ich dennoch. Und: „Glückwunsch. Ostfriesland, das lohnt sich. Die Küste. Ich freu mich für dich.“ Dabei hatte ich selbst von diesem Landstrich noch nicht viel gesehen.
Sie reagierte skeptisch. „Zum Gratulieren besteht kein Grund. Jedenfalls was die Arbeitsstelle betrifft. Ich glaube, nehmen würden sie mich dort schon, aber ich habe wahrscheinlich nicht so günstige Einsatzmöglichkeiten wie ich sie hier einige Zeit hatte. In Berlin.“ Sie lächelte wieder, jetzt verlegen, auch entschuldigend, und sie deutete mit dem Kopf auf die Mappe mit dem Manuskript. Ich gab sie ihr.
Dann ging sie. Und sie wollte nicht mal die Treppe hinunter und schon gar nicht mit dem Silverhawk nach Hause gebracht werden. Sie sagte: „Ich melde mich.“ Das klang oberflächlich. Wie ein Abschluss. Und wie ein Abschied, den man aus eben diesen mittelmäßigen Filmen kennt. Nur dass diese Mittelmäßigkeit für mich offenbar Realität geworden war und dass es mich auch realiter traurig machte.
Ich stand, nachdem sie fort war, mit dem Rücken gegen die Innenseite der Wohnungstür gelehnt. Ich dachte an den Hamster. Ich hätte den Käfig öffnen und nachsehen können, was mit ihm war. Nachsehen müssen hätte ich. Nein, ich musste nicht nachsehen, ich wusste auch so, dass er nicht mehr lebte. Peterchen. Diese Stille im Hausflur, im Käfig, sie hatte den Beweis längst geliefert. Nicht mal als Tineke meine Wohnung verlassen hatte, war ein Geräusch aus dem Käfig gekommen. Ich ließ mich auf einen Stuhl plumpsen und trank in einem Tempo, in dem man sonst Bier trinkt, zwei volle Gläser Wein. Danach räumte ich den Tisch ab. Ich spülte alles Geschirr und stopfte sämtliche Reste vom Essen in eine Plastiktüte. Ich wollte an dieses misslungene Rendezvous nicht erinnert werden, daher schaffte ich die Tüte sofort in den Hof hinunter, wo die Mülltonnen standen.
Als ich wieder oben war, kam ich nicht mehr umhin, das Tuch vom Hamsterkäfig zu nehmen. Ja, da lag er also. Peterchen, der Hamster, dieser ganz besondere Liebling meines Onkels Edward Erster. Tot.  

Die nächsten zwei Tage waren zermürbend. Ich befand mich in Unruhe und Angst und im Zustand von Ratlosigkeit. Am dritten Tag schaffte ich endlich den toten Hamster in den Müll. Danach schrieb ich einen Brief an Edward Erster, in dem ich ihm in nüchternen Worten mitteilte, was passiert war. Doch ich schickte den Brief nicht ab, ich druckte ihn nicht mal vom Computer her aus. Ich fühlte mich jedoch leichter und konnte einigermaßen klar denken. Ich entschloss mich, mich der Misere anders als durch ein Geständnis zu stellen. Klüger, raffinierter. Ich suchte eine Tierhandlung auf. Dort ließ ich mir mehrere Hamster zeigen. Tatsächlich gab es einen, der mit Peterchen große Ähnlichkeit hatte. Ich kaufte ihn für acht Euro. Den Verkäufer fragte ich, was bei der Haltung eines Hamsters besonders zu beachten sei. Er sah mich verwundert an. „Nüscht. Naja, die dürfen keen Alkohol krie­jen. Aba wer jibbt een Hamsta schon Biea oder Wein?“ Der Kerl lachte gehässig. Da lachte ich dann mit, auch gehässig. Und erleichtert. „Als Futta kannste irjendwelche Küchenabfälle nehm. Det mit die fein abjepackten bunten Tüten, det ist doch affich“, fügte er hinzu. „Schließlich sind Hamsta keene Tiere, die an een Schönheitswettwerb teilnehm und zu die man een freundschaftlichet Vahältnis entwickeln kann.“ Er lachte wieder. Ich ebenfalls. Und ich dachte, der Besitzer des Ladens kann dies nicht sein, gewiss nicht. Um ganz sicher zu gehen, erkundigte ich mich noch nach der Pflege des Fells. Er verstand mich nicht gleich. Ob man es pflegen müsse, mit Öl oder Creme vielleicht, erkundigte ich mich schüchtern, dennoch nachhaltig genug, auf dass er sich nochmals in die Rolle des arroganten Zynikers begeben konnte: „Wie? Öl, Creme? Wat denn noch? Nächstens komm die Leute an und wolln ooch Vorelspinn, Skorpjone und Mistkäfa mit Öhl in­rei­ben, damit diese eklichen Dinga richtich jlänzen. Und denn vielleicht noch bisschen feine Mannikühre und Zahnflehje je­fällich?“ Er lachte ein letztes Mal auf dieselbe Art, denn ich nahm den Hamster und schaffte ihn heim.
Zu Hause schärfte ich dem Tier seinen Namen ein. Peterchen. Ich tat das wegen mir, nicht weil ich auf eine Reaktion des Hamsters rechnete. Ich wollte, sollte, musste mich an den Namen gewöhnen. Peterchen. Ich sollte, wollte, musste selbst glauben, dass dies der Hamster war, den mir Edward Erster für insgesamt tausend Piepen und den Silverhawk zur Betreuung überlassen hatte. Egal ob Edward Erster es ernst gemeint oder ob der Hamster nur als Vorwand gedient hatte.  

Trotz der gleichsam ernüchternden und beruhigenden Auskünfte des Verkäufers machte ich mit dem Silverhawk kurzerhand einen Abstecher in jenen Außenbezirk, in dem die alte Genossenschaft mit dem Laden für das spezielle Tierfutter und die Pflegemittel liegen sollte.
Gab es das Geschäft wirklich?
Soso: Die Verkaufsstelle existierte nicht mehr. Das Gebäude, in dem sie sich befunden hatte, stand im Verfall. Die Schaufenster waren verhangen, die gläsernen Reklametafeln hatte jemand mit Steinen traktiert.
Ich verließ die Gegend, ich gab Gas, ich scheuchte das Nobel-Auto, bevor ich es in die Garage auf Edward Ersters Anwesen schaffen würde, über Land. Der Wind wehte knatternd um meine Ohren, ich legte den rechten Arm auf die Lehne des Nachbarsitzes. Tineke, dachte ich, dies soll dein Platz bleiben. Nein, bleiben war das falsche Wort. Das richtige Wort hieß werden.  

Als ich mich nachher nur noch ein paar Kilometer vor der Hauptstadt befand, entschied ich mich, den Hawk nicht gleich in die Garage auf Edward Ersters Anwesen zu bringen. Ich fuhr stattdessen in die Straße, in der sich Tinekes Wohnung befand. Ich wollte es, wie man so schön sagt, wissen. Ich klingelte, es summte, ohne dass ich gefragt wurde, wer ich sei und zu wem ich wolle. Ich stieß die Tür auf und stürmte nach oben. Wieder spürte ich das Herzklopfen in mir, doch es war ein anderes als vor drei Tagen. Oder nicht?
Diesmal erwartete mich niemand vor der Wohnung.
Nur ein offener Türspalt. Ich klopfte und drückte dann ohne die Klinke zu berühren das Türblatt in die Wohnung hinein. Ich trat in den Flur und rief: „Hallo, jemand zu Hause? Tineke vielleicht?“
Nein, nur ein Typ mit randloser Brille und Kräuselfrisur. Einer wie er üblicherweise in keinem Öko- oder Femi- und schon gar nicht in einem Öko-Femi-Film fehlen darf. Ein Softi, ein Alternativer, vielleicht ein Weichei, ein Bursche mit einer dunkelgrünen Latzschürze, auf der verschiedene Gemüsesorten und neben dem Namen Jonathan noch verschiedene Öko-Sprüche abgebildet waren.
„Tineke ist nicht da.“ Er starrte mich an und ich ihn. Er wirkte ängstlich, unsicher. Und er sagte nichts weiter.
Daher fragte ich barsch: „Ja und, wann kommt sie wieder?“
Der Softi erschrak. Immerhin reagierte er prompt: „So wie sie gesagt hat, wird das wohl noch zwei Tage dauern. Wenn nicht länger. Vielleicht zwei Wochen. Sie wollte wohl noch jemanden besuchen. Kann sein eine Freundin. Oder ihre Oma. Sie stammt ja von da oben her.“ Was für eine Ausdrucksweise: von da oben her. Da oben, das war der Norden des Landes, die Küstenregion.
Ich zog wieder ab. Nein, ich wurde aufgehalten. Jonathan schien sich für mich zu interessieren. Auf welche Art, war mir nicht ganz klar.
„Du bist bestimmt dieser Erasmus?“
Ich kratzte meinen Hinterkopf und nickte skeptisch.
„Toller Name.“
Was sollte diese Bemerkung?
„Du bist Schriftsteller?“
Dieser Kerl. Dieses Geschmeichel. Ich kam gar nicht gut gegen diese letzte Bemerkung an. Er lockte mich damit so wie man eine Wespe an einem heißen Sommertag in eine halbvolle Sirupflasche lockt. Ein Schriftsteller, der noch lange keiner ist, lässt sich nur zu gern als Schriftsteller bezeichnen und hofieren. Und bewundern. Und die wenigsten Wespen fanden den Weg aus der dünnhalsigen Sirupflasche heraus. Sie summten und rannten gegen die harte Glaswand, bis ihnen die Kraft ausging und sie strampelnd in der dickklebrigen Suppe lagen. „Find ich ja interessant, so jemanden zu kennen. Ich bin der Jonathan. Soll ich uns eben ’nen Kaffee kochen und wir labern noch bisschen?“
Ich war kurz davor, seine Einladung anzunehmen. Aber ich dachte an die strampelnden Wespen. Es war nicht gut, sich als Schriftsteller, der man noch nicht wirklich war, umgarnen oder einlullen zu lassen. Und Tineke? „Hast du vielleicht die Adresse? In Ostfriesland.“ Das fragte ich nun doch noch. Jonathans Blick flackerte in Verwirrung. Nein, er hatte sie nicht.
„Bei Tineke weiß man sowieso nie, ob sie da ist, wo sie ’s vorher gesagt hat.“ Wieder diese seltsame Ausdrucksweise. Wo sie ’s vorher gesagt hat. „Du meinst, sie ist gar nicht nach Ostfriesland gefahren? Du meinst, sie hat das nur so gesagt? Mir, dir?“ Er lachte so ganz komisch, so kicherig. Dabei tatschte er mit der Hand gegen meine Schulter. Ich zuckte zusammen. Wich zurück. „Frauen sind nun mal anders als wir. Als Schriftsteller solltest du das wissen, mein lieber Erasmus. Und wenn du so einer wie der Tineke nachstellst, schon mal besonders.“  

Ich fuhr heim. Das heißt, ich fuhr um die Ecke und hielt den Wagen noch mal an. Was war das gewesen? Softi in Latzschürze, der so gewagte Weisheiten über Frauen verbreitete. Vor allem: über die schönste Frau, die ich kannte.  

In meiner Wohnung saß ich dann vor dem Käfig des Hamsters, ich führte Gespräche. Mit ihm, Peterchen Zwo, so sollte er nun endgültig heißen, und mit mir. Es ging um die letzten Tage, um Tineke. Es ging um meine Aussichten. Falls ich denn noch welche haben sollte. Mir wurde immer klarer, was mir Tineke bedeutete. Viel, sehr viel.
Es ging auch um das Manuskript. Ich fürchtete auf einmal, dass mein Roman bei ihr durchfiel. Und ich mit. Ich erzählte es Peterchen. Dem Neuen, dem Zweiten. Immer wieder.
Und ich fragte Peterchen Zwo: „Glaubst du das, was dieser komische Geselle mit der Latzschürze, dieser Jonathan, unserer Tineke unterstellt?“ Da sich der Hamster zunächst nicht für diese Frage interessierte, wiederholte ich sie. Laut und mit einer angedeuteten Koloratur untermalt. Nein, Peterchen Zwo widmete sich weder meinem Zuneigungskummer, noch zeigte er Verständnis für die Zweifel an meiner literarischen Tätigkeit. Er schnüffelte herum, nagte an den großen Salatblättern, die ich inzwischen aus einer Tonne am Eingang des Supermarkts stibitzt hatte, und er schaute mich mit seinen Druckknopfaugen durch die Gitterstäbe an. Gelangweilt, ohne jede Tendenz zur Kommunikation.
Egal, ich war in diesem Augenblick froh, dass ich Peterchen Zwo hatte. Durch ihn vergaß ich zunehmend Peterchen Eins, und ich gewann die Stärke, wieder an meinem Manuskript zu arbeiten. Ich befasste mich erneut mit jener Passage, in deren Mittelpunkt die sizilianische Hinrichtung stand. Ich schlachtete die Szene weiter aus, indem ich die Polizei ins Spiel brachte, die – nachdem der Mord begangen war – aus dem Nichts auftauchte und die Suche nach den Mördern aufnahm. Oder? In der Tat, diese Variante gefiel mir nicht. Schießereien zwischen Polizisten und Gangstern gab es genug. Stündlich konnte man sie im Fernsehen verfolgen. In tausend anderen Büchern las man darüber. Warum auch noch bei mir? Ich wählte eine andere Variante und stellte die Polizisten als korrupt dar. Sie betraten den Schauplatz, sahen die Hingerichteten. Sie rauchten mit den Gangstern eine Zigarette, steckten das Schmiergeld ein und verschwanden. Reichte das? Wurde einem das nicht auch in jedem zweiten Krimi so offeriert? Ich forcierte die Handlung noch weiter: Sie, die Polizisten, blickten, nachdem sie geraucht hatten – zufällig – zum Fenster des Museums hinauf. Und sahen sie dort nicht das versteckte Pärchen? Ich wusste es selbst nicht mehr. Ich ließ das Manuskript ruhen. Ich hatte noch eine Flasche Wein vom Nachmittag mit Tineke. Die trank ich leer. Danach schlief ich.  

Folge 5 vom 2. April. 2020 

Nach einigen Tagen geschah etwas Überraschendes. Etwas sehr Bedeutendes. Ich erhielt, während ich mir von einer Döner-Bude etwas zu essen holte, Post. Keine Werbung, wie sonst üblich, keine Rechnungen und keine Irrläufer, die eigentlich an die Mieter gerichtet waren, die schon lange nicht mehr hier wohnten. Vier Briefe, von denen drei mit meinem Namen und meiner Adresse versehen waren. Diese drei steckten im Gegensatz zum vierten Brief in meinem hartnäckig verteidigten Postkasten.
Die Aufschrift des Absenders trugen nur zwei. Das waren der Brief, der von Edward Erster aus der Schweiz kam, und jener, den die Firma, bei der ich mich für ein Jahr hatte beurlauben lassen, geschickt hatte. Mein Arbeitgeber. Ganz klar, ich wurde daran erinnert: Das Freistellungsjahr war fast um. Man wollte wissen, ob ich Rückkehrambitionen hätte.
Der dritte Brief war auf der Rückseite des Umschlags mit zwei Initialbuchstaben signiert: T. T. Ich gestehe durchaus, dass es mich fröstelte, als ich die Buchstaben las, denn ich hoffte so sehr, Tineke möge mir geschrieben haben, wiewohl ich mich zugleich vor einem vernichtenden Inhalt fürchtete: Miserables Manuskript, orientierungsloser, durchgeknallter Feigling, der ihr sogar während ihrer Abwesenheit in die WeGe hatte nachsteigen müssen. Einen Augenblick lang sah ich diesen Softi mit der Latzschürze vor mir. Ich sah ihn, wie er, kaum dass ich die Wohnung verlassen hatte, zum Telefon stürzte und Tineke alles petzte. Nicht nur petzte, sondern noch jede Menge Lügen und Abschweifungen hinzufügte.
Vielleicht war das Bürschchen Tinekes Freund. Nein, eher nicht. Aber er konnte rettungslos in Tineke verliebt sein, und da sie ihn sang- und klanglos hatte abblitzen lassen, versuchte er in krankhafter Eifersucht, alle Männer von Tineke fernzuhalten. Mit allen Mitteln, auch mit perfiden. Vielleicht enthielt der Brief aber auch nur ein paar Grüße und einige unverbindliche Abschiedsworte: Es war nett, mit dir im Auto zu fahren, aber ich bleibe doch lieber allein. Ach ja, die Plattensammlung kannst du gern zurück haben. Bitte bring mir doch vorher das geborgte Geld vorbei. Wenn ich nicht da sein sollte, gibst du es Jonathan …
Ich unterdrückte sowohl meine Hoffnungen auf gute Nachrichten wie auch die Furcht vor unangenehmen Mitteilungen und schlitzte zunächst den Brief meines Onkels auf. Edward Erster war ein guter Mensch. Trotz seines Geldes und seiner ihn unnahbar wirken lassenden Kapitalisten-Aura. Vielleicht, weil er keine Kinder hatte. Keine leiblichen. Obschon seinem Lebenswandel zufolge dieser und jener Nachkomme in kurzen Abständen, wenn nicht gar zeitgleich, denkbar gewesen wäre. Halbgeschwister, in Scharen, was sicher keiner zusätzlichen Erläuterung bedarf.
Da dieser Fall jedoch nicht eingetreten war, meinte Edward Erster als der erheblich ältere Bruder meines Vaters, auch noch ein Jahrzehnt nach dessen Abreise, die Vaterrolle für mich übernehmen zu müssen. Dass er sich per Brief meldete, war nicht außergewöhnlich. Obwohl er auch auf moderne Weise kommunizierte, per E-Mail, über Handy-Systeme und sowieso mit dem Fax, pflegte er gern das Altmodische, was ihm, nicht ungewollt und nicht unbegründet, den Anschein verlieh, ein Snob mit stabilen alten Werten zu sein, welche er vornehmlich mir zu vermitteln suchte. Denn da Edward Erster ob des Altersunterschiedes zu meinem Vater, diesen – auch angesichts der früh verstorbenen Eltern – eher als seinen Sohn denn als Bruder behandelt hatte, meinte er, ihm sei diese Rolle mir gegenüber selbstverständlich ebenso auferlegt.
Sein Brief ließ es an Länge und der ansonsten unverwüstlichen Formstarrheit missen. Selbst die unumgänglichen Appelle zur Normalisierung meiner Lebensweise fehlten. Nur kurz teilte er mit, es gehe ihm gut, die Anwendungen in den Wellness-Einrichtungen frischten seinen allerdings gar nicht so üblen Gesundheitszustand zusehends auf; und auch mit neuen Kontakten sei es – AhA – nicht schwierig. Abermals erkundigte er sich nach meinem Roman. Diesmal anders. Als würde er sich für den Inhalt interessieren. Er bat, ich möge das Manuskript ausdrucken und ihm zusenden. Für das Porto und den Kauf neuer Druckpatronen hatte er einen korrekt ausgefüllten Scheck über einhundert Piepen beigelegt. Neue Druckpatronen, weil er sich eine gut lesbare Schrift wünschte. Einen Scheck, weil ich keine EC-Karte besaß. Erst nachdem ich den Brief weggelegt hatte, fiel mir auf, dass Edward Erster mit keinem Wort nach seinem Hamster gefragt hatte.
Ich lächelte kurz, hatte jedoch bereits den zweiten Brief geöffnet. Es war das Schreiben aus der Firma. Der erwartete Text, den ich lediglich überflog: … möchten wir darauf hinweisen ... Ihre Freistellung endet in zwei Monaten … halten wir es für sinnvoll, zunächst ein Gespräch mit Ihnen … bitte vereinbaren Sie einen Termin … Blablabla. Und doch, es war unumgänglich, eine Entscheidung zu treffen. Für mich. Beruf, Freiheit, Selbstverwirklichung. Gesicherte Existenz, ungewisse Zukunft. Schriftsteller, Manager.
Endlich wagte ich mich an den Brief von Tineke.
Er war kurz, doch sie hatte ihn nett geschrieben und sogar mit der Anrede Lieber Erasmus begonnen. Sie erzählte, wie gut es ihr tue, dort zu sein. Zu Hause. Jetzt im Sommer. Es sei sehr ruhig, kaum Urlauber. Das sei das Schöne, das Einmalige an ihrem kleinen Ort: das Romantische, das Ursprüngliche und die Abgeschiedenheit. Dabei lägen die bekannten Seebäder nicht mal weit entfernt. Sie schrieb: Dir würde es hier auch gefallen, Erasmus. Und sie fügte hinzu, dass sie über mich nachgedacht habe. Über meine Lebensweise, meine Lebenseinstellung, meine Zukunftsaussichten.
Das Ergebnis dieser Gedanken behielt sie für sich. Der Brief erweckte daher den Eindruck, als hätte sie an dieser Stelle etwas hinzufügen wollen. Über und an mich. Womöglich hatte sie nicht die passenden Worte gefunden. Oder sie hatte sich nicht getraut, mehr zu schreiben.
Über ihr Gespräch in der Klinik berichtete sie noch weniger. Sie schrieb: Mit einer passenden Arbeitsstelle im hiesigen Krankenhaus hat es nun doch nicht geklappt. Sie hätten mich gern genommen, aber sie bieten nicht die Möglichkeiten, die ich im Großklinikum in Berlin habe. Es war, als hörte ich sie durch die Zeilen hindurch seufzen. Das Wichtigste: Am Ende des Briefes stand ihre Handy-Nummer. Und ihr Name. Tineke Tollwin.
Diesen Namen sprach ich einige Male vor mich hin. Nein, nicht einfach so, sondern ich sagte, flüsterte ihn zu Peterchen Zwo. Durch die Gitterstäbe des Käfigs. Und ich fragte den dummen kleinen Hamster: „Ein schöner Name, nicht wahr?“  

Ach ja, der vierte Brief. Ich fand ihn, wie schon bemerkt, nicht im Postkasten, sondern in meiner Wohnung. Er lag auf dem Boden, gleich hinter der Eingangstür. Offenbar hatte der Verfasser beobachten lassen, wann ich aus dem Haus gehe, danach hatte man den Umschlag schnell und unauffällig unter der Tür in den Flur hinein geschoben. Der Umschlag wies weder einen Absender auf noch war er mit einer Briefmarke versehen. Ich hob ihn auf, und ich spürte ein seltsames Frösteln. Nein, es war mehr als ein Frösteln. Es war totale Schwäche. Die Knie wurden weich. Sie drohten einzuknicken. Ich musste mich für einige Augenblicke an der Türklinke festhalten, ehe ich das Schreiben vor meine Augen halten und entziffern konnte. Ich ahnte schon vor dem Lesen, um was es ging, zumal außer dem Poststempel und der Angabe des Absenders auch eine Anschrift fehlte. Schon zwei Mal hatte ich in den letzten Jahren eine derartige Post bekommen. Mit ganz geheimen Mitteilungen, Anweisungen. Es sah auch diesmal nach strenger Geheimhaltung aus. Der Umschlag enthielt einen Zettel in der Größe DIN A 5. Ein formloser, anonym gehaltener Text. Doch mit ganz konkreten Anweisungen:
Guten Tag, dies ist eine Mitteilung, die höchst vertraulich zu behandeln ist.
Finden Sie sich bitte am 29. des Monats um 14 Uhr an der Brücke sieben des Autobahnabschnitts 52 ein. Bitte beginnen Sie Ihre Reise unbedingt am Fernreisebahnhof der Hauptstadt mit dem Zug. Bitte bringen Sie kein Gepäck mit. Bitte sprechen Sie mit keinem Menschen über die von Ihnen vermuteten Inhalte dieses bevorstehenden Termins, auch nicht andeutungsweise.
Bitte machen Sie auch nirgends Notizen darüber. Bitte planen Sie für diese Aktion genau vier Wochen ein. Unterzeichnet war der Brief mit den Worten: Mit Grüßen.
Kein Name, keine Institution, kein Datum, keine Adresse, nicht der geringste erkennbare Hinweis auf den oder die Verfasser.
Jedoch der Zusatz: Bitte prägen Sie sich Ort und Tag und Uhrzeit ein und vernichten Sie dieses Schreiben umgehend. Bis zum 29. blieben mir noch volle vier Wochen. Eine fürchterlich lange Zeit, die mir bevorstand, in der ich mich zwischen Ängsten, Hoffnungen und Spekulationen hin und her gestoßen fühlen würde. 

Ich verbrannte den Brief über meinem Klobecken und spülte die schwarzen Fetzen in die Unterwelt des Kanalisationssystems. Anschließend holte ich Druckerpatronen und Briefmarken. Ich druckte zahllose Seiten aus. Doch ich zögerte, bevor ich die Manuskript-Sendung für Edward Erster zurechtmachte. War es richtig, ihm den Text zum Lesen zu geben? Nach all den Diskussionen und Auseinandersetzungen, die er mit mir und ich mit ihm zum Thema Ich schreibe ein Buch und mache vorläufig nichts anderes geführt hatte. Und er hatte sich bisher kein bisschen für meine Schriftstellerei interessiert. Inhaltlich. Es war immer nur um das Schreiben als solches gegangen. Meine Zukunft. Deren mögliche Gestaltung er beargwöhnte. Das Schreiben kümmerte ihn weniger, ihn störte vielmehr die zunehmend spartanisch werdende Lebens­weise, die ich mir auferlegt hatte.
Egal, dachte ich, man muss sich den Leuten stellen. Seinen Verwandten. Vielleicht hatte er seinen Sinn geändert, seine Gewohnheiten. Vielleicht akzeptierte er meine Einstellung endlich.
Ich schrieb ihm statt einer Erläuterung zum Manuskript ein paar belanglose Zeilen dazu: Wünsche dir weiterhin gute Wellness-Erfolge, vor allem nette Gesellschaft.
Und: Deinem Hamster geht es blendend, auch wenn das Geschäft in der alten Genossenschaft längst nicht mehr existiert und Peterchen ohne die von dir geforderten Spezialmittel auskommen muss.
Den Umschlag mit dem Manuskriptausdruck brachte ich prompt zum Briefkasten, danach ging ich zur Bank und ließ am Schalter gegen Bareinzahlung mein Handy aufladen.
Tineke, dachte ich und zog noch in der Bank mein Handy aus der Tasche. Ich hatte ihre Nummer längst eingespeichert und musste nur noch zwei Tasten drücken. Es summte einmal und noch einmal, dann meldete sie sich schon. Wir redeten über ein paar Belanglosigkeiten, bis sie auf einmal fragte, ob ich noch über den Silverhawk verfügte.
Ja, auf jeden Fall.
Dann nannte sie mir die Adresse, bei der sie untergekommen war. Sie sagte: „Wenn das schöne Wetter anhält, bleibe ich mindestens noch eine Woche hier. Bin jeden Tag auf dem Deich und laufe ganz lange Strecken. Es ist so schön.“
Konnte eine Einladung, eine Aufforderung eindeutiger klingen?
Ich stürmte zurück in die Hinterhofwohnung. Ich schmiss dieses und jenes in meinen seit Langem nicht mehr benutzten Reisekoffer, und ich nahm es, weil ich es für nicht mehr vorzeigbar hielt, wieder heraus. Ich redete zwischendurch mit Peterchen Zwo Sätze in dieser Art: „Ich werde zu ihr fahren, morgen früh oder heute Nacht düse ich los. Im super Sil­verhawk. Auf diese Weise vergehen auch die nächsten vier Wochen schneller. Vielleicht gefällt es mir bei Tineke sogar so gut, dass ich nachher gar nicht dorthin will, zum Fernreisebahnhof, zu Brücke sieben am Autobahnabschnitt 52.“ Ich überlegte, ob mich jemand gehört und ich gegen die Geheimhaltungsvorschrift verstoßen haben könnte. Wer? Es gab auf dieser Etage keine Nachbarn mehr. Und wenn schon.
Peterchen Zwo interessierte sich nicht für meine Erwägungen. Er fraß an einem schönen Salatblatt. Trotzdem wechselte ich das Thema. Ich schwärmte wieder. Ich sang: „Tineke, mit dem wunderbaren Namen. Tineke, eine wunderschöne Frau. Sie erwartet mich am herrlich grünen Deich direkt an der See. Die Sonne scheint. Für uns.“
Der Hamster zeigte sich weiterhin desinteressiert und unbeeindruckt. Er fraß und fraß und sauste ab und zu wie eine Rennmaus in seinem Käfig umher. Er verhielt sich mir gegenüber argwöhnisch, ablehnend. Wahrscheinlich sorgte er sich, was aus ihm werden sollte, wenn ich fort sein würde. „Keine Bange“, rief ich ihm daher zu, „für dich finden wir eine Lösung. Schließlich will ich nicht noch einen zweiten Nager auf dem Gewissen haben.“ Und dann sang ich wieder. Über Tineke, über mich, über eine große Liebe.
Ich hatte gute Laune, und ich war zuversichtlich, was die Lösung meines Hamsterproblems anging. 

Der Koffer stand an der Tür. Er war nur halbvoll. Die Sachen, die ich einst besessen hatte, waren entweder auf dem Flohmarkt verkauft worden oder inzwischen so verschlissen, dass ich sie nicht mehr in der Öffentlichkeit tragen konnte. Und was ich jetzt gerade anhatte? Ich stand vor dem Spiegel, und ich fand mich schäbig. Ich gab dem Koffer einen Tritt und verschwand durch die Tür. Ab auf die Straße und hin zur Glasdachpassage mit den vielen Boutiquen. Ich kleidete mich ein. Ich hörte Edward Erster in Gedanken sagen: „Nimm lieber zwei, drei Hemden und Hosen mehr. Über Geld brauchen wir nicht zu reden. Sollst mal sehen, wie du dich gleich viel besser fühlst. Neu eingekleidet. Und ich auch.“ Ich kaufte doch nicht ganz so üppig und teuer, dennoch fühlte ich mich mit ein paar neuen Sachen erheblich besser. Ich stand zu Hause vor dem stumpfen Spiegel des alten Schrankes und drehte mich mehrmals um die eigene Achse. Ich hätte auf der Stelle losfahren können, zu Tineke, so gut fühlte ich mich. Ich sah auf die Uhr. Um Mitternacht konnte ich schon dort sein, bei ihr. Rein in den Hawk und los. Nein, doch nicht. Bei einer Frau wie Tineke kreuzte man nicht so einfach um Mitternacht auf. Auch wenn einem diese Frau geneigt sein mochte. Konnte es nicht sein, dass ich Tineke Unannehmlichkeiten bescherte? Wusste ich denn, bei wem sie untergekommen war? Was sollte ich aber dann tun? Schreiben, korrigieren? An meinem Manuskript? Ich war dafür zu unruhig, regelrecht aufgewühlt. In vier Wochen an Brücke sieben, vorher am Fernreisebahnhof, morgen oder übermorgen bei Tineke am Deich. Liebe, Ungewissheit, Pflicht. Eine Flut von Gefühlen, Eindrücken und Unklarheiten war auf mich eingestürzt. Verlor ich nicht gleich den Boden unter den Füßen? Ich tat etwas zur Ernüchterung: Ich rief Frau Stine-Pohl an. „Was für eine Überraschung“, antwortete die Dame. Doch sie wiegelte sogleich ab. „Das heißt, mir war sowieso klar, dass Sie sich bald melden würden. Ich hatte ja veranlasst, dass Sie Post von uns bekommen.“ Ich ahnte, dass sie sofort in ihrem unheimlich dicken Terminkalender blättern würde. Und es bestätigte sich ja auch: „Also, Sie wissen ja, Herr Erster, meine Zeit ist sozusagen von Natur aus knapp. Ich habe im Moment nicht mal die berühmte halbe Höflichkeitsminute für einen Smalltalk am Telefon Zeit.“ Ja, ich wusste es. Das und noch mehr. Ich hatte es in jenen fünf gemeinsamen Jahren erfahren. Gespräche, Sitzungen, Konferenzen. Für Privates standen wir uns niemals nahe genug. Wegen der Zeitknappheit. Für wichtige Geschäftstermine hatte Frau Stine-Pohl hingegen den Kleinen flexiblen Termin fast immer in petto.
Am nächsten oder übernächsten Tag: „Morgen, vor dem Mittag, könnten Sie kommen, Herr Erster. Für eine halbe Stunde. Allerdings nicht länger.“
Donnerwetter, dachte ich, so schnell. Sprach das nicht für gute Aussichten bezüglich einer Rückkehr in meinen bürgerlichen Beruf? Ich seufzte. Und die Schriftstellerei?

Die Stunden der nächsten Nacht sickerten dahin wie zäher Sirup durch ein verfilztes Sieb. Ich wälzte mich auf meinem knarrenden Bett und schaute immer wieder auf die Uhr. Die Zeiger standen – es schien zumindest so – still. Unruhe war in mir und um mich. Peterchen Zwo arbeitete unermüdlich. Was er arbeitete, blieb mir verborgen, denn bei eingeschaltetem Licht und gelüfteter Schlafhaube tauchte er unter einem großen Salatblatt oder in seiner künstlichen Höhle ab und stellte sich schlafend. Und mit diesem geheimnisvollen Aktionismus stieß er mich noch und noch auf die Frage: Bei wem würde ich den kleinen Schlingel während meines Besuchs bei Tineke unterbringen? Ich wusste niemanden. Ich hatte mich in den letzten Monaten dermaßen abgekapselt und auf meine Arbeit als Schriftsteller konzentriert, auf dass ich schief und schräg angesehen werden würde, wenn ich nach langer, unerklärter Abwesenheit auf einmal mit einem Hamsterkäfig unter dem Arm bei den früheren Bekannten vor der Tür stünde.
Trotzdem blieb ich zuversichtlich. Und standhaft: Ich würde mich meiner Verantwortung für den kleinen Irrwisch nicht entziehen. Immerhin verhielt sich Peterchen Zwo mit Anbruch des neuen Morgens endlich ruhiger. Offenbar brauchte er genauso seinen Schlaf wie ich.
Mir jedenfalls tat die Ruhe gut. Fast wäre ich nicht aus den Tüchern gekommen, so sehr hatte es mich nachher in die Schlaftiefen hinuntergezogen. Allerdings nicht so tief, als dass ich den Termin bei Frau Stine-Pohl wortwörtlich verschlafen und ihrem kritischen Blick nicht standgehalten hätte. „Na, Herr Erster, einiges hat sich ja wohl doch geändert, seit Sie sich haben beurlauben lassen. Bei Ihnen.“ Es war der auffällig unauffällige optische Check-up gewesen, bei dem sie mein Outfit ihrer Beurteilung unterzogen hatte. „Wenn Sie zu uns zurück wollen, müssten wir ja doch einiges umstellen. Da ist der alte Bekleidungszustand unerlässlich.“ Dabei hatte ich meine neu erworbenen Klamotten angezogen. Nun denn, ein freier Mensch, ein Schriftsteller sitzt am liebsten in bequemer Kleidung am Laptop, er geht nicht mit Krawatte und Jackett durch den Alltag. Auch nicht zu seiner früheren Vorgesetzten, egal dass die frühere Vorgesetzte die künftige Vorgesetzte werden sollte. Ich lächelte leicht betreten. Frau Stine-Pohls Blick ruhte nun auf meinem Gesicht. Sie fügte hinzu: „Und das bedarf Ihrerseits sicherlich keiner Diskussion.“ Ich nickte ziemlich ergeben, und ehe ich die eine drängende Frage gestellt hatte, nahm sie die Antwort darauf bereits vorweg: „Ansonsten stehen Ihre Chancen auf eine Rückkehr nicht schlecht. Die Stelle, die Sie bis zu Ihrer freiwilligen Beurlaubung bekleidet hatten, konnten wir ja leider noch nicht vollwertig besetzen. Vielleicht wollten wir es auch gar nicht, weil Sie einfach sehr gut gearbeitet haben.“
Natürlich, es war taktisch nicht klug, aber es ließ sich nicht unterdrücken: Mein Gesicht erstrahlte im erlaubten Maße, ich wuchs in der Tat zwei oder drei Zentimeter empor. Frau Stine-Pohl registrierte das mit kurzer Genugtuung, danach schwenkte ihr Interesse um. „Und das Buch, für das Sie diese asketische Zeit und die offenbar unabdingliche Atempause in Ihrem beruflichen Aufstieg auf sich genommen haben, ist demnach rundweg missglückt? Oder hat es einen anderen Grund, dass Sie offensichtlich mit dem Gedanken spielen, wieder einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen?“
Bei einem anderen Menschen hätte die Frage mit Schadenfreude oder Besserwisserei zu tun gehabt haben können. Nicht bei Frau Stine-Pohl. Insofern klang es glaubhaft, als sie automatisch von einem Ja ausging und dieses unausgesprochene Ja dann mit „Wenigstens eine Erfahrung mehr“ quittierte. So sachlich, so ohne Humor und Mitgefühl. Da ich selbst jedoch mit einem Ja zögerte, sah sie sich genötigt, den Sachverhalt zu klären. Unversehens hakte sie nach: „Also ist es doch fertig geworden, dieses Buch, nur wollen Sie’s niemandem zeigen, weil es Ihnen selbst nicht gefällt. Auch kein gutes Zeichen.“ Stimmte das? Gefiel mir das Manuskript wirklich nicht? Und spielte ich wirklich mit dem Gedanken, in meinen Job zurückzukehren? Die bürgerliche Karriere des Erasmus Erster. Warum war ich dann überhaupt hier?
Nein, es gefiel mir. Mein Buch. Das erste. Ich hatte es ja inzwischen sogar zwei Menschen zum Lesen gegeben. Tineke und meinem Onkel. Ich würde in Kürze die Rückmeldungen bekommen. Und selbst war ich einfach noch zu keiner durchgängig positiven Wertung gelangt. Im Grunde gefiel mir das Manuskript richtig gut, nur manchmal kamen mir Zweifel. Das mochte indessen mit meiner jeweiligen Stimmungslage zu tun haben. Mit meiner Zurückgezogenheit.
Und neuerdings mit Tineke, wegen dieses inzwischen unbezwingbar gewordenen Gefühls namens Verliebtheit. Liebe?
Frau Stine-Pohls Blick ruhte jetzt wieder auf meinem Gesicht. Sie sah kompetent und allwissend aus. Und anmaßend. Ich begriff, dass sie das Manuskript lesen wollte. Und ich war aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, mich gegen diese Aufforderung aufzulehnen oder mich durch eine Ausrede um deren Erfüllung zu drücken. Also lenkte ich ein: „Wenn Sie sich dafür interessieren. Gut, dann reiche ich Ihnen ein Exemplar rein.“ Ich dachte, vielleicht ist es nicht die schlechteste Variante, wenn sie es liest. Sie ist unbestechlich, sie ist korrekt. Sollte sie es scheußlich finden, so würde ich trotzdem über den Dingen stehen. Über ihrem Verriss. Ich war also mutig und selbstbewusst genug, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Einer anderen Wahrheit. Wirklich?

Folge 6 vom 3. April. 2020  

Frau Stine-Pohl hatte mich am Ende der peinlichst eingehaltenen Flexiblen halben Stunde aufgefordert, gleich jetzt die ersten Formalitäten für meine Wiedereinstellung zu erledigen. Ich gehorchte. Egal, dass noch mehrere Wochen Zeit blieben und ich die Wiederaufnahme meines Arbeitsverhältnisses vielleicht gar nicht wollte. Ich hatte ja auch nicht alle Dokumente, die benötigt wurden, dabei. Somit musste ich nach Hause, um diese Sachen zu holen. Da ich nun schon hier war, druckte ich gleich das Manuskript aus. Das alles dauerte, zumal ich nicht umhin kam, nochmals loszulaufen und weitere Druckpatronen und auch gleich neues Papier zu kaufen.
Als ich den Ausdruck fertig und die fehlenden Unterlagen zusammengesucht hatte, fuhr ich zurück in die Firma, um das Manuskript im Vorzimmer der Frau Stine-Pohl abzuliefern und in der Personalabteilung die fehlenden Dokumente einzureichen.
Erst am späten Nachmittag kehrte ich wieder in meine Wohnung zurück. Ich war durcheinander. Ich hatte alle Schritte eingeleitet, um wieder zu arbeiten; wie früher. Wollte ich nicht aber Schriftsteller werden, sein? Unabhängig, kreativ, produktiv. Zäh, verbissen, voller Ideale.
Fragen und Antworten hämmerten in meinem Kopf. Ein Zustand, in dem man nicht in ein Auto steigen und zu seiner Angebeteten fahren sollte. Zur Nordsee.  

Ich kroch um acht Uhr ins Bett. Draußen war es süß lau. Ein aufdringlich eindringlicher Großstadt-Hochsommer. In der Luft flirrten tausendundein wunderbare Düfte. Auch Dünste. War es ein Wunder, dass ich nicht schlafen konnte? Zumal unter meinem Fenster verschiedene Leute rumorten. Die Tippelbrüder, die eben diesen Hinterhof seit dem Frühjahr zu ihrem dauerhaften Rückzugsgebiet erkoren hatten. Nachtquartier, Clubraum. Unter freiem Himmel. Dieser blumige Sommerabend lud die illustre Schar geradezu zum Zechen, zur nächtlichen Sause ein. Die Flaschen mit dem Fusel kreisten, mit jedem Schluck nahm die Lautstärke des Gelächters und der Meinungsäußerungen zu. Zoten, Politik, Kulturbetrachtungen. Weisheiten. Die Erkenntnisse und die Lösungen der globalen Probleme. Dagegen war ich machtlos. Ich hatte die fröhlich-harmlose Runde kürzlich noch gegenüber den drei anderen im Block verbliebenen Mietern verteidigt. „Irgendwo müssen diese Kollegen schließlich hin“, hatte ich gesagt. Und nun wurde ich selbst zu deren Opfer.
Nach einer halben Stunde stand ich auf und schaltete den Computer an. Nein, ich öffnete diesmal nicht den Ordner mit dem besagten Roman, meinem ersten Buch. Ich hatte auch einen Ordner, in dem ich halbfertige oder noch in Rohfassung befindliche Geschichten abgespeichert hatte. Ein guter bis sehr guter Schriftsteller, auch einer, der sich in meinem Stadium befand, arbeitete natürlich nicht nur an einem Werk.
Ich wählte die Story mit dem Arbeitstitel „Der Schwogger“. Darin kam ein Mann vor, der seit Jahren mehrmals in der Woche mehrere Kilometer läuft. Er hört dabei über Kopfhörer Musik, die er auf einem Stick gespeichert hat. Es sind immer die gleichen Stücke, und es sind nicht mehr als fünfzig, die für ihn in Frage kommen. Andere gefallen ihm nicht. Durch sein hohes Pensum an Läufen verweben sich Musik und Sport bei ihm immer stärker. Nicht nur kann er ohne seine Musikstücke nicht mehr joggen, muss er sich andererseits auch dem Zwang der Musik unterwerfen. Er wird es gewahr, als er sich eines Tages in der Einkaufszone befindet und bei einer Werbeveranstaltung zwei seiner Stamm-Stücke über mehrere Lautsprecher ausgeschallt werden. Der Mann kann nicht anders, er muss plötzlich laufen. Es ist ein Reflex. Er rennt. Mitten durch die Menschenmengen, danach immer weiter, immer im Kreis, immer in dem Bereich, in dem die Musik noch zu hören ist. Es ist ihm nicht möglich, dem Klang der Lautsprecher zu entrinnen. Erst als die Musik abgeschaltet wird, kann er einhalten. Doch fortan gerät er immer häufiger in dieselbe Situation. Er hört Musik, und er muss rennen. Bis er den Zwang nicht mehr aushält und völlig verzweifelt. Er versucht es mit einer ambulanten Psycho-Therapie, die ihm jedoch nicht hilft. Er geht in eine geschlossene Anstalt und wird abermals therapiert. Als er nach acht Wochen entlassen wird, gilt er als geheilt. Die Ärzte haben dem Mann das Joggen und Musikhören abgewöhnt. Er betreibt nun eine andere Sportart: Er schwimmt, ohne Musik, und ist somit gegen Wahrnehmungen in der Öffentlichkeit gefeit. Ein Schwogger also. Oder ein Schwigger?  

Um elf lag ich wieder im Bett. Ich hatte die Geschichte im Kopf mitgenommen und war aufgewühlter denn je. Konnte man so etwas schreiben? Jogger, Schwimmer, Musik, und alles verschmolzen. Ja, man konnte. Durfte, sollte. Wenn man wollte.
Aber der Schluss, der gefiel mir nicht. Sollte ich nicht eine auffälligere Pointe anlegen?
Ich grübelte eine Weile, dann hakten sich meine Gedanken bei Frau Stine-Pohl fest. Bei der Frage, ob und warum ich mich hatte überrumpeln lassen. Zurück in die Firma. Es war wider meinen Willen. Und nicht auch wider meine Natur? Ich wurde mir nach einer halben Stunde des Grübelns bewusst, ich verbat mir die Fortsetzung. Ich fand dennoch keinen Schlaf. Ich versuchte mich mit Atem- und Konzentrationsübungen zu überlisten. Und ich lag um halb eins immer noch wach. Dabei war es im Hof ruhig geworden. Die Tippelbrüder waren abgezogen. Zu Tippelbrüdern auf einem anderen Hinterhof. Alle Mann in dieser Sommernacht. Blumig, lau, dunstig und duftig. Vielleicht mit ein paar Tippelschwestern. Das nämlich auch.
Ich hätte schlafen können, vier, fünf oder sechs Stunden. Und dann ab, einigermaßen ausgeschlafen, abgeklärt, aufgeräumt; mittags bist du an der Küste. Kannst Fisch essen, auf dem Deich wandern, dich sonnen. Vielleicht baden. Mit Tineke.
Und sonst?
Und wenn ich jetzt losfuhr? Raus aus der Kiste und rein in die Kiste. Vom Bett ins Auto. Dann würde ich es sicherlich bis zum Frühstück schaffen. Das war noch schöner. Frühstück bei, mit Tineke. Ich würde sagen, ich hätte mir das ja seit Langem gewünscht, das gemeinsame Frühstücken. Hatte ich ja auch. Also fahr los, Erasmus Erster. Und der Hamster?
Da die Variante Ich lasse ihn bei den Tippelbrüdern, und er mutiert innerhalb von zwei Tagen beziehungsweise Nächten zum Vollalkoholiker, worauf er wie sein Vorgänger Peterchen Eins prompt verstirbt nicht in Frage kam, fiel mir nichts anderes ein, als den Burschen mitzunehmen. Peterchen Zwo geht auf Reisen, lautete daher der neue Beschluss. Im Auto, auf dem Rücksitz.
Eine für Peterchen Zwo angenehme Lösung, denn während der Fahrt würde sich für ihn wenig ändern: Er befand sich weiterhin in seinem Käfig, hatte sein Futter und seine Ausstattung, um ihn herum waren Licht und Luft, und ab und an hörte er meine Stimme. Den Unterschied zum Standort Wohnung machte nur die Bewegung des Autos aus. Das Fahren, Schaukeln und gelegentliche Ruckeln. Ein paar vorbeifliegende Motorengeräusche. Ich hielt das nicht für wesentlich, ich dachte: Wir Menschen befinden uns ja auch ständig in Bewegung, ohne uns darüber Gedanken zu machen; wir stehen, gehen oder liegen auf dem Erdball, der sich dauernd dreht und zudem noch um die Sonne kreist. Verfallen wir deshalb in Panik?
Ich überlegte nun nicht weiter. Ich wollte fahren. Unbedingt, gleich.
Na ja, nicht gleich. Erst mal zum Anwesen des Edward Erster, dort stand der Hawk. Ich stürmte los. Ich erwischte in der Station die letzte Bahn der gelbblauen Linie und fuhr mit ihr in die Nähe von Edward Ersters Villa. Ich entführte, ohne dass es die gestrenge Haushälterin merkte, den Hawk. Gegen zwei Uhr erreichte ich mit dem Schlitten unseren Wohnblock. Ich holte den Koffer und den Hamsterkäfig und stellte beides auf die Rückbank des Autos. Und eine halbe Stunde später glitt ich bereits auf der Autobahn dahin. Wie ein Haifisch im Weltmeer.
Tineke, ich komme, summte ich zu einer mir bis dahin unbekannten Melodie.
Peterchen Zwo arrangierte sich. Es gefiel ihm im Auto. Er schnüffelte zunächst ganz allgemein den Geruch der Ledersitze in sich hinein und wunderte sich im Speziellen über die schaukelnden Bewegungen, und spätestens nach Erreichen der Autobahn hatte er sich an alle Änderungen gewöhnt und begann mit seinen üblichen Beschäftigungen. Er rackerte in seinem Käfig, was das Zeug hielt, und als nach einer Stunde das Morgenlicht durchbrach, kroch er in seine Papp-Höhle und schlief. 

Der Schlaf steckte mich an. Zwei, drei Stunden weiter und auch ich gähnte fürchterlich und kämpfte mit schwer werdenden Lidern gegen eine schier erdrückende Müdigkeit. An einer Parkstelle stoppte ich den Hawk. Ich öffnete die Bord-Bar und drückte den Button mit der Kaffeetasse. Eine friedvoll klingende Frauenstimme meldete sich. „Guten Morgen, Herr Doktor Edward Erster. Sie haben soeben eine Tasse Kaffee angefordert. Bitte haben Sie ein wenig Geduld, der Auftrag ist in achtzehneinhalb Sekunden ausgeführt.“
Ich sah nicht auf die Uhr. Ich war trotzdem sicher, dass die Zeitvorgabe eingehalten worden war, als die Stimme abermals ertönte. „Bitte, Herr Doktor Erster, Ihr Kaffee ist abgefüllt. Er wurde nach der üblichen Rezeptur hergestellt. Milch- und Zuckerzusatz sowie die Temperatur entsprechen Ihren Standards. Falls Sie noch Appetit auf einen Snack haben, berühren Sie bitte den Button neben dem Kaffezeichen.“
Nein, dachte ich, keinen Snack. Etwas Größeres aber?
Es war, als hätte die Elektronik des Hawks meine Gedanken erraten. Prompt vermeldete die Frauenstimme: „Sollten Sie eine umfangreichere Mahlzeit bevorzugen, benutzen Sie bitte die Tastatur oder den Touchscreen unterhalb der dritten Chromleiste. Bitte geben Sie die gewünschte Speise ein und halten Sie nach siebeneinhalb Kilometern an dem nächsten Rastplatz an. Sie erhalten dort ein Lunchpaket.“
Nein, ich wollte weder ein Lunchpaket noch einen Snack. Mir war das System nicht geheuer. Ich begnügte mich mit dem Kaffee. Den trank, den genoss ich. Ich lief mit dem Becher in der Hand um die gewaltige Karosse des Silverhawks herum und brachte meinen Kreislauf auf höhere Touren.
Immerhin, ganz verzichten wollte ich auf die Luxusangebote des Prachtautos doch nicht. Ich nahm mir das Verdeck vor. In dieser Sommernacht, die allmählich in den Morgen des neuen Tages hineinwuchs, war es geradezu Pflicht, den Hawk in ein Cabrio zu verwandeln. Ich dachte, es wird ein herrliches Fahrgefühl ergeben, dieses Oben ohne; und die frische Luft sollte mich auf jeden Fall wach halten.
Ich rief mir den Hinweis Edward Ersters in das Gedächtnis: Erst die besagte Sperre lösen, danach den Finger auf den Button. Oder umgekehrt? Oder die Service-Nummer anrufen ... Im selben Moment erklang aus einem der Lautsprecher die Frauenstimme erneut: „Guten Morgen, Herr Doktor Erster, Sie haben soeben das Rückklappen des Autoverdecks verfügt. Achtung, die Anweisung wird nun ausgeführt. Das Verdeck ist in einer Minute und zwölf Sekunden komplett zurückgefahren und in der Halterung arretiert.“ Ich sah auch jetzt nicht auf die Uhr, denn ich war wiederum sicher, dass die Angabe stimmte. Die Frauenstimme meldete sich ja auch gleich noch mal. „Bitte, Herr Doktor Erster, Ihre Anweisung ist nun umgesetzt. Sie können den Wagen starten. Falls Sie bei der Ausführung weiterer Anweisungen Schwierigkeiten oder falls Sie ansonsten Bedürfnisse haben sollten, können Sie gern die für Sie bei uns eingerichtete persönliche Service-Nummer anrufen oder sich über die Tastatur bei uns melden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in allen Belangen rund um die Uhr für Sie da. Sollten Sie keine Fragen und Anliegen haben, wünschen wir Ihnen eine angenehme Weiterfahrt.“
Ich starrte ziemlich lange in den Himmel, der sich auf einmal so total unbegrenzt über mir ausbreitete. „Donnerwetter“, staunte ich. Gleich tauchte auch Peterchen Zwo aus seiner Höhle auf. Er saß reglos in der Mitte des Käfigs und schaute ebenfalls nach oben. Auch er schien unheimlich beeindruckt. Ich sagte ihm: „Es ist alles OK, alter Junge; wir sind immer noch auf Kurs zur Küste, immer noch unterwegs zu Tineke, nur haben wir jetzt frische Luft. Und wenn du Probleme hast, dann gib mir Bescheid, dann rufe ich einfach die Service-Nummer an. Die regeln alles. Auch für dich. Und sei es, dass du dir eine kleine Hamsterin zur Gesellschaft wünschst.“
Peterchen Zwo war sichtlich beruhigt und verschwand wieder. Sicherlich war ich inzwischen eine Art Leitfigur geworden. Edward Erster oder wer immer den Hamster demnächst bekommen sollte, würde mich nach der Übernahme in dieser Funktion ohne Schwierigkeiten ablösen können. 

Ich fuhr weiter, hinein in einen herrlichen Morgen, an dem mich aus dem Osten die verheißenden Farbtöne des Morgenrots begleiteten und der vom Westen her allmählich Wolken heraufziehen ließ. Regen? Wenn ja, hätte ich halten und das Dach zurückfahren müssen.
Aber wie? Ich hatte mich nicht informiert, welcher Button zu drücken und welche Sperre zu deaktivieren gewesen wäre.
Und die Service-Nummer?
Während der Fahrt nach der richtigen Tastenkombination oder nach dem Zeichen auf dem Touchscreen zu suchen war zu gefährlich. Ich hätte halten müssen.
Pech gehabt, schon war ich am nächsten Parkplatz vorbeigesaust.
„Es regnet ja gar nicht“, redete ich mir zu. Und richtig, da kamen nur helle und lustig gekräuselte Wolken. „Die verziehen sich wieder, die kommen doch jeden Morgen.“
Wirklich? Keineswegs. Sozusagen im Eiltempo bezog sich der Himmel mit einer dichten, grauen Decke. Noch zwei oder vier Minuten, dann war es schwarz. Als hätten wir Nacht. Oje, dachte ich, nun ist alles zu spät. Im selben Moment klatschten die ersten dicken Regentropfen, aus denen sehr schnell ein saftiger Schauer wurde, auf mich nieder. Ein Morgengewitter, in das ich mit dem Silverhawk hineinstieß. Blitz und Donner und ein Regenguss zum Fürchten. Und das dann bei geöffnetem Dach. Das Innere des Silverhawks wurde alsbald zur Regentonne. Ich selbst zum Wassermann. Ich gab den Gedanken auf, am Seitenstreifen zu halten und den Bord-Service um Hilfe zu ersuchen. Ich fuhr tapfer fünfzehn Minuten, bis ich den nächsten Parkplatz ansteuern und die Tür öffnen konnte. Das Wasser lief aus dem Wageninneren wie aus einer Wanne, aus der man den Stöpsel gezogen hatte. Meine Kleidung klebte am Körper, die Schuhe waren durchnässt. Auf den Lederbezügen der Sitze perlte das Wasser.
Ein magerer Trost, dass sich der Regen und die Wolken wieder verzogen hatten. Die Sonne schien, sie stand rötlich rund am Horizont. Es lohnte nicht, das Dach zurückzufahren und den Wagen zu verschließen. Ich tat es trotzdem, schon wegen Peterchen Zwo, der sich wegen der Nässe mächtig beschwerte. Er kam aus der Höhle und lief mehrmals quer durch den Käfig. Dabei schimpfte er gewaltig.
Ich schimpfte ebenfalls. Nicht nur wegen der nassen Sachen auf meinem Körper, sondern weil das Regenwasser sogar in meinen Koffer gelaufen war. Die wenigen Kleidungsstücke, die ich mitgenommen hatte, waren feucht geworden. Ich hatte nichts Trockenes, um mich umziehen zu können. Missmutig stieg ich wieder hinter das Steuer und gab Gas. Bloß weiter. Und wenigstens die Heizung einschalten. Nein, die Heizung funktionierte nicht, wahrscheinlich hatte ich in meiner Aufregung die falschen Tasten bedient. Nicht nur wahrscheinlich. Die Stimme meldete sich wieder. „Guten Morgen, Herr Doktor Erster, Sie haben durch die Berührung mehrerer Buttons eine Anweisung ausgelöst, die Ihr Bordcomputer nicht kennt. Bitte wählen Sie den richtigen Button, um den gewünschten Schritt realisieren zu können. Oder wählen Sie mit Ihrem Handy die Nummer unserer Service-Zentrale an. Dort bekommen Sie sofort Hilfe.“
Nein, ich mochte nicht anrufen. Ich mochte auch keinen weiteren Versuch mit einem anderen Button unternehmen. Ich fuhr frierend und frustriert. Ich dachte, es ist ja nicht mehr weit, es dauert ja nicht mehr lange. Und als ich gar zu sehr fror, steuerte ich abermals einen Parkplatz an. Ich machte dort Gymnastik, ich rannte um den Hawk und fand dabei doch nur wenig Erwärmung. Ich blieb nass. Und kalt.
Und so kam ich um sieben Uhr bei der Adresse an, die ich in den Bord-Computer eingegeben hatte. Ein verwunschen wirkendes, weißes Küstenhaus mit Schilfdach und bläulichen Fensterläden, das man vor hohen Stockrosen, diversen Blüh-Stauden und allerlei Unkraut kaum sah. Eigentlich ein Traum, vielleicht der Inbegriff von Romantik und Idylle.
Ich wusste nicht, ob mich Tineke von einem der Fenster aus gesehen oder ob sie in der Tat so richtig innig auf mich gewartet hatte. Der Empfang, den sie mir bereitete, war auf jeden Fall großartig. Auch das wie die Szene aus einem romantischen Film. Ich war kaum aus dem Auto gestiegen und hielt mich, frierend und erschöpft, an den wackligen Zaunlatten fest, da stand sie gleich an der Gartentür. Sie sah gut aus. Super gut. Gebräuntes Gesicht, gebräunte Arme, schlank, sportlich, frei. Entspannt. Sie trug ein helles Shirt und knielange Shorts. An den Füßen hatte sie weiße Stoffschuhe.
Sie lachte. Ich streckte ihr die rechte Hand entgegen. Sie fasste nicht danach, sondern umarmte mich. Ich spürte die warme, glatte Wange an meinem kalten Gesicht. „Ich freu mich so.“ Und sie bemerkte endlich, wie ich fror. In meinen klammnassen Klamotten. Wie es mich fast schüttelte. Ausgekühlt. Heiser. Schlapp. Sofort brachte sie ihren Mutterinstinkt in die Offensive. Gemischt mit Symptomen von Rührung. „Dass du das auf dich genommen hast, in dem Zustand herzukommen. Nur um mich zu treffen.“ Sie kroch ganz gekonnt mit der Schulter unter meine linke Achsel und schaffte mich ins Haus. Ich versuchte zu erklären, wie alles gekommen war. „Sei mal schön still und lass mich machen“, entgegnete sie. Da saß ich schon am Küchentisch. Da hörte ich gleich auch aus einer Ecke der Küche eine abgenutzte Frauenstimme fragen: „Ist er das, dein Schatz?“ Tineke nestelte an den Knöpfen meines Hemdes herum. Sie kicherte, und was sie sagte, klang fast verlegen. „Oma, das ist Erasmus. Hab dir doch schon von ihm erzählt. Flüchtig.“
Also die Oma, dachte ich, das ist die Person, von der dieser Jonathan gesprochen hat. Die hockte da mit ihren mindestens zweiundachtzig Jahren, alterig, falterig und krümm­lich zwischen einem ollen Küchenschrank und dem noch olleren Kanonenofen auf einem total ollen Holzstuhl. Die knulpigen Hände auf dem Schoß gefaltet. „Er sieht krank und schlecht ernährt aus, dein Liebster“, nörgelte sie dickköpfig und unhöflich, „so richtig wie einer aus der Stadt. Wie einer, der nicht arbeitet.“
Tineke ließ jetzt von meinen Knöpfen ab. „Er sieht nicht krank aus, weil er nicht arbeitet, sondern er arbeitet viel zu viel, und darum sieht er krank aus. Genau darum, Oma.“ Tinekes Stimme war laut und fest. Schon, weil die Oma nicht so gut hörte. Akustisch und auch sonst. Und nicht minder fest zog sie nun mit einem Ruck das Hemd aus meiner Hose und streifte es mit erstaunlichem Geschick von meinem Körper. Sie hielt es ein Stück von sich weg und sah mich scharf an, dabei sagte sie in Richtung Großmutter: „Muss ja überhaupt erst mal gucken, ob er mein Liebster werden kann.“
Die Oma ging nicht auf Tinekes Bemerkung ein. Sie grätzelte weiter. „Arbeitet er auf’m Büro oder im Laden? Am Bau oder in der Backstube werden sie ihn je wohl kaum nehmen. Oder gar auf’m Fischerei-Kutter; dafür sieht er zu schmallich aus.“
Tineke kicherte nun wieder. „Er ist selbständig, Oma. Als Schriftsteller. Hab ich dir doch längst erzählt. Und schmallich ist er schon mal gar nicht.“ „Weiß schon“, hechelte die Alte schwach und doch garstig. „Man brotlos. Mit Büchern verdient ja keiner was.“
„Abwarten“, widersprach Tineke. „Er hat ja ein tolles Buch geschrieben. Hab’s dir doch vorgelesen. Damit muss er einfach was verdienen.“ Sie sah mich bedeutungsvoll, ernst jetzt wieder, an. Und zuversichtlich. Dann nickte sie und griff nach meinem Unterhemd, das, hätte ich es anbehalten, auf jeden Fall in einer Stunde am Körper getrocknet gewesen wäre.
Was für ein Kompliment, dachte ich, ein tolles Buch. Und was für eine Vertrautheit. Ich hob beide Hände und legte sie um ihre Hüften. Sie gab einen Lacher von sich. „Von wegen!, gleich intim werden“, sagte sie amüsiert. „Erst Aussprache, dann Antrag und schließlich abwarten, ob einen die Dame des Herzens erhört. So einen erkrankten, klitschnassen, unbekannten Schriftsteller. Das kann sie sich eigentlich nicht vorstellen, dass der ihr Liebster werden könnte.“
Ich ließ die Hände sinken und wollte aufstehen.
Da sagte sie resolut: „Oben kannst du deine Pfötchen schon lassen. OK? Wie soll ich dir sonst die Sachen vom Leibe ziehen?“ Sie schubste mich auf den Stuhl zurück und bemächtigte sich des Unterhemdes. Danach verschwand sie mit den nassen Sachen.
Da saß ich also ohne Unterhemd und mit freiem Oberkörper in der alten Küche ihrer alten Oma.
Ich wartete, wurde beguckt, beschwiegen. Belächelt. Gleich kam Tineke zurück. „Die Hose solltest du ja wohl auch zum Trocken hergeben“, befahl sie. Es klang wieder amüsiert, mit einem Kichern untersetzt. „Allerdings ziehst du dieselben schön selbst aus!“ Sie bedachte mich mit einem hämischen Seitenblick, der sogleich zu der Alten weiterwanderte. „Ich gehe derweil zu deinem Schlitten und hole deinen Koffer. Musst schließlich trockene Sachen haben.“ Ich schüttelte erschrocken den Kopf. „Nix trockene Sachen. Koffer undicht. Vom Regen völlig durchnässt.“ Sie wollte trotzdem gehen. Ich sprang auf. „Im Auto ist noch was, bitte erschrick nicht.“
Sie verzog das Gesicht. „Eine fremde Frau vielleicht? Blond, mit langen, leicht behaarten Beinen und gruselig verrauchter Cocktail-Stimme?“ „Ein Hamster, er heißt Peterchen Zwo und steckt in seinem Käfig“, entgegnete ich hilflos. „Ich konnte den armen Kerl ja nicht allein zu Hause lassen.“
Sie stöhnte laut. „Also noch schlimmer als eine Blondine. Aber immerhin zeigt es, dass du ein gutes Herz hast.“ Sie schaute zur Oma und fragte unnatürlich laut: „Oma? Erasmus hat seinen Hamster mitgebracht. Samt Käfig. Wo können wir den unterbringen?“
Das Gesicht der alten Frau hellte sich unversehens auf. „Endlich wieder ein Haustier. Na, wohin wohl mit ihm? In den Stall. Dahin, wo früher die Ziege stand.“
Tineke nickte. „Na siehst du, bei uns kriegt jeder sein trockenes Plätzchen. Und ich wäre dir dankbar, wenn du dieses Protz-Auto ebenfalls in den Stall schaffst. Es wird gerade so reinpassen. Wenn das nämlich vor der Tür stehen bleibt, dann werden uns die Leute, die vorbei kommen, für neureich halten. Und das muss nicht sein.“

Folge 7 vom 4. April. 2020 

Tineke hatte meine Kleidung in einen Wäschekorb gestapelt. „Ich könnte alles auf die Leine hängen“, bot sie an. „Bei dem Wind, den wir haben, und bei der schönen Sonne ist das Zeug in einer Stunde trocken.“ Sie sah mich fragend an. „Ich könnte allerdings deine gesamte Garderobe auch erst mal in die Maschine tun, alles richtig auskochen und nach dem Trocknen bügeln. Das wäre vermutlich die beste Tat an diesem Vormittag im Umkreis von mindestens dreiunddreißig Kilometern.“
Ich saß, nur in eine Decke gehüllt, immer noch mitten in der Küche, und ich fragte: „Meinst du, deine Oma wird mich in meinem jetzigen Outfit noch eine Weile ertragen?“
Sie lachte und brachte aus einem großen Schrank ein Wäschepäckchen. „Wir frühstücken gleich, danach kriegst du ein heißes Körnerkissen auf den Bauch und schläfst bis Mittag.“
Das Wäschepaket bestand aus in einem auffällig gestreiften Zweiteiler mit breiter Knopfleiste und Umschlägen an den Beinenden, eine Mischung aus Schlaf- und Hausanzug, der vor drei oder vier Jahren – vielleicht auch vor sieben oder fünfzehn – in Bekleidungshäusern, die inzwischen bei gleich bleibendem Warenangebot als Kostümverleihen fungierten, gehandelt worden sein mochte. Ich schlüpfte hinein. „Hat mit diesem supermodischen Anzug schon mal jemand in dieser Küche gesessen? Oder womöglich ohne?“, fragte ich mühsam amüsiert und sicherlich auch etwas eifersüchtig.
Tineke schwieg zunächst, schließlich erwiderte sie bissig: „Das ist ein Schlafanzug, den hab ich extra angeschafft, weil hier ständig solche Existenzen wie du auftauchen. Solche Nassköpfe, die nur eine Garnitur Wechsel-Unterwäsche besitzen. Pro Jahr drei und mehr. Mit einem Hamster ist allerdings noch keiner dabei gewesen. Meistens bringen sie Bären und Raubkatzen mit. Oder Schlangen und dressierte Kampf-Skorpione. Einer kam sogar mal mit einem Elch an. Er war noch nicht mal ausgewachsen, trotzdem passte er erst nicht in die Küche. Wir haben alle Stellvarianten ausprobiert, ihn drei Stunden lang hin und her geschoben. Dann haben wir ihn so hin bugsiert, dass er mit dem Hinterteil in der offenen Tür stand und der Kopf durchs Fenster nach draußen ragte. Samt Geweih. Das ging grade so.“
Danach schwieg sie. Sie stand am Herd und wandte mir den Rücken zu. Sie briet Eier für das Frühstück, die sie auf Toast-Scheiben legte. Für mich, für sie selbst und für die Großmutter. „Kannst mal der Oma helfen, an den Tisch zu kommen“, sagte sie, ohne sich zu mir umzudrehen. Es klang ungehalten, immer noch bissig. Wegen meiner Bemerkung über den Schlafanzug. Und deren mutmaßliche Träger.
Ich wagte keine Antwort. Ich erhob mich und reichte der Großmutter meinen Arm. Sie zog sich jedoch selbst hoch, sie stand. Und als ich sie am Arm fassen und zum Tisch führen wollte, schüttelte sie mich trotzig ab. „Kann ja wohl noch selbst rollen“, fauchte sie. Rollen?
Tineke unterdrückte ein Kichern. Auch eine Erklärung.
„Laufen“, verbesserte sich die Oma, während sie losschlurfte. Sie murmelte etwas, das ich nicht verstand.
Ich staunte. Ich stand. Ich glotzte.
„Kannst gefälligst schon mal den Kaffee auf den Tisch stellen“, ordnete Tineke an. Sie drehte sich soweit um, auf dass sie mich aus den Augenwinkeln sehen konnte. „Bisschen Bewegung hat noch keinem geschadet.“ Ich gehorchte prompt. Ich stellte die Kaffeekanne auf den Tisch, goss die Tassen voll, nahm auch die Kaffeemilch aus dem Kühlschrank. „Kannst auch schon die Toaste hinstellen“, befahl Tineke. „Und die beiden Scheiben für meine Oma schneidest du bitte durch. Einmal längs und einmal quer.“ Sie sah mich nicht an. Sie wurde aber milder. „Eigentlich ist das hier nicht üblich, Spiegeleier schon zum Frühstück. Es ist ein bisschen wegen dir, weil du so abgekämpft aussiehst. Und noch mehr ist es wegen Clements.“ Sie zögerte kurz, sie sagte dann energisch: „Und du brauchst Clements nicht für einen halten, der schon mal in diesem herrlichen Schlafanzug gesteckt hat. Clements ist unser Frischwaren-Lieferant aus der Nachbarschaft. Er bringt Kartoffeln, Gemüse und Obst. Und Eier. Teils aus eigenem Anbau und von eigenen Hühnern. Er hat gestern Abend einfach zehn Eier mehr vor die Tür gestellt, als wir bestellt hatten. Na ja, zurückschaffen wollte ich sie auch nicht. Nun bist ja du gekommen.“
Clements, dachte ich, den werde ich mir mal anschauen. Ansonsten gehorchte ich. Ich setzte mich an den Tisch, viertelte die Toast-Scheiben für Tinekes Großmutter.
Tineke kam nun. Sie stellte frische Erdbeeren, Haferflocken und Leinsamen auf den Tisch. Honig, Gelee und etwas Käse.
„Danke“, sagte ich, „es ist ein schönes Frühstück. Sehr schön sogar.“
Sie lächelte endlich, sie sah plötzlich verschmitzt aus. Sie kicherte sogar und fragte: „Ist es womöglich das schönste Frühstück deines Lebens?“ „Auf jeden Fall“, erwiderte ich. „Es ist ein Frühstück wie in einem Märchen. Ich weiß nur nicht mehr, welches.“
Die Oma meldete sich. „Das Märchen von den Ofenfischern.“
Ich staunte und glotzte wieder.
Sie merkte, dass sie ein falsches Wort benutzt hatte. Sie schimpfte unverständlich vor sich hin.
Tineke beruhigte sie. „Ist nicht so schlimm, Oma, wir wissen ja, was du meinst.“ „Welches Märchen meint sie denn?“, fragte ich. „Sie meint das Märchen –.“ Tineke kam nicht weiter. Welches Märchen. Sie dachte nach. Sie sagte kurzerhand: „Der Froschkönig.“ „Kann ich mich gar nicht dran erinnern, dass dort gefrühstückt wird. Zu dritt“, wandte ich ein. „Und wenn schon“, erwiderte sie. „Das schönste Frühstück des Lebens ist auf jeden Fall noch schöner als das Frühstück in irgendeinem Märchen. Märchen sind ja bekanntlich niemals wahr. Schönste Frühstücke hingegen schon.“
Ich nickte. Aber ich sagte dann doch: „Von den Ofenfischern an sich hat man ja bisher wenig gehört oder gesehen. Wahrscheinlich, weil sie nur hier leben. In dieser Region. Wird denn öfter im Regionalprogramm über ihre Bräuche und ihre Geschichte berichtet?“
Tineke schüttelte entschieden den Kopf. „Was denkst du. Die Leute würden erschrecken, wenn diese haarigen Gnome auf den Bildschirmen auftauchten. Sie sind so was von hässlich. Kannst du dir nicht vorstellen. Sie wissen es auch selbst und leben deshalb weit draußen im Watt. In kleinen Kolonien. Sie schotten sich dort total ab. Wenn man sich ihnen auf zwei Kilometer nähert, graben sie sich mit ihren riesigen schwarzen Zähnen und den schaufelförmigen Händen ein. Wer sich trotzdem näher an sie heranwagt, den beschmeißen sie mit Schlamm. Oder sie bespucken ihn. Ihre Spucke ist wie Salzsäure. Sie gibt echt Brandwunden auf der Haut. Und wenn sie eine Kamera oder ein Mikrofon treffen, sind die meistens hin. Du hast also keine Chance, dich ihnen zu nähern. Eher wird es möglich sein, einen Yeti zu filmen als einen echten Ofenfischer.“ Sie sah mich an, danach die Oma. Sie fragte laut: „Schmeckt’s?“ Die Oma nickte, nun auch sie. „Wacker.“ Tineke seufzte. „Es nennt sich Wernicke-Aphasie, worunter sie leidet. Eine Sprachstörung. Sie meint das Richtige, kann jedoch aus dem Gehirn nur ein falsches Wort oder sogar einen ganzen falschen Satz abrufen. Meistens merkt sie es, manchmal nicht. Oder sie findet das passende Wort einfach nicht. Dann kann sie ärgerlich werden. Es ist von einem Schlaganfall zurückgeblieben, den sie vor zwei Jahren hatte. Drei Tage nach dem Achtzigsten ist es passiert. Und manches andere geht seitdem auch nicht mehr so flott.“ 

Ich erhielt die Anweisung, mich hinzulegen. Müde, erschöpft, etwas verwirrt. Und am Rande einer Erkältung. Aber auch glücklich. Das war mein Zustand an diesem Morgen. Trotz guten Frühstücks. „Im Wohnzimmer steht die Schlafcouch, da nimmst du bis Mittag Quartier. Bettzeug habe ich vorhin schon für dich ausgerollt.“ Sie blickte wieder unumschränkt freundlich. Auf mich. „Wenn man das schönste Frühstück seines Lebens genossen hat, sollte man sich hinterher unbedingt hinlegen und vier Stunden schlafen. Oder dreieinhalb. Dann wird man sich sein Leben lang daran erinnern. Und wenn man besonderes Glück hat, erlebt man gleich auch den schönsten Vormittag seines Lebens.“
Mit dir würde ich ihn erleben. Auf der Schlafcouch.
Ich wagte das nicht zu sagen. Kaum zu denken wagte ich es. Ich gehorchte ihrer Anweisung. Ich kroch auf jene Couch, die im Wohnzimmer stand. Die hellen Betttücher rochen mild und frisch. Durch das offene Fenster hörte ich das Rauschen des Meeres. „Die Flut ist im Anrollen“, erklärte mir Tineke. Sie stand neben meiner Bettstatt. Sehnsucht und Bergehren, das löste ihr Anblick bei mir aus. Ich sah mit gierigen Augen von unten zu ihr hinauf. Der schönste Vormittag deines Lebens. Unseres Lebens. Ich dachte das jetzt. Mit, wegen ihr.
Sie durchleuchtete meine Gedanken wie ein greller Lichtstrahl einen finsteren Keller. „Was du jetzt denkst, mein Lieber, solltest du besser nicht denken oder es wenigstens für dich behalten“, sagte sie absichtlich kühl. Doch gleich lächelte sie: „Es sei denn, du überlegst, was wir zu Mittag essen wollen.“
Ich schloss die Augen. Und ich sagte: „Wie wär’s mit Fisch? Dafür sind wir nun mal an der Küste.“ Gleich darauf schlief ich. Traumlos, tief, fest. Dreieinhalb Stunden, wie es sich für den schönsten Vormittag des Lebens gehörte. Als ich erwachte, röchelte ich etwas und musste durch den Mund atmen, weil die Nase verstopft war. Woher bekam ich ein Taschentuch? Ich erhob mich, um Tineke zu fragen. Tineke war nicht da. Die Wäscheleine, dachte ich. Da müssten, so sie meine Sachen durch die Maschine getrommelt hatte, mindestens zweieinhalb Tücher hängen.
Ich ging in den Garten. Tatsächlich, die Wäscheleine, die Taschentücher. Wind und Sonne hatten dem Stoff ausgesprochen gut getan. Ich griff zu. Ich schnaubte, und hinter mir kicherte es. Die Oma saß auf einer Bank im Sonnenschein. Die Brille auf der Nase, die Tageszeitung im Schoß. Und guter Dinge. Sie rückte ein Stück zur Seite, und als ich neben ihr saß, nestelte sie prompt an dem Schlafanzug. „Na“, fragte ich spitz, „wer hat den wohl zuletzt getragen?“ Sie blinzelte hinter der Brille, dann hob sie bedeutungsvoll beide Hände und bog Finger um Finger nach vorn und ihr Mund bewegte sich einige Male tonlos, ehe sie dann die halbwegs passenden Worte fand. „Also: ein großer Rothaariger, ein hübscher Blonder mit dicken Schultern, ein schlanker Schwarzer im weißen Dress“, sie musste Luft holen, um ihren Kopf gewaltig anzustrengen. Da beschloss ich, ihr das Nachdenken zu erleichtern. Ich redete dazwischen: „Und war nicht auch ein kleiner Krummbeiniger mit Glatze dabei und ein Grauhaariger mit Buckel und ein Hinkender mit zwei Köpfen, der so fürchterlich nach Mist gestunken hat?“
Sie kicherte listig: „Na, so weit koche ich noch nicht. Erst will ich mal alle Hünen aufsagen, bevor ich die Schmallichen vertell. Solche, die zu dir passen.“ Sie schwieg und grübelte, um endlich zum Schluss zu kommen und mir ordentlich den Kopf zu waschen. Auf ihre mühsam nette Art. Mit ihren Mitteln: „Die Tine, das ist ein gutes Mädel. Mein Sonnenschein. Die hat bis heute noch keinen ins Haus gebracht, mit dem was wäre. Keinen Riesen und keinen Schmallichen. Das heißt, den einen Schmallichen denn doch. Der kam heute.“ Sie seufzte müde und schloss die Augen und sie wisperte aufgeregt und beruhigt zugleich: „Deinen Schlafanzug, den hat sie bei einer Tombola gewonnen. Da hat sie mitgemacht, weil es für eine gute Sache war.“ Dann nickte sie ein bisschen ein. Ich drückte ihre gefalteten Hände, die ungleich und hart waren wie große Kartoffeln, und ging ins Haus.
Tineke war inzwischen gekommen. Sie stand am Herd und machte sich mit Topf und Pfanne zu schaffen. „Siehst so verquollen aus“, sagte sie.
Ich schnaubte in das Taschentuch, so dass es durch das Haus röhrte.
„Altes Nebelhorn“, stichelte sie. „Geh mal ins Bad und mach dich frisch. Und danach wieder ab in den Garten. Schöner Sonnenplatz neben der alten Henriette. Tisch decken und gute Laune haben.“
Als ich wieder draußen war, schmeichelte ich der Alten. „Schönen Namen haben Sie. Henriette. Gar nicht so wie Gertrud oder Berta. Oder am Ende noch Käthe oder Else. Henriette ist ja sogar heutzutage modern.“
Sie ging nicht darauf ein, sondern erwiderte: „Schönes Buchdings hast du gemacht, Jungchen. Tine hat’s mir vorgeschrieben. Nur das eine Ding, das ist völlig daneben. Da diese Hinrichtung, dieses Sizilanien.“ Sie schloss die Augen wieder, und als sie merkte, dass ich mich entfernen wollte, legte sie die rechte Hand auf meinen Oberschenkel. „Bliew man hie.“ Na gut, dachte ich, alte Leute, das verstehen die eben nicht, wie es woanders ist. Auf Sizilien; dieses feurige Ehrgebaren, die alltägliche Kriminalität, das ineinander verwobene Leben der Familien, der Zusammenhalt der Clans. Das Gegeneinander, zu dem halt auch ein organisierter Mord gehören muss, weil sich die Verhältnisse mitunter nicht entwirren lassen. Im Film, in Büchern. In meinem Manuskript. Nicht nur wegen des Alters, sondern weil sie wahrscheinlich höchstens mal Urlaub im Mittelgebirge gemacht hatte.
Sie erwachte erst wieder, als Tineke mit dem Tablett kam. „Draußen essen ist was Wunderbares. Noch dazu, wenn sich die Gäste Fisch gewünscht haben.“
Nach dem Essen wanderten wir auf der Deichpromenade. Ich hatte meine Sachen zurückbekommen, trocken und gebügelt. Luftig. Ich fühlte mich besser, gar nicht mehr erkältet. Tineke hakte sich in meinen Arm. Wir waren wie ein Paar, ein glückliches nämlich. Wir wehrten uns gemeinsam gegen den Wind, der heftig über den Deich brauste. Wir redeten. Über das Meer, über die Küste. Über das Klima. Über uns?
Nein, sie wich dem Thema aus. Erst später, als wir einen geschützten Platz gefunden hatten und nebeneinander saßen, immer noch Arm in Arm, die Sonnenstrahlen auf den Gesichtern, löste sich ihre Blockade. „Ich frage mich inzwischen, ob ich nicht doch hier in der Klinik hätte anfangen sollen. Zwanzig Kilometer von zu Hause. Wo es in Berlin mit der Arbeit längst nicht mehr so läuft, wie ich’s gern hätte. Verschlechtert hätte ich mich hier auch nicht mehr.“ Ihre Miene verfinsterte sich. „In der Station, in der ich seit vorigem Monat bin, fühle ich mich total eingeengt. Ich kann mich nicht entfalten. Die Stationsärztin gibt mir ständig irgendwelche Aufgaben, die eher eine Krankenschwester zu leisten hätte. Spritzen aufziehen, Infusionen vorbereiten, lauter Kinderkram. Und wenn Behandlungen sind, will sie dabeisitzen. Und das nicht mal aus Bosheit oder Schikane. Sie ist so eine Übermutter, die es zu gut mit mir meint. Das volle Gegenteil von Oberarzt Kurz. Der Chef der vorigen Station, den alle heimlich Kurz-Franzl nennen. Bei dem durfte ich schon lange selbständig arbeiten.“ Sie hing mit den Gedanken diesem Oberarzt Kurz nach.
„Kannst du nicht zurück? Oder in eine andere Station?“
„Vorläufig nicht. Als Allgemeinmediziner musst du in der Facharztausbildung alle Bereiche durchlaufen haben. Das ist einfach Voraussetzung. Sonst kriegst du den Abschluss nicht, und du kannst nicht auf den kranken Teil der Menschheit losgelassen werden.“
„Und du findest das verkehrt? Meinst du, jeder, der sich selbst für geeignet hält, sollte gleich als Fachkraft loslegen?“
„Ach Erasmus“, sagte sie. Es klang ein bisschen leidend. „Natürlich meine ich das nicht. Ich spreche ja nur für mich. Ich möchte eben vorwärts kommen. Nicht stillstehen. Schon gar nicht Sachen durchexerzieren, die ich absolut kann. Deshalb sage ich das. Es kribbelt. In mir. In meinen Fingern. Im Kopf.“ Sie straffte sich. „Andererseits habe ich beschlossen, mich nicht einfach so in die Ecke stellen zu lassen. Auch nicht, wenn’s gut gemeint ist. Wir hatten kürzlich eine Aussprache. Chefarzt, Klinikleitung, diese Übermutter und ich. Ich habe denen klipp und klar gesagt, was ich von einer Facharztausbildung erwarte. Selbständigkeit, Herausforderungen, Verantwortung. Und Fortschritte. Kann sein, ich habe alles noch schlimmer gemacht, aber wenigstens fühle ich mich seitdem erleichtert.“ Sie sah wieder freundlich aus. „Und im Übrigen sollte ich versuchen, netter zu dir sein. Ich glaube, ich war manchmal ziemlich krötig. Und du kannst ja nichts für diese Misere.“
Ich bewunderte sie. So schmal und schmächtig sie äußerlich wirkte, war sie in Wirklichkeit eine starke Frau. Ich widersprach daher. „Ich fand dich niemals krötig.“
Sie bedankte sich. Sie sagte: „Jedes Übel hat auch eine gute Seite. Nun kann ich mich endlich ein paar Tage um meine Henriette kümmern. Gemeinsam mit dir. Weißt du, meine Großmutter war immer für mich da. Vor allem nach der Scheidung meiner Eltern. Ohne ihre Unterstützung hätte ich kein Abitur machen können. Das Medizinstudium, das immer mein Traum war, schon gar nicht.“ Sie sah mich an, sie seufzte. „Ich erzähle nur von mir. Und du kommst fast gar nicht zu Wort.“
„Bei mir ist es ähnlich. Auf andere Weise“, entgegnete ich. „Ich stehe vor wesentlichen Entscheidungen. Ich könnte in ein paar Wochen auf meine frühere Stelle zurück. In meine Firma. Ich würde sogar das gleiche Gehalt kriegen und hätte prima Aufstiegsmöglichkeiten. Das Arbeitsklima ist OK, keine Furien, kaum Karrieristen. Keine Übermütter, nicht wirklich. Ich weiß nur nicht, ob ich das will. Diesen Job. Offen gestanden, weiß ich auch insgesamt nicht, was ich will. Ich weiß nur, dass ich in deiner Nähe bleiben möchte.“
Für die nächsten Sekunden war es still, nicht mal der Wind rauschte. Ich fühlte, dass sie ein Stück an mich heranrückte. „Was du da sagst. Ach, Erasmus.“
Ich schaute sie an. Sie sah glücklich aus. Beglückt. „War das falsch, was ich gesagt habe?“, fragte ich dennoch.
Da kam sie mit ihrem Gesicht näher und küsste mich. Ein zarter, sanfter Kuss mit weichen Lippen, von dem man sich wünscht, er möge für unendlich anhalten. Oder jemand möge befehlen, jenen Film, in dem man sich gerade befindet, auszublenden; das Happyend sei gewesen, weiter ginge es nicht.
Nein, dieser Kuss hielt nicht unendlich an, die Szene, der Film lief weiter.
„Erasmus, mein Lieber“, sagte sie, „nichts war falsch. Im Gegenteil, das klingt so schön, wie du das sagst. Nur wird es nicht funktionieren. Bei diesen Voraussetzungen. Du möchtest im Grunde gar nicht in deinen geregelten Job zurück. Du willst Schriftsteller sein. Das ist dein gutes Recht, das ist der Traum deines Lebens. Ich finde es, wenn ich mal deine materielle und soziale Armut abziehe, sogar bewundernswert, wie konsequent du bist. Und ich wünsche dir wirklich von Herzen, dass du dein Ziel erreichst. Aber es ist nicht richtig, dein Leben mit dem meinen so plötzlich verbinden zu wollen. Wo bei mir alles im Argen liegt. Beruflich, zu Hause. Ich brauche erst Klarheit. Und wir kennen wir uns ja kaum.“
Sie wollte aufstehen. Ich hielt sie fest und protestierte. „Deshalb bin ich ja hergekommen. Damit wir uns kennen lernen.“ Sie ließ sich zurückfallen, sie saß noch dichter neben mir, und sie kroch tief in meinen Arm. Sie sagte: „Ja, das stimmt, deshalb bist du gekommen, und deshalb habe ich dich eingeladen. Das wird schon. Kennen lernen. Das auf jeden Fall.“ Sie strahlte. „Ich bin total zuversichtlich. Und für das andere werde ich schon die richtige Entscheidung treffen. Falls ich diese Übermutter nicht abschütteln kann, werde ich mal so richtig ausgiebig die Skalpelle wetzen. Bildlich gesprochen. Dann lässt sie vielleicht allein von mir ab.“  

Folge 8 vom 5./6. April. 2020   

Am späten Nachmittag saß ich mit der Henriette im Garten. Wir hatten unser Plätzchen auf der Terrasse. Die Sonnenstrahlen hatten während des Tages die Hauswand und den Boden erwärmt. Die Steine strahlten jetzt die Wärme ab. Eine angenehme Stunde, die sinkende Sonne schien noch milde auf die Zeitung mit dem Kreuzworträtsel, das ich gemeinsam mit der Henriette bezwingen wollte. Das Rätseln war gar nicht so leicht. Für die Henriette. Ich las die Fragen vor. Sie grübelte angestrengt, dafür meist vergeblich, obwohl sie irgendwie wusste, wonach gefragt war, den Begriff aber nicht nennen konnte. Wernicke-Aphasie, hatte Tineke gesagt. Sie tat mir leid, dieses alte Muttchen, wie sie da mühselig und fast verbissen ihren Kopf anstrengte. Sie schimpfte, also begann ich, die Lösungen zu soufflieren. Ich machte es so, auf dass sie meinte, die gesuchten Begriffe selbst herausgefunden zu haben. Da strahlte sie, da war sie zufrieden; und ich strahlte mit, und auch ich war zufrieden. Nach einer Weile wurde es zu anstrengend. Vielleicht zu langweilig. Für die Henriette. Sie gähnte, sie tätschelte ein bisschen meine Hand. Dankbarkeit, Verbundenheit. Und nicht lange, da war sie eingenickt.
Ich nahm die Gelegenheit wahr, mich des Daseins jenes mir befohlenen Hamsters, zu vergewissern. Ich schlich hinter das Häuschen, zum Stall. Ein Blick in den Käfig, und siehe, Peterchen Zwo war zunächst nicht zu finden. Erst nachdem ich ihn gerufen hatte, kam er vorsichtig schnuppernd aus der Höhle gehuscht. Er schnüffelte etwa sieben Mal sehr interessiert in meine Richtung, dann verschwand er wieder in dem Bau aus Pappe, wobei er das dicke Salatblatt, das ich ihm vorsichtshalber mitgebracht hatte, gleich mitgehen ließ. Diese Hamsterei, dachte ich, wie bei manchen Menschen. Die Henriette, als ich zu ihr zurückkam, schlief noch. Ich setzte mich leise neben sie und schloss ebenfalls die Augen. Ich war völlig entspannt, ich begriff, ich hatte seit Stunden weder an Edward Erster noch an Frau Stine-Pohl und nicht mal an den Termin auf Brücke sieben im Autobahnabschnitt 52 gedacht. Nicht mal Tinekes Sorgen waren aufgetaucht. Musste es mir da nicht gutgegangen sein, gutgehen?
Der Spaziergang auf dem Deich, dachte ich, unser Gespräch, das hatte geholfen. Die Ruhe, die Ereignislosigkeit. Es war alles so entspannend, hier.
Tineke kam. Sie hatte in der Küche gearbeitet. Sie trug eine Schürze, wie sie der Softi in ihrer WeGe getragen hatte. Jonathan. Nur, dass sie ihr besser stand. Viel besser. Sie sah sehr froh aus. „Es war gut, dass wir uns so ausgiebig und so offen unterhalten haben. Wenn ich hier bin, an der Küste, bei meiner Henriette, fühle ich mich einfach gut. Ganz anders als in der Großstadt. Sie fasste mit den Händen zum Rücken und band ihre Schürze auf. „Und nachdem ich dir mein Herz ausgeschüttet habe, ist es sowieso viel besser. Ich spüre, dass ich übern Berg bin, ich kann alles auf mich zukommen lassen.“
Ich zwinkerte. „Mich auch?“ „Bist ja schon da.“ Sie zog sich die Halsschlaufe der Schürze über den Kopf, und legte ihre Hand auf die linke Körperseite, auf die Stelle Herz. „Schon angekommen bist du. Hier drin.“ Sie schloss andächtig die Augen und sie sah glücklich aus. Sie sagte: „Und nun weckst du mal die Dame neben dir, und ihr kommt zusammen rein. Abendbrot.“
Sie verschwand im Haus. Ich tippte die Henriette an. „Unsere Nachmittagsschicht ist beendet, Frau Nachbarin.“ Die Henriette lachte und erhob sich, ohne dass ich ihr helfen musste. Sie beeilte sich, ins Haus zu kommen. Mit jedem Schritt wurde sie schneller. „Wie gut das runzelt“, schwärmte sie, als sie in der Küche stand und den Duft des frisch gebackenen Brotes einatmete.
„Es runzelt nicht, Oma, sondern es riecht, es duftet“, verbesserte Tineke sie. Es war egal, wie man es ausdrückte. Es roch phantastisch, und es sah appetitlich aus. Der Tisch war fast festlich gedeckt. Gemüse und Käse. Und eben das frische Brot. Dunkel und deftig. Tineke sagte: „Ich hab den alten Backofen angeheizt und eine Fertigmischung reingeschoben. Vollkornmehl. Es passt so gut hierher. Und es ist auch wegen dir. Ich wollte dir eine Freude machen.“ Ich atmete ganz tief. Noch tiefer als eben noch die Henriette. Nicht nur wegen des Backduftes. Ich hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Tineke. Ich tat es nicht. Wegen der Henriette. Vielleicht noch mehr, weil ich noch etwas würde warten müssen. Anstandsfrist. Aber es war nur knapp davor, dass ich es nicht tat. 

Wir saßen zu dritt am Tisch. Es gab einen Kräutertee und das frische Brot, die Sonne sandte rötliche Abendstrahlen, sie fielen direkt auf Tinekes Gesicht. „Das bringt Glück“, sagte ich. „Und wenn man es dann noch schafft, eine zweite und dritte Tasse Kräutertee zu trinken, ist es nachher sogar das schönste Abendbrot des ganzen Lebens.“
Tineke lachte. „Soso, und welches Märchen passt dazu?“
„Mit Märchen kennen sich sowieso nur Großmütter aus“, sagte ich.
Wir sahen die Henriette an. Sie war mit dem Essen beschäftigt. Daher sagte Tineke: „Großmütter müssen sich nicht unbedingt mit Märchen auskennen. Sie kommen vielmehr in Märchen vor. Sie kämpfen darin gegen Wölfe. Sie schneiden ihnen die Bäuche auf. Oder sie prügeln sie mit Mauersteinen, bis sie ohnmächtig werden.“
„Sie erzählen sowas, damit ihre kleinen Enkelmädchen Interesse an der Chirurgie bekommen und nachher Medizin studieren. Sie sollen gute Allgemeinärztinnen oder auch Anästhesistinnen werden“, ergänzte ich.
Tineke lachte abermals, jetzt laut. „Wenn man es so betrachtet, hätte ich eher Veterinärmedizinerin werden sollen. Da würde ich bestimmt schon eine eigene Praxis als Tierärztin betreiben. Schildkröten und Frösche kurieren. Und die vielen Schafe auf dem Deich, die nachts blöken, weil sie unter Schlaflosigkeit leiden.“ Sie sah fröhlich aus. Sie goss Kräutertee ein. Für mich, für sich selbst. Es war die zweite Tasse für jeden. „Komm“, forderte sie mich und sich selbst auf. „Trinken, es muss unbedingt das schönste Abendessen unseres Lebens werden.“ 

Die Henriette hatte einen fest geregelten Tagesablauf. „Sie muss um acht Uhr abends die Nachrichten sehen“, sagte Tineke. „Sie will ganz genau wissen, was auf der Welt passiert. Danach kommt ein Quiz oder ein harmloser Krimi oder eine Theaterkomödie. Um zehn geht sie schlafen. Ich eigentlich auch.“ Sie sah mich fragend an.
Ich zuckte mit den Achseln. „Ich? Ich bin sowieso müde. Hab ja nur die paar Stunden heute Vormittag geschlafen. Musst mir nur sagen, wo mein Schlafplatz sein soll.“
Tineke wiegte unentschlossen den Kopf. „Du kannst wieder auf die Couch im Wohnzimmer, oder wir pusten dir eine Luftmatratze auf und du kommst zu uns.“ Ich wusste nicht genau, wie ich das verstehen sollte: zu uns.
„Es ist so“, erklärte sie, „ich schlafe zurzeit mit meiner Oma im Ehebett. Sie hat sich das so sehr gewünscht. Die Betten stehen allerdings nicht direkt nebeneinander. Ein Nachttisch trennt uns.“ Sie blinzelte. „Da bin ich in ihrer Nähe, wir können vor dem Einschlafen reden oder ich lese ihr was vor. Deine Bücher. Das macht sie sehr froh.“ Tineke lächelte. „Und wenn du willst, legen wir die Luftmatratze neben das Bett, und somit bist du nicht allein, sondern wir sind zu dritt.“ Sie kicherte. „Du kannst dir sogar aussuchen, auf wessen Seite du liegst. Auf meiner oder auf der von der Henriette.“  

Ich breitete die Luftmatratze an der Seite aus, auf der Tineke schlief. Das bedurfte ja keiner Erwähnung. Wenngleich das Liegen auf der Luftmatratze nicht eben einer Verheißung gleichkam. Ich lag zunächst zu hart, weil die Matratze zu straff aufgepustet war. Ich ließ daher Luft ab. Danach spürte ich den blanken Boden unter meinem Körper. Es war, als läge ich auf einem Bettvorleger. Ich pustete erneut, und es wurde besser. Tineke amüsierte sich. Sie kam aus dem Bad. Sie war in einem kurzbeinigen, luftigen Schlafanzug. Sie kletterte, als ich da mit dem Ventil am Mund auf dem Boden saß, über mich hinweg in ihr Bett. Ich ließ die Matratze nach unten fallen und starrte sie unwillkürlich an. Sie zischte: „Ferkel.“ Aber es klang eher amüsiert als boshaft.
Die Henriette lag bereits auf ihrer Seite. Still und andächtig mutete das an. Als würde sie beten. Für einen sanften Tod? Oder für einen schönen neuen Tag. Morgen. Tineke erriet meine Gedanken. „Ja, sie betet, und sie lauscht zum offenen Fenster hin. Draußen passiert so viel, was ein jüngerer Mensch gar nicht beachtet. Das Abendgezwitscher der Vögel, das Rauschen des Windes. Und das Hochwasser ist auch bald wieder da. Die Flut.“
Eine Weile blieb es ganz still. Wir versuchten ebenfalls die Geräusche jenseits der Stille zu erfassen. Doch es war nicht viel. Ein paar letzte Möwenschreie, nachher ein Motorrad und das Signalhorn eines fernen Schiffes. Immerhin der Wind. Er rüttelte am Fensterladen. Mal schwach, mal heftig. „Klingt ja schauerlich“, sagte Tineke vorsichtig. „Als ob jemand draußen ist. Hab ich an den vorigen Abenden gar nicht so wahrgenommen.“ Und als ob sie es heraufbeschworen hätte, fuhr ein besonders derber Windstoß gegen das Haus und ließ den Laden scheppern wie den ganzen Abend noch nicht. „Auweia“, stieß Tineke hervor, doch die Oma beschwichtigte sanft: „Ist nur der Blechsplitt. Und wenn doch Ausbrecher da sind, haben wir ja nun ein Mannsbild im Kalt.“
Wir lachten. Wegen der Verwechslungen. „Haus ist nicht kalt“, erklärte Tineke. Und ich protestierte: „Wenn hier sieben Räuber kommen, um uns zu massakrieren, wird das sogar für mich schwierig.“
Tineke schaute über die Bettkante zu mir herunter. „Du wirst doch wohl mit sieben kleinen Räubern fertig werden.“
Prompt meldete sich auch die Henriette wieder, sie wiegelte mit einem nicht erwarteten Argument ab: „Wir sind hier nicht auf Siziliarien, Herr Schriftsteller, wo wir die Leute in der Nacht feierlich hinrichten. Mit der Gegenwart der Polizei. Und andere schreiben ein Drama davon.“ Wie gut sie auf einmal reden konnte. Nur mit kleinen Fehlern. War es nicht ein Zeichen, dass sie den Inhalt des Manuskripts genau kannte und sich damit auseinandergesetzt hatte? Tineke warf sich auf ihr Kissen zurück. „Ach Erasmus, mit dieser Passage hast du ja reichlich dick aufgetragen. Auch wenn’s ansonsten richtig spannend ist, aber das liest sich irgendwie total unrealistisch.“ Sie schwieg, ich ebenfalls, so dass sie sich schließlich erneut über die Bettkante beugte, um zu mir herunterzuschauen. „Du bist aber nicht beleidigt, weil ich das jetzt gesagt habe? Du, ansonsten hast du ein tolles Buch geschrieben. Ich war begeistert. Und Henriette auch. Stimmt doch, Henriette?“ Da keine Antwort kam, beugte sie den Kopf wieder zurück und schaute zur Großmutter. Ein säuselndes Geräusch erklang. Eine Mischung zwischen lautem Atmen und Schnarchen. „Sie ist eingeschlafen“, bestätigte Tineke. „Das geht dann immer ganz schnell, und meistens hält es auch bis zum frühen Morgen an. Bis auf kleinere Pausen. Nur wenn ich ihr was aus deinem Buch vorgelesen habe, abends, ist sie munter geblieben. Mit riesigen Ohren.“ Ihr Kopf und ein Teil des Oberkörpers lugten jetzt weiter als vordem über die Bettkante. Ich konnte es erkennen, weil von draußen immer noch Helligkeit ins Zimmer drang.
Weil ich immer noch nichts sagte, tastete Tineke mit einer Hand nach meinem Gesicht. „Bitte Erasmus, sei doch nicht brummig.“ Ich fasste vorsichtig nach der Hand und erwiderte flüsternd: „Ich bin nicht brummig und nicht beleidigt. Als Autor muss man darauf gefasst sein, dass einen die Leser kritisieren. Sonst sollte man nichts veröffentlichen. Aber die Szene, in der die Hinrichtung vorkommt, hatte ich für besonders gelungen gehalten. Für den Höhepunkt des Buches.“
Tineke atmete schwer. „Hast du sonst keine Leser? Keine Kritiker?“ Ich dachte an Edward Erster und an Frau Stine-Pohl. Von dem einen wusste ich, dass er so gut wie niemals ein Buch las, und der anderen, dieser rationalen Vorgesetzten, traute ich kein wirklich kompetentes Werturteil zu.
„Nein“, erwiderte ich also.
Es war wieder Schweigen für einige Sekunden. Nicht nur Schweigen, sondern Stille. Nur das leichte Atemrasseln der Henriette war zu hören. Selbst der Wind hatte für Augenblicke nachgelassen. Da fragte Tineke: „Kann ich dich um was bitten?“ Da ich mit der Antwort zögerte, fuhr sie einfach fort: „Kannst du morgen mal was machen, dass dieser blöde Fensterladen nicht mehr so sehr klappert?“
Sicher, das konnte ich, das würde ich. Ich sagte es, und dann fragte ich sie, ob sie nicht zu mir kommen wollte, herunter, auf meine Luftmatratze. Sie kicherte leise. Und sie flüsterte: „Dacht ich’s mir doch, dass du was planst. Dass du mich verführen willst. Du Schuft.“ Dann glitt sie fast geräuschlos über die Bettkante und lag neben mir. Sie blieb ganz lange. Mindestens bis um halb vier. Ich sah auf die Uhr, dann auf ihre nackten Beine, die soeben hinter der Bettkante verschwanden. „Tinchen“, sagte die Henriette verschlafen und mit ausgedörrter Stimme, „liebes Kind.“ Und dann setzte wieder das rasselnde Schnarch-Atmen ein. Ich dachte genau dieselben Worte, aber viel intensiver und voller Glück. Und nachdem ihre Hand noch einmal zu mir herab getaucht war, um meinen Kopf zu streicheln, schlief ich innerhalb weniger Sekunden ein. 

Um sechs Uhr war es fast unwirklich hell im Schlafzimmer. Das Tageslicht war mit einer Intensität gekommen, die es bei uns in der Stadt nie geben würde, am wenigsten im Umfeld meiner Hinterhofwohnung. Ich setzte mich auf und stellte fest, dass die Fensterläden offen standen und die Fensterflügel weit aufgeklappt waren. Tineke lag nicht mehr im Bett. Die Henriette jedoch war da, sie lag wach. Sie hatte die Hände ineinander gegraben und bewegte tonlos die Lippen. Sie betete, ganz bestimmt. Ich kroch von der Luftmatratze, ging in die Küche und ins Bad. Von hier konnte ich durch ein kleines Fenster sehen, dass sich im Garten ein paar hohe Pflanzen bewegten. Der Verdacht, den ich hatte, bestätigte sich, nachdem ich hinausgegangen war und nachschaute: Tineke. Sie machte sich in einem Beet zu schaffen. Blumen pflückte sie, dabei war sie noch in ihrem kurzbeinigen Schlafanzug. Ich grüßte leise und verliebt und sie erwiderte, ohne sich umzudrehen. Als hätte sie mich längst bemerkt. „Ich suche einen Strauß zusammen, für den Frühstückstisch. Solange hier noch nicht alles verwildert ist.“ Sie richtete sich auf und streckte mir die Blumen, die sie bereits geschnitten hatte, entgegen. Es sah bunt aus und lebendig.
„Schön. So schön wie du“, sagte ich.
„Mehr fällt dir dazu nicht ein?“, stichelte sie.
Ich dachte an ein Lied, das ich von einer Platte aus der Sammlung meines Vaters kannte. Ich sang leise den Text.  

Butterfly, red, white and blue
You love flowers, I love you.  

Sie lächelte. „Kann es sein, dass ich das Stück schon mal gehört habe? Von einer Platte aus meiner wunderbaren Samm­lung?“ Ich zuckte mit den Achseln, und ich sah etwas wehmütig aus. Die Plattensammlung, jaja.
Sie versprach: „Wenn ich demnächst nach Berlin zurück muss, kriegst du die Scheiben wieder. Alle. Und diese mit dem schönen Lied lege ich oben drauf, damit du sie gleich findest und sie immerzu hören kannst. You love flowers, I love you. Und das Geld will ich sowieso nicht wiederhaben. Oder hast du das tatsächlich jemals gedacht?“
Ja, nein, ich wusste es nicht. Ich wusste nicht mal, ob ich die Platten wiederhaben wollte. Nicht wegen des Geldes, das ich vielleicht hätte zurückzahlen sollen, sondern wegen der Vergangenheit. Mein Vater, meine Mutter, mein Onkel. Meine Kindheit, meine Jugend. Wer hat nicht irgendwann mal das Bedürfnis, alles abzuschütteln?  

Die Henriette machte sich bereits im Bad zu schaffen, als wir wieder im Haus waren. Die Tür des Badezimmers war nur angelehnt. „Das macht sie immer. Weil sie meint, es könnte ihr etwas zustoßen und sie Hilfe braucht.“ Tineke zeigte auf meine Kleidungsstücke, die sie ordentlich zusammengefaltet hatte. „Zieh dich mal an und fahr zum Bäcker. Zu diesem herrlichen Morgen passt nicht nur das schöne Lied, sondern auch was Schönes zu essen.“
Ich holte das alte Fahrrad, das im Stall stand und trällerte dem Hamster einen Morgengruß zu. Er erwiderte ihn, indem er seine Schnute durch das Drahtgeflecht steckte und in meine Richtung schnüffelte. Er lebt, dachte ich, welch ein Glück. Ich bestieg das Fahrrad und trat tüchtig ins Pedal. Brötchen, Brot und etwas Kuchen. Für gleich, für später.
Als ich zurück war, hatte Tineke den Tisch gedeckt. Die Henriette saß erwartungsvoll auf ihrem Stammplatz. Es roch nach frischem Kaffee. Wir frühstückten in einer Vertrautheit, als gehörten wir schon ewig zusammen. So zu dritt. Es war gemütlich und unterhaltsam. Ganz sicher wäre ich gern noch sitzen geblieben. Auch die Henriette. Aber Tineke sagte: „So richtig faul wollten wir den Tag nun auch nicht herumbringen, oder?“ Ich wusste nicht, was sie meinte. Einen Spaziergang auf dem Deich? Mit einem neuerlichen ausgiebigen Gespräch? Nein, es ging in eine andere Richtung. Sie fragte vielmehr: „Fühlst du dich fit genug, um im Garten zu helfen? Hast ja selbst gesehen, wie das Unkraut wuchert. Ich hätte so gern den Vorgarten etwas gejätet. Es macht keinen guten Eindruck.“
Ich bemühte mich, nicht zu murren. Mir ging der Slogan durch den Kopf „Für dich tu ich alles“. Ich überlegte, ob es wirklich etwas geben würde, das ich für sie nicht getan hätte. Nein, mir fiel nichts ein. Ich hätte mich allein ganz weit ins Watt gewagt und es todesmutig mit den Ofenfischern aufgenommen, oder ich wäre mit dem Schlauchboot von hier aus in Richtung Nordpol gerudert.
Irgendwann wäre ich gar auf eine Eisscholle umgestiegen ...
Und das andere, das Treffen an Brücke sieben des Autobahnabschnitts 52? Hätte ich den Mut gehabt, um Tinekes Willen nicht zum Fernreisebahnhof zu gehen und somit den geheimen Termin nicht wahrzunehmen?
Ich hatte keine Antwort.
Ungeachtet dieser Unklarheit hatte sich die Wartezeit inzwischen weiter verkürzt. Um drei Tage. Noch dreieinhalb Wochen sollte es dauern, bis ich den Fernreisebahnhof der Hauptstadt betreten würde. Und obwohl es mich kolossal drängte, Tineke von dem Treffen zu erzählen, ihre Meinung zu erfahren, musste ich doch tiefes Stillschweigen bewahren. Was für eine Marter.  

Meine Gedanken erfuhren keine Fortsetzung, die Fragen keine Antworten. Der Garten rief. Nein, der Vorgarten, und auch hier nur der Bereich, der unmittelbar an den Zaun zur Straßenseite grenzte. Diese fürchterlich hohen Wildstauden wollten gestutzt und gelichtet, das hartnäckig sich ausbreitende Unkraut gerodet und die vom Unwuchs befreiten Flächen erst mal richtig umgegraben, gewässert und geharkt werden. Nein, ich schaffte nicht alles. Das nicht. Aber es war genug, um Tinekes Augen leuchten zu lassen und auch die Henriette in befreiender Zufriedenheit zu wiegen.
Die nächtlich rappelnden Fensterläden harrten meines Einsatzes schließlich ebenso. Der Spezialauftrag mit schlafschonender Wirkung für die Nacht. Die Henriette, während sie mich beim Festschrauben der Halterung von ihrer Bank beobachtete, mutmaßte spitz: „Über die sieben sizilianischen Landräuber werden wir dann vor dem Einschlafen wohl nicht singen. Sind gebannt jetzt.“ Sie kicherte froh und schloss gleich die Augen. Ein Nickerchen. Und die Sonne schickte warme Strahlen auf ihre knittrige Haut.
„Schön, wie du das alles gemacht hast“, lobte Tineke. „Wie ein echter Handwerker.“ Sie kündigte an, da es für die Aussaat von Kartoffeln zu spät sei, auf dem gerodeten Teil des Vorgartens Blumenbeete anzulegen, Spätblüher. Studentinnen-Blumen, Astern, vielleicht sogar Dahlien. „Die könnten noch vor dem Herbst blühen.“ Und in einer Ecke auch Rettich und Sellerie. Sellerie? Sie lächelte verstohlen, als ich sie fragend anschaute. „Weißt du nicht, welche Wirkung man dem Sellerie nachsagt?“
Ich lächelte mit und kommentierte den Sellerie nicht. Nur ihre Gartenlust, die nannte ich „Agrarambition“.
Tineke sah glücklich aus. Vielleicht stellte sie sich das an diesem Vormittag vor: sie und ich und die Henriette in dem Küstenhaus, bei Gartenarbeit und Deichwanderungen. Frische Seeluft und frisches Gemüse. Rettich und vor allem Sellerie. Herrlich bunte Blumen. Frieden und Zufriedenheit. Sie sagte aber nichts davon. Es mochte zu viel Idylle sein, zu viel Erträumtes. 

Folge 9 vom 08. April. 2020  

Die Tage gingen dahin. Aufregend und im Gleichmaß in einem. Wir säuberten den Vorgarten komplett, Tineke legte ihre Beete an. Das Eckchen mit Sellerie. Ich reparierte einige schadhafte Stellen am Zaun, reinigte die Dachrinnen an dem Häuschen und richtete den Stall, in dem der Hamster weiterhin ein zufriedenes, obschon sehr unbeachtetes Dasein führte, wieder her. Es war nicht ausgeschlossen, dass hier demnächst Tiere einzogen. Keine Ziege, kein Schaf, nein, womöglich ein paar Hühner, vielleicht eine Weihnachtsgans.
Weihnachten, wie weit lag das vor uns? Nicht mal mehr ein halbes Jahr. Wir sprachen auch über den hinteren Teil des Gartens. „Nein“, entschied Tineke, das ist Acker. Der ist verwildert, da muss Nachbar Clements kommen. Mit seinem Traktor.“
Clements, ach ja, der Lieferant von selbst angebauten Erzeugnissen. Eiermann. Konnte man Eier anbauen?
Immer wieder summte und sang ich dieses Lied You love flowers, I love you. Und immer, wenn sie in meiner Nähe war und es hörte, sang sie mit, und wir sahen uns in die Augen. Tineke. Es war wieder der mittelmäßige Film, mit seinem kitschigen Inhalt, in dem man in den Tag hinein lebt und alles, was einen in Widersprüche verwickeln konnte und was Ängste und Sorgen schafft, verdrängt, ignoriert, besiegt. Beseitigt, zumindest temporär. Die Firma, der Job, den ich in dieser Land- und Liebesidylle aufs Spiel zu setzen drohte. Der mir zusehends egal war. Selbst der Termin an Brücke sieben, der mit jedem Tag unserer Zeitlosigkeit, in der Nur-Gegenwart, näher rückte. In solchen Filmen, in denen sich alle Probleme im Feuer der heißen Liebe auflösten, ging das eben.
Ohne es mir einzugestehen richtete ich mich auf das geruhsame Leben ein. Ich hätte es jetzt fast darauf ankommen lassen, alles aus den Händen zu geben, was eine andere, eine abhängige Existenz ausmachte. Einen Job, wie ich ihn wohl nie wieder angeboten bekommen würde. Selbst die Konsequenzen, die sich aus dem Verzicht auf das Treffen an Brücke sieben ergeben mussten. Auch sie.
Tineke hatte sicherlich dieselben Anwandlungen realistischer Wahrnehmung. Nach mehr als einer Woche sagte sie nachdenklich: „Bevor ich in dieser unergründlichen Romanze ganz dahinschmelze, will ich halt doch mal erst in die Stadt zurück. Mein Urlaub geht zu Ende, und Jonathan kann ich sowieso nicht so lange allein lassen.“ Ihr Entschluss war für mich, als würde am Nachttisch der Wecker klingeln und mich aus dem schönsten aller Träume reißen.
Egal, dass ich schon eine Weile halbwach gelegen hatte.
„Vielleicht kommst du mit und bringst auch einiges in Ordnung? Mit deinem Job, mit der Wohnung. Vor allem solltest du wieder schreiben. Ein Schriftsteller, wenn er am Tag profane Garten- oder sonstige Arbeit verrichtet, muss die Nacht hindurch Geschichten und Romane schreiben, bis die Finger schmerzen und die Augen entzündet sind.“
Ich rieb mir die Stirn, denn ich hatte auch noch eine ganz andere Sorge: „Und deine Großmutter, wer kümmert sich um sie, wenn wir in Berlin sind?“ Tineke umarmte mich spontan. Sie war gerührt. „Schön, dass du so mitfühlend an meine Henriette denkst. Das zeigt, dass du auch das Potenzial eines treu sorgenden Familienvaters hast.“ Sie beruhigte mich zugleich. „Denk mal an das Obergeschoss.“ Sie ging mit mir zum Eingang des Hauses und zeigte im Flur auf die Treppe. „Hast du dich nie gefragt, wohin sie führt?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Oben befindet sich eine kleine Wohnung. Früher hatte meine Henriette dort noch Feriengäste. Aber seit einigen Jahren ist die Wohnung fest vermietet gewesen. An zwei Frauen. Eine von ihnen hat einen Pflegedienst gegründet. Sie heißt Dominique. Sie hat sich um Henriette gekümmert, morgens und abends mal geguckt und ihr dieses und jenes geholfen. Dafür konnte sie hier mit ihrer Freundin umsonst wohnen. Die beiden trennen sich. Dominique hat was Größeres gemietet, wo sie sich ein Büro einrichtet. Ihre Freundin will weiter oberhalb der Küste ein Café eröffnen. Es ist der übernächste Ort. Bis wir wieder eine passende Mieterin gefunden haben, kommt Dominique öfter, um nach der Henriette zu gucken.“
Ich seufzte und erlebte am nächsten Tag die Rückkehr der beiden Frauen. Zwei Mitteljunge. Recht rustikal und nicht eben exemplarisch weiblich. Tineke bestätigte mir, als wir ein paar Stunden später im Silverhawk bereits zurück in die Hauptstadt düsten, dass sie zusammen lebten, als Paar. Gelebt hatten. „Kann sein, dass sie sogar verheiratet sind. Oder waren. Dass sie sich jetzt scheiden lassen wie bei einer Ehe aus Mann und Frau“, sagte sie. „Aber dagegen hat unsereins keine Vorurteile. Oder?“
Nein, ich hatte keine. Ich hatte die zwei, als wir, das Verdeck aufgeklappt, die Sonnenstrahlen auf den Gesichtern, den Käfig mit dem Hamster auf dem Rücksitz, im Silverhawk saßen und zurück in das reale Leben der Großstadt fuhren, schon wieder vergessen.  

Was war dieses reale Leben? Es kam mir wie ein Leben vor, aus dem ich vor unendlich weit zurückliegender Zeit ausgeschieden war. Dabei hatte sich in den wenigen Tagen meiner Abwesenheit nichts verändert. Nicht auf den Straßen der Stadt und nicht in meinem Hinterhof, wo die Tippelbrüder am Mittag noch im Treppenschlag des Hausflurs schliefen, um für die Gelage der nächsten Nacht ausgeruht und trinkdurstig zu sein; und schon gar nicht in meiner Wohnung, wo es muffig roch und Schatten und Finsternis unerschütterbar verharrten wie am Nord- und Südpol vorläufig noch das ewige Eis.
Peterchen Zwo nahm die vertraute Witterung sofort auf. Ihm gefiel es hier, er fühlte sich heimisch. Er arbeitete, er rannte und schleppte dieses und jenes umher, verschwand damit in seiner Papphöhle und kam wieder hervor. Hatte das etwas auf sich? Was?
Es gab wichtigere Beobachtungen, Erkenntnisse, Fragen für mich. Sie hingen mit den zwei Briefen zusammen, die in meinem wackligen Postkasten steckten. Einmal war es Edward Erster, der sich mit einer sehr, sehr dünnen Sendung meldete. Ich erkannte ihn als Absender, obwohl er keinen solchen auf den Umschlag geschrieben hatte. Den oder die Absender des anderen Briefes hätte ich ebenfalls ohne den Aufdruck, den der Umschlag allerdings doch aufwies, erkannt. Es war mein Arbeitgeber. Meine Arbeitgeberin.
Welchen Brief sollte ich zuerst lesen? Ich hatte bei beiden ein leicht mulmiges Gefühl. Daher wollte ich Peterchen Zwo entscheiden lassen. Kam er in den nächsten zehn Sekunden nicht aus seiner Höhle, wäre es der Brief von Edward Erster gewesen. Ansonsten der andere. Peterchen Zwo kam sofort. Trotzdem hielt ich mich nicht an die Abmachung mit mir. Ich las den Brief meiner Firma.
Es war kein richtiger Brief, nur die Mitteilung, ich solle mich nochmals zu einem persönlichen Gespräch einfinden. Bei Frau Stine-Pohl. Ich schaute auf das angegebene Datum und die Uhrzeit und stellte fest: Es ist knapp. Ich hatte noch nicht mal eine Stunde Zeit, um mich in der Personalabteilung einzufinden.
Glück gehabt, oder? Einen Tag später und der Termin wäre geplatzt. Und dann?
Ich sauste los und steckte den Brief von Edward Erster ungelesen ein. Ich vergaß gar, dass es ihn gab. Es lag an der Aufregung. Oder war es eine Art Verheißung, die ich in dem Termin in der Firma sah? Würde mir die Firmenleitung mit einem „Nein, wir können und wollen Sie doch nicht einstellen“ die Entscheidung abnehmen. Nicht abnehmen, sondern manifestieren. Ich hatte mich doch entschieden: Du wirst Schriftsteller, Erasmus; das ist deine Berufung.  

Frau Stine-Pohl empfing mich gewohnt gelassen-freundlich. Ob diese Miene nur dienstliche Distanziertheit bedeutete oder ob die Dame infolge der Manuskript-Lektüre eine gewisse Sympathie für mich entwickelt hatte, vermochte ich nicht zu erkennen. Ich dachte kurz, wenn du dir jetzt etwas wünschen könntest, dann wäre das ein Lob: „So, Herr Erster, wir (!) haben Ihr Manuskript komplett gelesen und finden den Inhalt großartig, fast genial. Es wäre unverantwortlich, wenn Sie angesichts Ihrer enormen Begabung bei uns als normaler Mit­arbeiter, selbst in der gehobenen Leitungsebene, arbeiten würden. Das wäre ein Verlust für die gesamte europäische Kulturszene. Wir bieten Ihnen vielmehr ein ansprechendes Stipendium an, damit Sie Ihr Buch in Ruhe abschließen und veröffentlichen und an Ihrem nächsten Werk schon vorausarbeiten können. Wir befristen das zunächst auf ein Jahr, und es ist uns ganz egal, wo Sie Ihren Wohnsitz nehmen.“ Mit einem solchen Spruch wäre vieles gelöst gewesen. Das Finanzielle, das Zeitliche. Ich hätte mir gegenüber lediglich die moralische Komponente kompensieren müssen: „Mit der Armut und dem Durchbeißen ist es allerdings vorbei.“
Nun, ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Egal, wie ausgesprochen zuversichtlich mich der Gedanke an eine derartige Offerte aussehen lassen musste. Und Frau Stine-Pohl bestätigte es prompt. „Schön, dass Sie sich so gut erholt haben und so voller Optimismus herkommen, Herr Erster. Hoffen wir, dass das bis zu Ihrem Dienstantritt so bleibt. Und vor allem danach. Es gibt viel Arbeit. Sehr viel Arbeit, um genau zu sein.“ Ihre Miene wurde ernster, doch eine distanzierte Freundlichkeit blieb. Sie reichte mir den Umschlag, in dem mein Manuskript steckte. „Da werden Sie dann wohl keine Zeit mehr für Nebenbeschäftigungen haben, wenn Sie wieder für uns arbeiten. Auch nicht fürs Schreiben.“ Ich griff zu und drückte das, was mein erstes Buch werden sollte, an mich. Der Umschlag mit dem Manuskript. Ich versuchte, nicht verwirrt und nicht enttäuscht, vor allem nicht neugierig, auszusehen. Ich wollte mir keine Blöße geben.
Frau Stine-Pohl lächelte kühl und abgeklärt, und sie wirkte ein wenig verärgert und nunmehr so ganz von oben herab. „Was meinen Sie, Herr Erster, wie viele Leute sich schon mit dem Schreiben versucht haben. Und wie viele es immer noch versuchen. Versuchen. Die meisten nehmen ja nicht mal so viel auf sich wie Sie. Ein Jahr pausieren, keine Einkünfte. Askese.“ Ihre Miene drückte jetzt sachliche Anerkennung aus. „Und das Schwerste ist es dann, sich das Unvermögen einzugestehen. Ein Stümper zu sein. Sie haben das ja geschafft. Glückwunsch und erst mal Auf Wiedersehen.“ Sie reichte mir die Hand. „Ich bin, wenn Sie in Kürze Ihre Arbeit hier aufnehmen, im Urlaub. In den USA. Wir sehen uns also erst mal eine Weile nicht.“
Mir war, als ich anschließend im Flur stand, nach mindestens drei großen Flaschen Bier zumute. Zur Tröstung, zur Betäubung, zur Besänftigung. Oder zum Sterben. Nein, das nun nicht gerade. Aber ein Gespräch mit Tineke, zur Herzausschüttung dieser jüngsten Erfahrung, schien mir unausweichlich. Und richtig, prompt piepte mein Handy, und es zeigte eine Message von ihr an: Können wir uns bitte gleich treffen? In deiner Wohnung? Ich fühlte einen Schauer am Rücken. Ein klassischer Fall von Gedankenübertragung. Gab es so etwas nicht nur, wenn zwei Menschen unerhört verliebt ineinander waren?
Ja, simste ich zurück, bin in einer halben Stunde da. Und ich brannte darauf, alsbald reden zu können und ein bisschen getröstet zu werden.  

Folge 10  vom 09. April. 2020  

Es kam jedoch völlig anders. Tineke sah blass und völlig verwirrt aus, sie zitterte. Sie warf sich in meine Arme und weinte. Ich sah diese Stationsärztin vor mir. Die Übermutter. Was hatte sie meiner Liebsten angetan? Halt, Tineke hatte ja gar keinen Kontakt zu ihr gehabt. Sie war in der WeGe gewesen. Also hatte ihr Kummer nicht mit ihr zu tun. Mit wem dann? Jonathan. Der Kerl mit der Latzschürze. Hatte er ihr eine Szene gemacht? Womöglich, weil sie ihm von unseren schönen Tagen an der See erzählt hatte. Ich ballte die Fäuste. Diese exemplarische Ausgabe von einem Weichei. „Soll ich in die WeGe fahren und diesen Jonathan aufmischen?“
Tineke löste sich von mir. Sie sah mich verständnislos an und zog einen Umschlag aus dem Hosenbund. „Lies das mal. Das ist jetzt das Problem, nicht Jonathan. Jonathan, den schätzt du, glaube ich, sowieso ganz falsch ein. Über den können, müssen wir mal bei Gelegenheit reden.“
Ich faltete einen Briefbogen auseinander. Er stammte von der Leitung des Großklinikums. Groß, nicht nur, was die Ausmaße anging, sondern groß vom Ansehen her. Groß in den Aufgaben und Entscheidungen. In den Erfolgen.
Die Leitung teilte Tineke mit, man hätte nach dem kürzlich geführten Gespräch die Beurteilungen ihrer bisherigen Arbeitsabschnitte geprüft und ihre Arbeitsergebnisse für sehr anerkennenswert befunden. Es sei nun vorgesehen, sie kurzfristig in die Chirurgische Zentralklinik des Großklinikums umzusetzen. Professor Kurz, der neue Chefarzt, habe für sie eine besondere Stelle eingerichtet.
Noch während ich las, sagte Tineke: „Damit hatte ich am aller wenigsten gerechnet. Professor Kurz, das ist der, von dem ich dir erzählt habe. Kurz-Franzl, der Oberarzt, der mich immer gefördert hat. Demnach ist er jetzt Chefarzt, Donnerwetter, wirklich eine Kapazität.“ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Und sie sah blass aus und geschafft. Fassungslos. „Wenn ich bei ihm arbeite, werde ich in allen Fachbereichen eingesetzt und spare mir die Wanderungen durch die einzelnen Stationen. Und ich kann unheimlich viel lernen.“
Ich sagte: „Dann war es also richtig, dass du neulich mal Gas gegeben hast. In diesem Gespräch. Es hat geholfen.“ Ich lachte, wir umarmten uns spontan. Sie lachte auf einmal auch, dann aber weinte sie erneut.
„Warum weinst du?“ Ich fragte das, obwohl ich ahnte oder sogar wusste, dass es um ihre Großmutter ging.
Sie sagte es ja: „Es ist wegen meiner Henriette. Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch mal so eine Mieterin wie Dominique finden. Eine, die sich dann um meine Henriette kümmert. Es würde mich in der Seele schmerzen, wenn ich hier arbeite und wohne, und sie ist so allein und hilflos. Ich müsste dauernd an sie denken. Und ich hätte ein schlechtes Gewissen.“ Sie sah mich an, aus Augen, die in Tränen schwammen.
Ich seufzte, ich dachte, es ist alles total verfahren. Nicht nur bei ihr.
Ich starrte auf den Umschlag mit dem Manuskript, den ich zusammen mit meinen Einstellungspapieren auf den Tisch geworfen hatte. In meinem Kopf dröhnten jene Worte von Frau Stine-Pohl wie dumpfe Hammerschläge. „Ein Stümper.“ Ein Jahr Askese, das ich für nichts als das dürftige, desillusionierende Statement dieser Dame auf mich genommen hatte. Für die Rückkehr in meinen Job. Obwohl ich nicht zurückkehren wollte.
Ich dachte, warum schmeiße ich dieser gefühllosen Person nicht die Papiere vor die Füße und verschwinde aus der Hauptstadt. Ab an die Küste. In das hübsche kleine Friesenhaus. Dort würde ich Zeit und Ruhe zum Schreiben haben. Ich würde nach der Henriette sehen. Und Tineke vollendete ihren Facharzt und kam irgendwann nach.
Ich atmete tief ein und aus. Ich sah traurig aus. Ich wollte gern über die Abfuhr reden, die ich soeben erfahren hatte. Über meinen Kummer, der auch kein leichter war. Es ging nicht, solange sich Tineke ihren Kummer nicht endgültig von der Seele geredet hatte. Zudem wusste ich nicht, wie beginnen, wo aufhören.
„Mir ist, als müsste ich mich jetzt besaufen, bis zur Besinnungslosigkeit“, sagte Tineke plötzlich. „Nach einem Vollrausch sieht man die Dinge wahrscheinlich klarer.“ Sie fasste meine Hände. „Du könntest, glaub ich, auch ’nen Schluck vertragen. Siehst aus, als wäre bei dir auch was schiefgelaufen und du möchtest drüber reden. Mit mir.“ „Alkohol verschärft eher die Probleme“, widersprach ich. „Hinterher weiß man gar keinen Ausweg mehr. Von dem fürchterlichen Kater ganz zu schweigen.“
„Nicht, wenn man zu zweit ist und zusammen aufwacht. Dann ergibt minus mal minus plus.“
Wahrscheinlich hatte sie Recht. Und wenn nicht, war es den Versuch wert. Ich flitzte los und holte von unten aus dem Supermarkt eine große Flasche Fusel und eine Tüte Erdnüsse. Tineke sah mich erstaunt an: „Solch eine riesige Flasche? Ganz so wörtlich hättest du meine Äußerung in Sachen Vollrausch vielleicht doch nicht nehmen sollen.“ Ich kam nicht zum Antworten. „Weißt du, was mir aufgefallen ist?“, fragte sie gleich. „Dein Hamster, das ist kein Peterchen Zwo, sondern eine Petra die Erste. Passt ja auch besser zu deinem Familiennamen. Erster. Er, genauer sie, hat Junge.“
Ich sackte erschrocken auf den wackligen Stuhl. „Bist du sicher?“ „Du, das wäre mir sogar ohne Medizinstudium aufgefallen.“
Und nun? Edward Erster, nun musste ich ihm das erklären: „Ich habe deinen Hamster ausgetauscht. Gegen eine Hamsterin. Der, den du mir zur Betreuung gebracht ist, ist draufgegangen.“ Aus unerfindlichen Gründen. Unerfindlich? Oder sollte ich Petra der Ersten die Jungen wegnehmen und Edward Erster gegenüber so tun, als wäre sie kein Weibchen? Was für eine Gemeinheit.
Edward Erster. Jetzt fiel mir der Brief ein. Der lag mit den anderen Sachen auf dem Tisch. Ich öffnete den Umschlag und zog eine dünne Seite mit wenigen Zeilen heraus.  

Lieber Erasmus,
habe eine interessante Neuigkeit für dich. Habe hier jemanden kennen gelernt, eine Frau, die in einem Verlag arbeitet. Dort werden Taschenbücher veröffentlicht.
Wir haben zusammen Kaffee getrunken und kamen auf das Thema Bücher zu sprechen, wobei ich auf dein Manuskript abgestellt und es ihr gegeben habe.
Helene, so heißt die Dame, hat schon einen Teil des Textes gelesen, und der hat ihr recht gut gefallen. Sie sagt, sie würde versuchen, es in ihrem Verlag unterzubringen. Sie ist diesbezüglich sehr zuversichtlich. Aber du musst das mit ihr selbst besprechen. Falls für diese Veröffentlichung ein Zuschuss zum Drucken erforderlich sein sollte, komme ich dafür gern auf. Es ist bestenfalls eine niedrige vierstellige Summe. Es ist ja dann immer noch dein alleiniges Projekt, denn ich werde mich keinesfalls einmischen. Du kannst mir das Geld gegebenenfalls später wiedergeben.
Mach’s gut und sei gegrüßt
von deinem Onkel Edward 

Ich war völlig sprachlos. Ich ließ die Hand mit dem Brief sinken und starrte wieder auf den Tisch, wo der Umschlag mit dem Manuskript lag. Helene. Bekanntschaft, Druckkostenzuschuss, Urlaub. Und nun? Tineke sah mich besorgt an. „Schlechte Nachrichten?“ Ich reichte ihr den Brief. Sie las. Und dann las sie noch mal. Und sie wendete den Brief und las immer noch. Dann sagte sie: „Ist doch alles super. Als ob man an einer Strippe zieht, und plötzlich sind alle problematischen Verfitzelungen und Knoten aufgelöst.“ Ihr Gesicht wurde richtig hell, es zeugte nahezu von Eifer. „Du, mal angenommen, du fährst gleich morgen los, um deinen Onkel zu besuchen, könnte ich da nicht mitkommen? Ein paar Tage Zeit bleiben mir auf jeden Fall noch. Egal, ob ich die Stelle antrete oder nicht. Und in die Schweiz wollte ich schon immer mal.“ Ich verstand sie nicht. „Wohin, bitte schön, sollte ich morgen fahren?“
Sie gab mir den Brief zurück. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Rückseite einige Nachsätze enthielt.  

PS: Lieber Erasmus, könntest du nicht einfach mit dem Silverhawk kommen und mit Helene selbst über dein erstes Buch sprechen? Es wäre bequemer und sinnvoller. Ach so, den Hamster will ich nicht wiederhaben. Ich habe ihn dir gebracht, damit ich dir ohne Erklärungen etwas Geld zukommen lassen konnte. Ich konnte deine spartanische Lebensweise einfach nicht mehr mit ansehen. Ich mag gar keine Hamster.
Du hast es doch gewusst, oder? 

Als ich den Brief sinken ließ, sagte Tineke: „Wenn ich den Namen Erster höre oder lese, denke ich zwar an dich, aber neuerdings fallen mir auch die Süßigkeiten mit demselben Namen ein. Die Eskimoküsse. Mit leckerer Creme gefüllt und weißer Schokolade überzogen. Die aus der eleganten Schachtel. Wo draufsteht: Die original Eskimoküsse – Ersters Erste Garde. Gar nicht so übel. Ich weiß, das klingt absurd, aber ich habe plötzlich die Vorstellung, dein Onkel Edward Erster könnte etwas mit diesen Dingern zu tun haben.“
Ich lächelte. „Eskimoküsse heißen diese Dinger schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Das sind jetzt Schneeküsse. Der ursprüngliche Name wurde als Diskriminierung einer bestimmten Volksgruppe gebrandmarkt. Der Inhalt ist hingegen der gleiche geblieben. Der Geschmack natürlich auch. Der letzte Einzelherrscher über diese Firma hat peinlichst darauf geachtet, dass nicht das kleinste Detail geändert wurde.“
Da wurden Tinekes Augen ganz groß. „Du sagst das, Erasmus, als wäre an meiner Vermutung etwas Wahres dran.“
Ich seufzte. „Nicht nur etwas. Die Firma hat meinem Onkel tatsächlich gehört. Er hat sie nach dem Krieg aus Trümmern und Ruinen aufgebaut, er hat eine Art Imperium daraus gemacht, und weil aus unserer Familie der einzig in Frage kommende Nachfolger, nämlich ich, sein Lebenswerk nicht fortsetzen wollte, hat er sie vor zehn Jahren schweren Herzens gegen diverse Millionen oder Milliarden verkauft. Einschließlich aller Herstellungsrezepte.“
Sie staunte, sie war sprachlos und zugleich voller Fragen. Und ich glaube, ich war ihr für die nächste Stunde nicht mehr geheuer.  

Folge 11 vom 10. April 2020 

Wir sprachen vorerst nicht mehr über diese Dinger, die Eskimo-Schnee-Küsse. Egal, wie sie jetzt hießen, wer mittlerweile an ihrer Herstellung und Vermarktung verdiente. Und schon gar nicht über das Vermögen meines Onkels, für das es nur einen Erben gab. Oder zwei?
Wir wandten uns den organisatorischen Aufgaben zu.
Zunächst verschenkten wir den Fusel und die Erdnüsse an die Tippelbrüder und fuhren zu Tinekes WeGe. Dort gaben wir den Hamster in Pflege. Jonathan erglühte vor Leidenschaft, als er Petra die Erste mit ihren Jungen sah. Er wischte aufgeregt mit den Handflächen über das Oberteil seiner Latzschürze und redete auf die Mitglieder der Hamsterfamilie ein, als seien sie kleine Menschen. „Das Problem Hamster wäre somit gelöst. Ich glaube fast, Jonathan möchte deine Petra Eins sogar für immer behalten“, mutmaßte Tineke, als wir auf dem Rückweg waren. „Über die anderen Probleme müssen wir halt reden. Nach deinem Eskimo-Schneekuss-Geständnis kommt es mir vor, als müsste ich mein Verhältnis zu dir neu definieren.“
„Warum kann nicht alles bleiben, wie es ist?“
Tineke seufzte. „Wie es ist, ist es inzwischen sowieso nicht mehr. Wegen mir, wegen dir. Wegen allem. Und so wie es war, kann es eigentlich auch nicht mehr werden. Man kann die Tatsachen, von denen ich bisher nichts gewusst hatte, nicht ignorieren. Alles könnte aber in eine neue Qualität umschlagen. Schön bleiben, sogar noch schöner werden.“ Sie streichelte meinen Arm. „Lass uns eine Flasche Sekt und Pizza zum Aufbacken kaufen“, schlug sie vor. „Dann redet sich’s leichter.“
Ich zögerte. Mit der Backröhre des alten Elektroherdes war nicht mehr viel los. Tineke ließ sich nicht beirren. Sie holte die Pizza, den Sekt und ein paar Lebensmittel aus dem Supermarkt, und nachher schaffte sie es, die Backröhre anzuheizen. Wir saßen und aßen schweigend, und als wir das erste Glas Sekt tranken, fragte sie, warum ich ihr nicht gleich gesagt hätte, dass ich möglicherweise steinreich sei.
Ich erwiderte, die Betonung liege in der Tat auf möglicherweise. Klar, Edward Erster würde mir beim Wink mit dem kleinen Finger mindestens sein halbes Vermögen überschreiben. Ich wollte mir jedoch selbst was schaffen. Geschenktes Geld machte unfrei und abhängig. „Kannst du das nicht verstehen?“
Ja, sie verstand es, und sie fand es beeindruckend. Sie rückte ein Stück an mich heran. „Diese gewollte Armut“, sagte sie, „das ist die eine Seite. Du nimmst alles in Kauf, um dich zu verwirklichen.“ Sie überlegte und sie sagte dann auch: „Aber wenn ich mich mal wegdenke aus deinem Leben, und das mit der Schreiberei geht gegen den Baum, würdest du dann lieber verwahrlosen und irgendwann verhungern oder zu deinem Onkel zurückkriechen?“ Ich ging nicht auf die Frage ein. Ich erzählte ihr von dem dritten Weg. Die Firma. Dass ich, während sie den Brief vom Klinikum aus ihrer Wohnung geholt hatte, noch mal bei Frau Stine-Pohl gewesen sei. Es bedurfte noch einer Unterschrift, dann wäre mein Arbeitsverhältnis reaktiviert. In nicht mal acht Wochen würde ich mein neues Büro beziehen.
Tineke begriff. Sie sah nachdenklich aus. Auch enttäuscht? Ich erzählte ihr zunächst stockend, wie es gelaufen war, von dem Brief, den ich vorhin im Kasten gefunden hatte. Ich erzählte von Frau Stine-Pohl, von dem letzten Gespräch. Ich erzählte von dem Manuskript, das ich der Dame gegeben hatte. Aus Feigheit hatte ich mich nicht gegen ihre Forderung gewehrt. Ich erzählte, wie sich Frau Stine-Pohl zu dem Manuskript geäußert hatte. Ein Verriss für einen dummen, aber einsichtsbereiten Stümper. Ich brachte es nicht mal fertig, dieses ehrverletzende Wort für mich zu behalten. Und ich erzählte von meiner Absicht, mein Arbeitsverhältnis komplett aufzulösen und als Schriftsteller und Oma-Betreuer an die Küste zu gehen. In ein kleines, romantisches Küstenhaus, an dem mich dann an jedem Wochenende die schönste junge Frau Europas besuchen würde. Sie sah mich mitleidig an. Und liebevoll. Sie streichelte meine Hand. „Wie gemein von der alten Kuh. Aber es sind Erfahrungen für dich, Erasmus, sie machen dein Leben authentisch.“ Sie küsste mich. Sie sagte: „Für mich ist alles, was dich betrifft – nein, nicht alles, aber ganz vieles – wieder transparent. Da bin ich richtig froh drüber. Trotzdem sollte man von einer Managerin kein prosaisch gefärbtes Urteil erwarten. Man sollte solchen Leuten erst gar keine literarischen Texte zu lesen geben. Bei denen zählt nur Sachlichkeit. Sie denken in anderen Kategorien. Hauptsächlich in Zahlen. Und, ich kann’s ja nicht beweisen, es klingt, als hätte es die Dame früher selbst mal mit dem Schreiben versucht. Vermutlich ist sie damit kläglich gescheitert.“ Tineke streichelte wieder meine Hand. „Versuch halt einfach, dieses Gespräch auszuklammern bei deiner Zukunftsentscheidung. Aber entscheiden wirst du dich müssen.“ 

Tineke hatte Recht. Natürlich. Entscheiden. Das hieß: Buch fertig schreiben und mit Hilfe dieser Helene und ein bisschen mit dem von Edward Erster gewährten Rückenwind veröffentlichen. Letzteres hieß somit, doch zu Kreuze kriechen, in­dem ich einen Bruchteil seines riesigen Vermögens in An­spruch nahm.
Also keine berufliche Karriere. Absage an Frau Stine-Pohl.
Absage auch an Berlin, an die Hinterhofwohnung? Es hing von Tineke ab, wie die Entscheidung ausfiel.
Erst noch mehr Sekt.
Wir tranken wieder und sahen uns in die Augen. Ich fragte: „Und wenn ich den Gedankenzug ernst gemeint habe, mich um die Henriette zu kümmern? Als Schriftsteller kann man überall arbeiten. Auch in einem alten Haus an der Küste.“
Tineke blieb kühl, nüchtern. „Weiß nicht. Jedenfalls halte ich nichts davon, dass du das eine mit dem anderen in Verbindung bringst. Deine Arbeitsstelle aufzugeben und die Betreuung meiner Großmutter zu übernehmen. Um mir einen Gefallen tun. Das könnte uns beide auf Dauer belasten. Womöglich wirst du damit in die Arme deines Onkels getrieben. Wo du bisher so tapfer um deine Unabhängigkeit und deinen eigenen Weg gekämpft hast.“
Wir tranken wieder und recht unverhofft fragte sie: „Liebst du mich?“
Ich lächelte, und ich nickte. „Sehr.“ Und sie erwiderte: „Ich dich auch.“ Dabei war ihre Stimme warm geworden. „Wenn es nicht so wäre, wäre ich niemals mit in diese Bruchbude von Wohnung gekommen. Und zu meiner Henriette hätte ich dich auch nicht mitgenommen.“ 

Das war dann der neue Tag. Noch ganz früh. Noch vor Sonnenaufgang. Tineke hatte bei mir geschlafen, ohne Murren und ohne Klagen; und mit mir, auf der ächzenden Couch. Zum ersten Mal in meiner Hinterhofwohnung, in dieser Bruchbude. Wir fuhren im Silverhawk auf der Autobahn. Sie lehnte mit dem Kopf an meiner Schulter. Im Radio quasselte jemand über Politik, Wirtschaft und Soziales. „Es geht den Menschen immer schlechter. Die Armut hat sich im Land regelrecht ausgebreitet.“
Blablabla. Ich schaltete ab. Ich dachte, wenn man alle, die sich nicht dieses und jenes leisten können, als arm bezeichnet, wie wäre es demnach mit mir? Superarm, heruntergekommen, verwahrlost? Ich hatte ja nicht mal mehr meine Plattensammlung. Oder? Ich hatte sie doch. Wieder. Und nicht nur die Plattensammlung. Glück hatte ich, Liebe. Tineke. War ich arm? Reich.
Ich hatte in der Nacht endgültig den Entschluss gefasst, auf meinen Job zu verzichten. Ich würde in das Küstenhaus ziehen. Zu Tinekes Großmutter. Dort das Buch fertigstellen, neue Bücher schreiben. Und ich würde der Henriette helfen, wenn sie Hilfe brauchte. Vor allem: einfach da sein. Das Häuschen wollte ich in Ordnung bringen, den Garten. Die obere Etage. Eine Wohnung für Feriengäste. Oder für feste Mieter. Auf jeden Fall: Mieteinnahmen, Nebeneinkünfte, nicht ganz so arm sein wie bisher.
Nachher wollte ich Tineke meinen Entschluss mitteilen. Erklären wollte ich ihr ihn. Dass er hauptsächlich mit mir zu tun hatte. Mit meinem Ziel, Schriftsteller zu werden. Mit ihr natürlich auch. Sogar mit der Henriette. Und mit Frau Stine-Pohl. Mit ihrer Einschätzung. Ein Stümper. Ich war kein Stümper. Ich wollte Tineke sagen: „Es hat auch mit den Tagen zu tun, die wir gemeinsam dort verbracht haben. Diese schönen Tage. Mit dir. An der Küste.“
Ich sang wieder leise unseren Schlager. Butterfly, red, white and blue – you love flowers, I love you. Tineke stimmte ein. Sie hakte sich in meinen Arm und kam näher an mich heran. Wir sangen. Ein morgendliches Duett. Immer diese beiden Zeilen. Und weiter. Bis sie schlief.
Sie wachte erst wieder auf, als ich an einer Baustelle langsamer fahren und den Schalthebel betätigen musste. Einige Sekunden lehnte, lag sie noch an mir. Dann richtete sie sich auf und rekelte sich. Die Autobahn führte über eine kleine Anhöhe, weit breiteten sich unter dem Morgendunst Felder und Wiesen dahin. Dazwischen Baumgruppen, ein paar Anwesen, ein paar Weiher. Bis zum Horizont. Die ersten Sonnenstrahlen fluteten gelbrot in den frühen Tag. Ihre Spitzen sammelten sich direkt auf Tinekes Gesicht. Wie das leuchtete, strahlte. Sie sah mich an, lachte. Sie fragte: „Hast du diesen Morgen so wunderbar arrangiert? Die Sonne? Ersters erste Sonnenstrahlen?“
Natürlich hatte ich. Sie kippte die Sitzlehne ein kleines Stück zurück und schloss wieder die Augen. Sie sang leise. Red, white and blueI love you.
Nach einer Stunde verließen wir die Autobahn. Wir fuhren auf der Landstraße. Entlang eines grünbraunen Waldsaumes. Wir hielten auf einer Lichtung. Wir hatten ein paar Brote und Kaffee mitgenommen. Tineke hatte das vorbereitet. Unser Frühstück in der Natur. Mit Vogelgezwitscher und einem wütend hackenden Spechtschnabel an der riesigen Tanne. War das nun perfekte Romantik? „Ein Reh fehlt noch“, sagte Tineke. „Es müsste scheu auf die Lichtung treten und uns in einer wunderbaren Sprache viel Glück wünschen.“ Sie umarmte mich. „Es ist aber auch ohne dieses Reh der schönste Morgen meines Lebens.“
Nachher setzte unverhofft die Geräuschkulisse einer morgendlichen Treibjagd ein. Piffpaff, der Hall der Schüsse machte Angst, und er kam schnell näher. Wir flüchteten. „Es ist überhaupt nicht angebracht, am schönsten Morgen seines Lebens an den Gebrauch von Schusswaffen erinnert zu werden, geschweige denn eine Kugel abzubekommen“, orakelte Tineke. „Es könnte nichts Gutes verheißen.“ 

Folge 12 vom 11. April 2020  

Auf der Autobahn hatten wir den grellrotgelben Sonnenball zu unserer Seite. Ich hielt den Augenblick für angebracht, ihr meine Entscheidung mitzuteilen: Henriette, Küste, Ferienwohnung, Ersters erstes Buch. Und spezielle Facharztstelle in der Chirurgischen Zentral Klinik des Großklinikums, Professor Kurz, genannt Kurz-Franzl. Zusammenleben heftig erwünscht. Wenn auch zunächst nur an den Wochenenden.
Tineke hörte zu, ihre Miene war undurchdringlich und angespannt. Sie schwieg ganz lange, nachdem ich fertig geredet hatte. Endlich antwortete sie: „Ich hab auch drüber nachgedacht. Natürlich. Was du gestern gesagt hast, hat mich nicht kalt gelassen. Im Gegenteil. Es hat mich so total glücklich gemacht. Und jetzt, wo du noch mal nachgedacht und drüber geschlafen hast, bin ich auch bereit, über dein Angebot zu reden. Über die praktischen Seiten.“ Sie fasste nach meiner Hand und sagte: „Aber nicht in dieser Stunde, wo alles so unglaublich schön ist, so wie in einem kitschigen Film.“
In der Tat sah sie so sehr glücklich aus, entspannt. Sie lächelte. „Jetzt bin ich erst mal auf deinen Onkel gespannt. Den Ex-Eskimo. Und auf diese Helene.“ Ich grinste ein bisschen. „Wenn das mal nicht mehr ist als nur eine Kaffeebekanntschaft.“ Ich machte ein paar Andeutungen zu Edward Ersters Einstellung gegenüber Frauen. Zu seinem illustren Vorleben. Zu seinen jetzigen unveränderten Ambitionen.
Tineke fand es nicht schlimm. „Wenn er sich diesmal eine Freundin gesucht hat, die im Verlagswesen arbeitet, ist es doch in Ordnung. Du kannst dein erstes Buch veröffentlichen, ohne deinem Onkel direkt verpflichtet zu sein. Er hat den Anstoß gegeben, na gut. Vielleicht noch diese Summe. Niedrig vierstellig. Aber es ist und bleibt dein Buch, das Ziel deines ganz individuellen Weges.“ Sie schloss die Augen. Sie schwieg. Dann sagte sie: „Ich bin dir dankbar, dass du mich erst mal in diesen Teil deiner Familiengeschichte eingeweiht hast. In den Schokoladen-Teil. Ich kann mir dich nun besser erklären. Deine Abgrenzungen, deinen Idealismus. Deine Eigenbrötlerei. Egal wenn es mir andererseits regelrecht unreal vorkommt und ich ja auch mal nach deinen Eltern fragen müsste. Aber wer weiß, was dann dabei herauskommt. Also warte ich lieber.“
Zum Glück, sie wartet, schoss es mir durch den Kopf. Ich hätte in diesem Augenblick nicht gewusst, wie ich ihr das hätte beibringen sollen: meine Eltern. Nein, es wäre nicht gegangen. Es hätte mit dem Termin an Brücke sieben zu tun gehabt. Ich hatte Redeverbot.
Autobahnbrücke sieben, Abschnitt 52, Fernreisebahnhof. Plötzlich musste ich wieder daran denken. Noch zwei Wochen? Vierzehn Tage. Oder hatte ich mich verzählt?  

Wir passierten die Grenze. Rein ins Schweizlein.
„Es sieht eigentlich kein bisschen anders aus als bei uns“, stellte Tineke fest. Wir befanden uns schon ein Stück im Land.
„Es ist ja auch nicht anders als bei uns“, antwortete ich. „Die Menschen, die Lebensverhältnisse. Alle sind freundlich und hilfsbereit. Und aufgeschlossen. Nur die Art zu sprechen ist anders. Schwyzerdütsch. Und die Berge sind etwas höher als unsere. Die Preise auch.“ Ich machte eine bedeutungsvolle Pause. „Ist aber kein Problem, das Geld. Für uns. Wir sind von meinem Onkel eingeladen. Er bezahlt das Hotel und was Schönes zu essen. Und ich habe nicht mal ein schlechtes Gewissen, wenn ich das annehme.“
Tineke nickte. „Du bist nun mal sein einziger Angehöriger.“ Ich schwieg, so dass sie zögernd fragte: „Oder habe ich das falsch verstanden?“
Ich schüttelte den Kopf.
Tineke kniff die Augen zusammen. Ihre Lippen bewegten sich tonlos, und sie sagte nach einigen Sekunden: „Na gut, ich habe beschlossen, dich vorerst nicht nach den restlichen Familienmitgliedern zu fragen. Daran will ich mich auch halten. Meine Gedanken kann ich deswegen aber nicht unterdrücken. Dein Onkel heißt also Erster. So wie du. Folglich muss er der Bruder deines Vaters sein.“ Sie sah mich nachdenklich an. „Ich glaube, wenn dein Vater nicht mehr am Leben wäre, hättest du mir das gesagt. Es muss folglich einen Konflikt gegeben haben oder geben. Zwischen beiden Brüdern. Oder zwischen dir und deinem Vater. Ist es das, was dir zu schaffen und dich sprachlos macht?“
Ich erschrak, ich zuckte zusammen. Ich machte auch, wie man so sagt, dicht, ich schloss kurz die Augen. Fast verlor ich die Kontrolle über das Auto. Tineke erschrak ebenfalls. „Achtung!“, rief sie. „Du fährst zu weit links. Merkst du das nicht?“ Sie war aufgeregt. Doch es bestand keine wirkliche Gefahr. Ich korrigierte den Kurs sofort. Sie beruhigte sich also wieder. Sie entschuldigte sich. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht aufregen. Ich hab dich mit der Fragerei zu sehr durcheinander gebracht. Mit meinen Spekulationen.“ „Du solltest Krimis schreiben. So wie du durch die Gegend kombinierst. Schwyzer-Krimis, die gibt’s noch nicht. Die Leser werden von deinem logisch funktionierenden Denkvermögen gefesselt sein.“ Sie dehnte ihren Sicherheitsgurt aus und beugte sich zu mir. Sie küsste meine Wange. „Es reicht, wenn einer von uns beiden schreibt. Du. Einen Sizilien-Krimi. Da nehme ich hinreichend Anteil. Ich kombiniere und denke logisch mit. Und nach deinen Familienverhältnissen, wie außergewöhnlich sie auch sein mögen, werde ich nicht mehr fragen, solange du nicht selbst anfängst, mir alles aufzudecken. Nicht mal, wenn dein Ex-Eskimo-Onkel in meinem Beisein über seinen Bruder reden sollte.“
Nein, damit war nicht zu rechnen. Über seinen Bruder redete Edward Erster nur bei bestimmten Anlässen. Und das dann auch nur mit rhetorischem Sicherheitsabstand. Ein couragierter, lebensgefeiter Jungsenior wie er. Er scheute davor zurück. „Hast du mal wieder Gelegenheit, ihn zu sehen?“ Er sagte ihn, wenn er nach den unmittelbaren Kontakten zu Ernesto fragte. Meistens jedenfalls. Er war mitunter einfach nicht in der Lage, den Namen oder das Verwandtschaftsverhältnis auszusprechen. „Meinen Bruder. Deinen Vater.“ Soviel Respekt steckte zuweilen in ihm. Oder Abwehr, Verachtung, Gekränktheit?
Dabei hatte er eine exemplarische Antenne für alles, was mit meinem Vater zusammenhing. Wie entfernt es auch vom Thema sein mochte.
Was würde ich also antworten, wenn er zu ahnen, zu fragen, zu bohren begann, dass eine Begegnung bevorstand? Nichts, ich musste schweigen. Jeder Hinweis, jedes kleine Wort war mir verboten. Verstieß ich dennoch gegen die Geheimhaltungsvorschrift, und sie kamen dahinter, und das würde zu hundert Pro der Fall sein, würde der Termin platzen. Sie würden mich nicht mal über die Absage informieren. Sie würden mich dort stehen lassen, an Brücke sieben. Vielleicht schon am Fernreisebahnhof. Bis ich mein Fehlverhalten begriffen hatte, bis ich aufgab. 

Ich hatte direkt ein bisschen Herzklopfen, als ich vor dem noblen Hotel vorfuhr. Diese gediegen gestaltete Auffahrt, an deren Fassung sich große Palmentöpfe befanden. Schwarze Autos parkten in einigen Nischen, monumentale getönte Türscheiben öffneten und schlossen sich, sobald sich jemand näherte. Und natürlich: jede Menge Bedienstete. Zwei von ihnen, in dunkelgrünen Uniformen, die mit goldenen Borten betresst waren, stürzten noch vor dem endgültigen Stillstand des schillernden Hawks auf die Türgriffe zu. Was für ein Wagen, deutlich herausragend selbst aus der Palette aller hier verkehrenden Luxuskarossen. Und: Was für ein reicher Ankömmling mochte sich hinter der getönten Scheibe verbergen? Ein sehr reicher. Aussicht auf fettes Trinkgeld.
Bei Tineke war es nicht nur Herzklopfen, das ihre Reaktion bestimmte. „Auweia“, flüsterte sie eingeschüchtert. „Was ist das denn? Wir sind doch keine Millionäre.“ Sie presste sich in den Sitz. „Kannst du hier nicht rasch wieder wegfahren?“
Zu spät. Die Türen wurden aufgerissen. Wir wurden beim Aussteigen von je einem der uniformierten Diener eskortiert. Ein dritter Uniformierter machte sich am Griff der Heckklappe zu schaffen. Wohl wegen des Gepäcks, das er schleppen wollte. Ich unterband das. Ich schüttelte energisch den Kopf. „Gepäck ist nicht.“ Ein Satz, der hier eher Seltenheitswert zu haben schien. Ich erntete verwunderte, auch enttäuschte Blicke. Ich ging besser in die Offensive. Selbstbewusst, abgeklärt. Einziger Verwandter eines äußerst einflussreichen, reichen Mannes. „Den Wagen bitte nur vorübergehend parken. Ich muss erst Doktor Erster sprechen. Würden Sie ihn bitte informieren lassen. Sein Neffe ist eingetroffen. Es ist dringend.“ Ich zog zwei Zehner heraus. Die steckte ich den beiden nächst stehenden Dienern zu. Tinekes Augen wurden riesig groß. Noch größer, als sie sonst waren. Immerhin, das Trinkgeld half. Einer der Uniformierten sauste los wie ein Blitz, ein anderer stieg hinter das Steuer, um den Hawk fortzuschaffen, in die Parklandschaft, und der dritte stellte sich bei strahlender Miene vor den Sensor der Tür, damit diese weit offen blieb. Danach geleitete er uns, während er geübt flüssig, wenn auch sehr allgemein über das Wetter in der Region plauderte, an die Rezeption. Wir standen dort, und er erklärte einer Mitarbeiterin, weshalb wir gekommen seien. Die Mitarbeiterin griff zum Telefon und redete mit jemandem.
„Donnerwetter“, raunte mir Tineke zu. „Wie du mit denen klarkommst, das hat Stil.“ Sie sah immer noch eingeschüchtert, dennoch erleichtert aus. „Du wirkst hier ganz anders als in deiner Hinterhofbude.“
Ich war stolz, ließ es mir jedoch nicht anmerken. Ich sagte: „Die kochen alle nur mit Wasser. Und diese Pagen und Diener sind ja nur arme Schlucker, die im Leben nicht weit kommen werden. Je mehr Trinkgeld sie kriegen, umso mehr katzbuckeln sie vor dir.“ „Schrecklich“, schimpfte sie leise. Sie hielt sich an meinem Arm fest. „Ich fühle mich hier nicht wohl.“
Und ich? Fühlte ich mich denn wohl? Die Frage war unbedeutend. Ich musste auf Edward Erster warten. Mit Tineke.
Die Dame von der Rezeption kam. Sie trug ein schwarzes Kostüm, aus dem am Halsausschnitt der Kragen einer weißen Bluse ragte. Auf einem goldfarbenen Namensschild, das sie unterhalb des linken Revers angesteckt hatte, las ich in schwarzer Schrift Lydia Krause-Kegel. „Herr Erster, guten Tag.“ Das war an mich gerichtet. Und zu Tineke: „Guten Tag, gnädige Frau.“ Und zu uns beiden: „Herr Doktor Erster ist über Ihre Ankunft informiert. Er kann den Kongress derzeit nicht verlassen. Er wird aber erscheinen, sobald es ihm möglich ist. Die Sekretärin bittet Sie daher, auf der Club-Terrasse zu warten.“ Sie blickte in die Weite der Halle und befahl durch eine fast unmerkliche Geste einen weiteren Pagen herbei, der uns an den besagten Platz führen sollte. 

Folge 13 vom 12. April 2020  

Die Club-Terrasse war besonderen Gästen vorbehalten. Sie war in Private Rooms aufgeteilt. Separees. Wir saßen in futuristisch geformten Rohrsesseln und blickten auf ferne und nahe Berggipfel, zwischen denen sich kitschig pittoresk-schöne Täler und der unverwüstliche See mit seinem nicht ganz wirklichen Blau und den aus dieser Ferne klein und makellos weiß anmutenden Luxusyachten entlang zogen. Bei einem Cocktail, bei einem riesigen Gefäß voller Capuccino. Und bei einem erlesenen Imbiss. Häppchen mit Fischgeschmack, bestrichen mit fremdartigen Cremes, umlagert von feinem Gebäck. Niemand sah und hörte uns. Hier war der Platz, an dem sich nur reiche Leute aufhielten. Außer uns.
Tineke entspannte sich. „Wenn einem keiner seine Gesellschaft und vor allem seine Dienste aufdrängt, ist es in diesem Luxus-Klotz vielleicht doch nicht so übel.“ Sie schränkte jedoch gleich ein: „Ob ich es hier sehr lange aushalten werde, weiß ich aber nicht.“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. „Ich hab schon dauernd überlegt, ob in meinem Leben jemals jemand gnädige Frau zu mir gesagt hat.“
„Und? Hat jemand?“
Sie schüttelte den Kopf. Sie lächelte. „Die Antwort lautet nein. An der Küste sind die Menschen nicht so charmant. Und beim Studium oder im Klinikum herrscht ein anderer Umgangston, da ist man ehrlich zueinander.“ Sie gähnte erneut. Jetzt heftig, und das, was sie gleich darauf sagte, klang recht schläfrig. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ewig so angeredet werden will. Es ist zu förmlich. Auch das Drumherum. Trinkgeld in schwindelnder Höhe. Autotür aufmachen. Bei jedem Schritt eine Eskorte.“ Sie brach ab, dann fragte sie mit leiser Stimme: „Du, Erasmus? Stört’s dich, wenn ich kurz die Augen zumache. Bin irgendwie müde.“
Schon schlief sie, und es störte mich nicht. 

Edward Erster kam angestürmt wie ein Vierzigjähriger. Seine Beweglichkeit war in der Tat beeindruckend. Und sein Aussehen, seine Ausstrahlung. Er hatte ein glattes, braungebranntes Gesicht, eine schlanke Figur und er wirkte entschlossen und schneidig. Die Wellness-Tage, die er sich gegönnt hatte, waren seinem Äußeren durchaus zuträglich gewesen. Lediglich die Geheimratsecken schienen an Tiefe und Auffälligkeit zugenommen zu haben. Kündigte sich nicht doch endlich eine Glatze bei ihm an? Ich dachte an einen seiner Grundsätze: „Das Letzte, was ich mir antun würde, wären falsche Zähne und künstliche Haare. Und schon gar nicht würde ich mich liften oder mir Fett absaugen lassen.“
Er war sichtlich in Eile. „Ich bin nur mal kurz raus aus der Tagung. Wir sitzen seit Stunden im erweiterten Vorstand. Es ist einfach nicht möglich, eine reguläre Pause hinzukriegen. Und ich muss auch gleich wieder hoch, ansonsten fliegen da die Fetzen.“ Trotz der Eile ließ er es sich nicht nehmen, Tineke gründlich zu mustern. Sichtlich mit Zustimmung, mit Sympathie. Mit einem Zwinkern in meine Richtung. Ich sagte notgedrungen: „Das ist meine Freundin. Sie hat die Plattensammlung bekommen, dadurch habe ich sie kennen gelernt. Und sie mich.“
Er staunte. Er wurde milde. „Na, wenn es so ist, wenn die Platten in so charmante Hände gewandert sind, nehme ich die Kritik an dem Verkauf zurück. Dann war es den Verlust gewiss wert.“ „Ich habe die Platten nicht verloren“, widersprach ich. „Es war auch kein Verkauf, nicht mal ein richtiges Pfandgeschäft zwischen Tineke und mir.“ „Tineke.“ Edward Erster sah mich, danach Tineke anerkennend an. „Was für ein Name. Ganz ungewöhnlich. Ganz anders als diese ewigen Nadines und Nicoles und wie sie alle heißen.“
„Ich wollte Erasmus zunächst mal aus der Patsche helfen. Es war irgendwie nicht zu ertragen, wie er dahinvegetierte.“ Tinekes Erklärung klang ein bisschen schüchtern. Umso wohlwollender wurde sie von Edward aufgenommen. „Ich habe das seit gut einem halben Jahr versucht, meine Liebe. Ihn aus dem Eremitendasein herauszulocken. Ohne jeden Erfolg. Er wollte von mir keine Unterstützung. Nicht für seinen Unterhalt und nicht für die Buchveröffentlichung. Die nächste Station wäre gewesen, dass er betteln geht.“ Edward Erster verdrehte voller Unverständnis die Augen. „Hauptsache nichts vom etwas wohlhabenderen Onkel annehmen.“
Buchveröffentlichung war das Stichwort für mich. Ich wollte ihn fragen. Nach Helene, nach dem Verlag und vielleicht sogar nach seiner Finanzspritze. Vierstellig, niedriger Bereich. Da sagte er es schon von selbst, und er blockte per Geste und Miene jede weitere Frage und Erklärung ab. „Helene ist inzwischen abgereist. Es gab Verwicklungen. Aber bitte denke jetzt nichts Falsches. Es war sowieso eine eher flüchtige Bekanntschaft. Immerhin befasst sie sich mit deinem Manuskript. Sie hat es mitgenommen. Sie hatte ja vor der Abreise schon einen Teil gelesen. Das Thema Buch ist also nicht vom Tisch. Wir reden später darüber.“ Er sah auf die Uhr. „O je. Ich muss jetzt.“ Er sagte: „Ich habe eine frühere Angestellte angewiesen, eure Unterbringung und das Drumherum zu regeln. Sie ist bereits damit zugange.“ Er atmete tief durch. Er sah auf die Tür. „Wir sehen uns wahrscheinlich morgen erst.“ 

„Puh“, machte Tineke. „Ich bin ziemlich hin und her gerissen, wenn ich dran denke, dass du seine Erbanlagen haben könntest. Das eine gefällt mir, dieses Flotte, das Lebhafte, sein jugendlicher Touch; das andere lässt mich vorsichtig sein. Dieses Großspurige, diese Hektik. Seine Dominanz.“ Sie sah verwirrt, fast aufgeregt aus. „Er kommt mir so unbesiegbar vor.“
Erst als wir in der Club-Cafeteria saßen, glätteten sich ihre Gedanken und Gefühle. Sie sagte: „Ich habe womöglich zu schnell über deinen Onkel geurteilt. Wenn man bedenkt, was er im Leben und im Beruf geleistet hat, was er immer noch leistet. Da bewertet man aus meiner Perspektive schnell mal jemanden falsch. Ich bin auch, muss ich eingestehen, von allem, was wir hier erleben, regelrecht überrollt worden.“
Ich nickte zerstreut. Ich dachte an Helene, meine Verlags-Hoffnung. Hatte er sie einfach so abserviert? Weil sie ihm nicht gut genug oder weil er ihrer überdrüssig gewesen war? Ärger baute sich in mir auf. Edward Erster, du Egoist, dachte ich, brichst Frauenherzen und lässt deinen Neffen nicht seinen Weg gehen. Nur Geld willst du ihm in den Rachen stopfen. Ich empfand es kurzzeitig als Genugtuung, dass sein Hamster durch meine Unachtsamkeit in den ewigen Hamsterjagdgründen gelandet war. Nein, doch nicht. Wie albern. Edward Erster meinte es ja gut. Mit mir. Immer. Auf seine Kapitalisten-Art. Das verstand unsereins nicht. Und er verstand andersherum mich nicht. Wir redeten und handelten also aneinander vorbei. Tineke hatte es ja gerade erkannt: Er und sie und ich hatten andere Perspektiven. Und Peterchen Eins hatte mit diesen komplex kompletten Missverständnissen nichts zu tun gehabt. Der Hamster tat mir nun leid. Weil er tot war und weil dem guten Edward Erster an dem armen Tier gar nichts gelegen hatte. Eine zu früh verstorbene Vollwaise.
Tineke sah jetzt zufrieden aus, entspannt. „Ich bin trotz allem froh, dass ich ihn nun kenne, deinen Ex-Eskimo-Onkel, den gewaltigen Edward Erster. Du und er, ihr seid gewiss nicht so verschieden wie du denkst. Es gibt allerlei Ähnlichkeiten, bestimmt sogar Parallelen.“ Sie nickte ermunternd. „Und für dein Buch, Erasmus, sehe ich jetzt kein bisschen schwarz. Für eine Veröffentlichung. Diese Helene wird sich alsbald wieder melden. Wenn nicht bei deinem Onkel, dann bei dir. Ich bin ganz sicher. Und falls sie es wider Erwarten nicht tut, wird es auch ohne sie mit der Veröffentlichung klappen. Glaub mal, Verlage, die Bücher gegen Autorenfinanzierung veröffentlichen, gibt’s mehr als genug.“
Ich bedankte mich für ihren Zuspruch. Ich dachte, sie hat Recht. Irgendwie wird’s gehen.
Ich bestellte Sekt, wir ließen die Gläser gegeneinander klingen. Wir vergaßen all die Förmlichkeiten unserer vornehmen Umgebung. 

Nach einer Stunde verließen wir das Hotel. Die frühere Angestellte, die uns von Edward Erster angekündigt worden war, war sichtlich aktiv geworden. Gründlich und aufmerksam. Sie hatte einen perfekten Job gemacht. Sie wirkte perfekt. Unalt und unjung, unauffällig und unübersehbar, abgeklärt und dennoch verbindlich. Wir durften, sollten, mussten umziehen. Das stand schon mal fest. Wir wollten es ja auch. Das heißt, da wir in den hiesigen Nobelkasten nicht eingezogen waren, zogen wir nicht um, wir verließen nur das Hotel.
Tineke nahm es mit Ruhe, dennoch nicht ohne Bange. „Handelt es sich um ein Hotel wie dieses, in das wir ziehen?“ Ihre Frage klang ein bisschen naiv. Edward Ersters frühere Angestellte wusste nicht so recht darauf zu antworten. „Herr Doktor Erster wählt für sich und seine Angehörigen nur die besten Unterkünfte aus.“ Sie hätte hinzufügen können, dass das selbstverständlich sei. Sie tat es nicht. Ich gab Tinekes Frage daher eine andere Richtung. „Ob es sich um ein ähnlich großes Haus handelt, wüssten wir gern. Uns wäre ein kleineres lieber.“ Sie schaute mich ernst an. „Ja, es ist kleiner. Es ist das Golden Mountain Castle. Es liegt ein Stück weiter in den Bergen. Also höher. Es ist sehr romantisch und zugleich gediegen. Wenn Sie die Anzahl der Appartements und Zimmer erfahren möchten, werde ich dort selbstverständlich anfragen oder im Internet nachschauen.“
Nein! Keine Umstände. Wir würden es innerhalb kurzer Zeit selbst sehen.
Ich folgte, wir folgten. Tineke neben mir. Zunächst zur Rezeption, schließlich zur Auffahrt des Hotels. Die Glastüren, die Palmentöpfe. Und unser Silverhawk. „Es ist alles bereit, der Wagen wartet auf Sie.“ Edward Ersters frühere Angestellte betonte die Ansage so, auf dass diese als Abschiedsformel zu werten war.
Tineke atmete erleichtert auf. Endlich weg. Endlich allein. Sie und ich. Nein, eine Anmerkung sollten wir noch erfahren. „Herr Doktor Erster hat alle Kosten beglichen. Hier und im Golden Mountain Castle Hotel. Das betrifft auch das Trinkgeld.“ Ich lächelte vor mich hin. Da standen wir bereits vor unserem Hawk. Die Uniformierten hielten die Türen fest. Ich nickte unverbindlich, ohne jemanden anzusehen. Wir stiegen ein und fuhren los.  

Das Golden Mountain Castle Hotel war nicht weit entfernt. Eine knappe Stunde, die wir brauchten. Sicherlich wäre der Weg in noch kürzerer Zeit zu schaffen gewesen. Doch wir ließen es entspannt angehen. Mit Blick in die Landschaft. Und mit der Frage, ob wir nicht besser heimfuhren. Zurück in unsere gewohnte Umgebung. Die Hauptstadt. Oder die Küste. Nein, nicht heim. Tineke war entschlossen zu bleiben. „Ich glaube, ich fühle mich schon sicherer in dieser Welt der Reichen und der Reichtümer. Es ist auch eine Herausforderung, sich zu behaupten. Für mich. Du hast offenbar Erfahrung.“
Ihre Feststellung glich eher einer Frage. Oder einem Test. Sah sie in mir nicht doch noch den verwöhnten Kapitalisten-Neffen, der sich auf der Suche nach Selbsterfahrungen vom Geldpolster seines Gönners nicht wirklich entfernt hatte? Nur mal raus für ein paar Monate aus der Sattheit, mal so richtig auf Armut machen, trotzdem immer das Ende des Tunnels mit dem rettenden Licht der schillernden Goldbarren und dicken Aktienpakete des Onkels in Sicht. Alles nur gespielt. Alles nur um des Rufes und einer scheinbar authentischen Vita willen. Vom bettelarmen Hinterhofschreiber zum hoch gepuschten Erfolgsautor. „Ich habe immer versucht, diesen Erfahrungen aus dem Weg zu gehen. Dass ich denn doch hin und wieder mit der Welt meines Onkels in Berührung kam, ließ sich nicht vermeiden.“ Ich hob erklärend die Hände vom Lenkrad. „Es ist tatsächlich nicht das erste Mal, dass ich ihn in einem noblen Hotelkasten aufsuche.“
„Pass auf!“, rief Tineke. Sie deutete auf meine Hände. „Du kommst ja von der Fahrbahn ab!“
Ich setzte die Hände wieder zurück. Wir fuhren ein Stück schweigend, und ich dachte, das Thema Reicher, sich jedoch arm stellender Neffe sei abgeschlossen. Nein, sie fragte prompt: „Und bei deiner Arbeit, haben sie dort gewusst, mit wem du verwandt bist und wen du mal beerben könntest?“
Ich schüttelte den Kopf. „Hab’s keinem erzählt und mich bei Anspielungen, wenn etwa in meinem Beisein die Eskimo-Schnee-Küsse herumgereicht und sie bei offenkundigen Anspielungen mit meinem Namen in Verbindung gebracht wurden, dumm gestellt. Hab entweder die Klappe gehalten oder gemault, ob die Kollegen glaubten, ich würde für sie den popligen Leiter-Stellvertreter spielen, wenn ich mit dem berühmten Edward Erster verwandt wäre.“
Tineke nickte. „Das hast du gut gemacht, Erasmus Erster. Ich bin stolz auf dich.“  

Folge 14 vom 13. April. 2020  

Das Golden Mountain Castle Hotel war kleiner, es wirkte angenehmer. Ruhiger und weniger aufdringlich. Oder lag es an uns? Wir hatten uns jetzt. Wir allein, wir zwei. Ganz anders als vorher. Nicht mehr Hinterhofwohnung mit Hamster, nicht mehr Stadtwohnung mit latzschürzigem Mitbewohner, nicht mal mehr Küstenhaus mit Großmutter.
Wir kümmerten uns einfach nicht um das Drumherum. Hoteldiener, Parkplatzlandschaft, Trinkgelder. Wir waren wir. Nicht der Neffe des reichen Edward Erster und seine hübsche Freundin. Auch wenn wir es trotzdem waren. Im Ahnen und in den Blicken des Personals.
Wir ließen uns geduldig und wortlos auf das Zimmer geleiten, wir lächelten uns im Aufzug still an, wir unterdrückten jedwedes Staunen über die Ausstattung unserer Suite. Nobel, teuer, perfekt luxuriös. Balkonblick wieder auf den See, auf die Bergspitzen, in das Unwirklichkeitsbild der Täler. Wir fielen uns in die Arme, als wir allein gelassen waren und lösten uns wieder voneinander, weil es prompt klopfte. Die Tür. Ich öffnete, ein Angestellter höheren, sehr hohen Ranges, in zivil eleganter Kleidung erkundigte sich, ob alles zu unserer Zufriedenheit gerichtet sei. Seine verbindliche Begrüßung.
Ich lächelte großzügig, gönnerhaft. Aber sehr distanziert. So hatte ich das oft bei Edward Erster gesehen. So war ich in dieser Szene. Der Neffe des Dr. Erster. Nun doch.
Der Mann sagte, mit der Buchung dieser Suite sei auch ein Butler gebucht. „Ganz speziell. Nur für Sie.“
Wir staunten. Wir schwiegen.
Der Mann sagte weiter, dieser Butler warte bereits vor der Tür. Ob er hereinkommen und sich vorstellen dürfe.
Ich fasste mich allmählich. Ich dachte, ein Butler, wie lästig. Ich erwiderte daher: „Nein, wir brauchen insgesamt keinen Butler. Wenn wir etwas benötigen, informieren wir den Service. Das reicht für uns.“
Tineke nickte heftig. Zustimmend. Und erleichtert.
„Sie können sich auch gern direkt an mich wenden. Falls Sie sich doch anders entscheiden.“ Er gab mir seine Karte. Ich überflog flüchtig die zweite Zeile der Textkomposition. Ich stellte fest, dass er der Direktor des Hotels war.
Immerhin, Direktor. Wenn der sich schon persönlich um uns bemühte, war ein Butler vielleicht doch angemessen. Sollte ich also umentscheiden?
Tineke verhinderte es vehement. „Wir wollen ganz für uns sein. Endlich mal. Es ist ein besonderer Anlass, hier zu übernachten. Wir bereiten sein erstes Buch vor. Wir brauchen deshalb Ruhe.“
Der Direktor nickte, ohne ein Zeichen des Unmuts oder der Enttäuschung zu verraten. Auch nicht der Neugierde. Nur die linke Augenbraue hob sich ein wenig. Allerdings musste man sehr genau hinschauen, um das zu bemerken. Er trat drei Schritte zurück und verabschiedete sich mit den Wünschen für einen angenehmen Aufenthalt.
Tineke starrte auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte. Sie schüttelte den Kopf, immer noch staunend. „Was ich mit dir alles erlebe, Erasmus. Sogar einen Butler hätte ich kriegen können. Wie soll ich das denn meiner Henriette erklären? Oder Jonathan. Das glaubt doch keiner.“ Wir tranken den Champagner, den man uns hingestellt hatte. Wir wollten uns erneut umarmen. Da klingelte das Handy. Ich las jenes Kürzel auf dem Display: Dr. EE. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Edward Erster und fügte hinzu, er sei – auch jetzt, eigentlich wie immer – in Eile. Es konnte nicht anders sein. Egal, dass sie endlich eine von allen akzeptierte Pause hätten einlegen können. Auf sein unnachgiebiges Drängen hin. „Falls wir uns heute nicht sehen sollten, so wird es hoffentlich morgen.“ Er redete zwischendurch mit jemandem aus seiner Umgebung, wandte sich dann wieder dem Telefon zu. Vertraulich, fast flüsternd nun. „Diese Kleine, die du mitgebracht hast, Erasmus, die ist klasse. Sieh zu, dass sie dir nicht von der Fahne geht.“
Ich brummte Zustimmung und war zugleich empört. Alter Lüstling, dachte ich, dennoch lächelte ich Tineke zu, die hingegen mich fragend ansah.
„Dass du die Plattensammlung für sie aufs Spiel gesetzt hast, macht nichts. Unter diesen Umständen hätte ich nicht mal was gesagt, wenn sie uns abhanden gekommen wäre. Beziehungsweise dir.“ Wieder wurde im Hintergrund geredet. Und Edward Erster sagte zu jemandem: „Ich werde das ganz bestimmt nicht sein, der den Vorsitz übernimmt. In meinem Alter!“ Es klang energisch, empört. Und es konnte sich wahrlich nicht um einen harmlosen Antrag gehandelt haben, da er nun sein Alter vorschob, um sich einen ehrenvollen Posten abzuwimmeln. Seine letzte Waffe. Das Alter, das er seinen Äußerungen zufolge niemals spürte. Die Empörung hielt in seiner Stimme an, als er nun wieder in das Telefon sprach. „Stell dir vor, sie wollen mir den Posten des Vorsitzenden aufdrücken. Ich hab meine Firma verkauft, um freier zu sein, und nun kommen mir diese Leute so.“ Und er lachte wie über einen sehr schlechten Scherz, wobei es sogar ein solcher sein mochte. „Ich muss auflegen, Erasmus. Ich muss denen die Leviten lesen. Sonst passiert das Unglück tatsächlich. Grüß deine Kleine.“
„Halt!“, rief ich gerade noch. „Ich muss dich was fragen. Wenn ich jetzt nicht dazu komme, wird es womöglich niemals mehr.“ Ahnte er etwas? „Dann mach schnell.“
Ich hörte jemanden sagen: „Doktor Erster, die Sitzung geht weiter. Bitte. Ohne Sie können wir nicht anfangen.“
Ich ließ mich nicht beirren. „Was ist eigentlich mit dem Manuskript? Mit dieser Helene?“ Er zögerte keine Sekunde mit der Antwort. „Abgereist. Sie meldet sich aber. Hat sie gesagt. Hab ich von ihr verlangt. Wegen deines Manuskripts.“ Da ich schwieg, wurde er unruhig. Er zischte überscharf: „Du denkst doch wohl nicht, ich hätte mit ihr …? Also, ich bitte dich. Sie hatte mit ihrem Uraltauto eine Panne und stand total verzweifelt am Straßenrand. Das war während meines Wellness-Aufenthalts. Ich habe angehalten und den Hilfsdienst gerufen. Ihr Wagen wurde in eine Werkstatt gebracht. Weil sie keinen Anspruch auf einen kostenlosen Mietwagen hatte, habe ich sie mitgenommen und ihr später eine preiswerte Bleibe in der Nähe meines Hotels besorgt. Am nächsten Tag hat sie mich in der Lobby abgepasst. Sie wollte sich bedanken. Hat sie gesagt. Ich habe sie zu einem Kaffee eingeladen, und wir sind ins Gespräch gekommen. Sie hat erzählt, dass sie in einem Verlag arbeitet. Mir kam die Idee, ihr dein Manuskript zum Lesen zu geben. Ich hielt es für einen guten Weg, dir zu helfen, ohne mich einzumischen. Ich schrieb es dir.“ Er zögerte, ob er weiterreden solle. Er entschied sich trotz der Unruhe, die ihn umgab, dafür. Er sagte leise, fast kleinlaut: „Sie war schon hier, als ich dir das erste Mal schrieb. Darum hatte ich dich um das Manuskript gebeten. Sie sollte es lesen und beurteilen. Dann kam jedoch diese Hiobs-Botschaft, es hieß, in ihrem Verlag liefe einiges schief. Konkret gesprochen stand ihr Job auf dem Spiel. Wahrscheinlich hat sie ihn schon nicht mehr. Das hat sie ziemlich umgehauen. Sie ist zwei Tage später Hals über Kopf abgereist. Mich hat das vor ein Problem gestellt. Sollte ich dich anrufen und zu dir sagen: ‚Komm nicht her, mein lieber Neffe, es lohnt nicht mehr. Wegen deines Buches.‘ Ich hätte dir das aus der Ferne nicht erklären wollen.“ Er machte eine kurze Pause, er überlegte, ob er weiterreden sollte, konnte. Er sagte dann: „Jetzt bin ich froh, dass ich dich nicht angerufen habe. Ich bin sicher, es lohnt sich, dass du gekommen bist. Für dich. Für euch. Wo du diese nette Freundin hast und euch ein Aufenthalt im Golden Mountain gut tut.“ Er hatte zuletzt lauter und recht schnell gesprochen. Er wirkte erleichtert. Er wurde jedoch aus dem Hintergrund gemahnt. Dringend, drängend. Unnachgiebig. Er klang nun aufgeregt, ungehalten. „Erasmus, du musst mich nicht all diese Sachen fragen. Schon gar nicht übers Telefon und erst recht nicht, wo es hier so teuflisch zur Sache geht. Wenn du den Weg, den du eingeschlagen hast, weiter gehen willst, musst du auch Geduld aufbringen. Und du musst mir vertrauen. Ich mische mich jedenfalls nicht in diese Angelegenheit. So.“
Ich bedankte und entschuldigte mich und wünschte ihm einen guten Verlauf des weiteren Kongresses. Anschließend saß ich zunächst stumm. Ich starrte. Auf das Champagner-Glas, auf das Bild mit dem abstrakten Motiv, das an der Wand hing, auf die tief stehende Sonne inmitten des malerischen Bergpanoramas.
Tineke versuchte mich zu trösten, aufzurichten. Sie hatte die letzten Worte mithören können. Wegen der Nachdrücklichkeit, der Lautstärke.
Sie verteidigte Edward Erster nun, sie wusch mir den Kopf. „Es war unnötig, ihn zu nerven. Er hat Recht. Wenn du seine unmittelbare Hilfe nicht willst, musst du tatsächlich Geduld aufbringen. Und was ist daran so schlimm? Du und ich, wir sind jetzt hier. Wir haben uns entschlossen, den vorhandenen Luxus auszukosten und uns von niemandem verschrecken zu lassen. Hast du gesehen, was es hier alles gibt? Beheizter Pool, Sauna, Salzfass, einen Kosmetiksalon, eine Bar mit erlesenen Cocktails. Nur von einem persönlichen Butler steht nichts in den Prospekten. Der wird demnach nicht gleich jedem zugeteilt. Nur den erlesenen Gästen.“
„Soll ich den Direktor anrufen und sagen, wir haben uns anders entschieden. Meine wunderbare Freundin möchte halt doch mal ausprobieren, wie das ist, ein persönlicher Butler?“ Ich griff demonstrativ zum Telefon. „Von wegen!“, kreischte sie. Und sie schwenkte das pompös gestaltete Hotelprospekt. „Ich möchte ganz was anderes. Hier steht, man kann im Bett frühstücken. Sie bringen einem alles herauf. Alles. Bitte Erasmus, das vor allem wünsche ich mir. Wünschst du dir das nicht auch?“
Ich schloss kurz die Augen, ich atmete tief durch. „Ja“, sagte ich. „Das wünsche ich mir. Aber bitte nicht von einem Butler serviert.“  

Wir tranken auf der Restaurantterrasse des Hotels Kaffee und Wein, und später schwammen wir im blauen Wasser des Hotel-Pools. Wir tunkten in Holzbottichen mit duftenden Essenzen, rieben uns mit Salz ein und aalten uns unter verschiedensten Wasserbrausen und Farblampen. Tineke ließ sich eine komplizierte Gesichtsmaske im Kosmetiksalon auflegen, ich schwitzte ganz allein im wohligen Kräuterdunst eines großen Saunakastens. Zum Abend bestellten wir uns im vornehmen Restaurantgewölbe des Hotels das neungängige Menü nach Art des Hauses und ließen uns an der Club-Bar Cocktails mit exotisch klingenden Namen mixen. Wir nippten daran und bestellten uns das nächste Getränk. Einfach so. Weil wir ausgelassen und glücklich waren. Überall umschwärmten uns Kellner und Keeper, unter denen sich vielleicht auch ein verkleideter Butler befand. Kerzenschein und ein milder Duft, die Klänge dezenter Hintergrundmusik begleiteten uns. Wir schwelgten und genossen. Wir waren ausgelassen und redeten nicht über die Unklarheiten der zurückliegenden Tage oder über Zukunftssorgen. Nicht mal über betreuungsbedürftige Großmütter und vermeintlich stümperhaft verfasste Manuskripte, nicht über unseren Gönner Edward Erster und dessen Kongressverpflichtungen. Schon gar nicht erwähnte ich das Treffen an Brücke sieben, das nun wieder ein paar Stunden näher gerückt war. Nein, ich hatte es aus meinen Gedanken ausgeblendet. Es war alles zu berauschend. Das riesige Hotelbett mit den duftenden Bezügen, das Bad, das vielmehr einem Labyrinth glich, das kontrastierte so wohltuend und auch so unwahr zu meiner Hinterhofbehausung, selbst zum romantischen Küstenhaus der Henriette. Wir staunten und kicherten und summten wieder Red, white and blue. Und Tineke sagte: „Ich vermisse deinen Hamster und noch mehr das Knarren dieser alten Couch.“ Und ich erwiderte: „Und ich vermisse die unbequeme Luftmatratze und das gespenstische Klappern deiner Fensterläden. Keiner will uns überfallen.“ Wir ließen uns nach Mitternacht abermals zwei außergewöhnliche Cocktails auf das Zimmer bringen. Sie wurden von insgesamt drei Kellnern serviert, unter denen sich mindestens zwei Butler befanden, wiederum verkleidet. Wir stießen fröhlich auf uns und auf diese herrliche Nacht, auf unser Leben an. Wir lagen uns in den Armen. Ich flüsterte: „Es ist wie eine Hochzeitsnacht. Eine Hochzeitsnacht ohne Butler.“ Und Tineke flüsterte zurück: „Es ist viel zu schade, um die Zeit mit Schlafen zu vertun. Und da wir unserem Butler Ausgang gegeben haben, gibt es wenigstens keine Zeugen.“
Wir redeten und alberten, wir tranken und umarmten uns, und als uns endlich die Augen zufielen, wurde es draußen schon hell.
Wir erwachten am späten Vormittag. Die Sonnenstrahlen kamen durch die offene Balkontür hereingestürmt, sie tanzten wie lustige Kobolde über unsere Gesichter. Wir machten wahr, was wir uns vorgenommen hatten: Frühstück im Bett. Ein Tablett mit vielen geheimnisvollen Speisen und Getränken wurde verschmitzt diskret in unser Zimmer geschoben. Sonnenschein. Bergpanorama. Romantischer Kitsch, Realität. Tineke rekelte sich. „Der schönste Morgen unseres Lebens kann dies leider nicht mehr sein. Den hatten wir gestern.“ Sie seufzte voller glücklichem Bedauern. „Es sei denn, ein Reh würde plötzlich auf dem Balkon stehen und uns Glück wünschen. Du weißt schon, in der wunderbaren Sprache.“ „Nein“, erwiderte ich. „Ein Reh passt nicht in diese Umgebung. Es würde auf jeden Fall mit uns frühstücken wollen. Und das geht nicht.“
„Geht wohl. Es könnte Käse bekommen und Salatblätter. Auch Früchte. Orangensaft.“ Ich blieb bei meinem Widerspruch. „Es ist nicht wegen der Kost, sondern weil wir das schönste Frühstück unseres Lebens bereits hatten.“
„Ach ja.“ Tineke erinnerte sich. „Die Ofenfischer. Oder?“ „Ja“, sagte ich. „Die friesischen Wattgnome würden uns das niemals verzeihen, wenn wir das schönste Frühstück unseres Lebens wiederholen würden. Sie würden sich dann verpflichtet fühlen, in unserer Nähe zu sein. Also müssten sie uns ins Hotel folgen. Und das wäre ihr Untergang. Die Hoteldirektoren und die persönlichen Butler hassen die Ofenfischer, wie man nur irgendwas und irgendwen hassen kann. Sie würden sie einfangen und in der Küche zur Sklavenarbeit zwingen.“
Tineke fuhr auf. „Sag bloß. Und warum?“
„Keiner weiß es genau. Ich schon mal gar nicht. Ich wusste ja bis vor ein paar Tagen noch nicht mal von der Existenz der Ofenfischer.“
„Aber von der Existenz des Schweizleins wusstest du schon. Oder?“ Ich grinste. „Auf jeden Fall. Mindestens seit drei oder vier Jahren. Ich wusste aber nicht, dass es im Schweizlein so viele Butler gibt. Getarnte auch noch.“
Wir sahen uns an. Wir kicherten. 

Folge 15 vom 14. April. 2020  

Nach dem Mittag erst krochen wir aus dem Bett. Tineke sagte: „Ich möchte unbedingt auch wandern. Nur im Hotel hocken, das ist kein richtiger Urlaub. Dafür kommt kein gebildeter Mensch in das wunderbare Schweizlein. Ich will die Berge sehen und das einmalig spezielle Grün der Almen. Und die sagenhaften Schweiz-Kühe sowieso. Vor allem will ich hören, ob sie beim Muhen denselben Dialekt benutzen wie die anderen Einheimischen. Und ich will Blumen pflücken und schweizcharakteristische Fotos machen, die ich demnächst meiner Henriette zeigen kann.“
„Sie war niemals in der Schweiz, deine Henriette“, vermutete ich treffsicher. „Nur mal im Sauerland. Und davon zehrt sie noch heute. Als wäre es eine Weltreise. Oder?“ Tineke protestierte. „Spiel mal bitte nicht den Großkotz, du potenziell reicher Kapitalisten-Neffe. Meine Henriette war nicht nur im Sauerland, sondern auch im Schwarzwald. Und im Harz. Und zweimal in Holland und später gar in Oberammergau. Sie hat alles mit der Bahn oder mit dem Bus und zu Fuß bewältigt. Also waren es auch Weltreisen. Für sie. Und für mich. Wenn du es genau wissen willst, haben diese Urlaube vor allem wegen mir stattgefunden. Und mit mir. Damit ich was sehe von der wunderbaren Welt und damit ich mich erhole. Weil ich dünn war und erschöpft und krank. Und weil mich die Welt nicht gut behandelt hatte. Mich, das geplagte Scheidungskind. Und natürlich aus Gründen der Vorsorge. Falls mal ein als bettelarm sich ausgebender Kapitalistenerbe meinen Weg kreuzen sollte. So ein eigensinniger Schriftsteller, dem ich ein paar eigene Lebenserfahrungen würde entgegensetzen müssen.“
Sie hatte sich in meinen Arm gehakt. Wir stolzierten durch die Lobby des Hotels. Man nickte uns respektvoll zu. Und dienerte und knickste man nicht auch? Verbeugungen, bei denen die pomadegetränkten Frisuren trotz tief geneigten Kopfes am Schädel klebten, und Knickse, bei denen sogar die Kleidersäume der nur knielangen Dienströcke den spiegelglatten Fußboden polierten. Der ursprünglich als bettelarm getarnte Schriftsteller mit seiner hübschen Freundin. Die beiden hatten freiwillig auf ihren persönlichen Butler verzichtet. Trotzdem und gerade deshalb: Warm halten, das sind und das werden gute Pfründen. Diese zwei. Jetzt und später.
Immerhin, Tineke fand sich inzwischen gut mit der Rolle der Kapitalistenfreundin zurecht. Schnell hatte sie gelernt, den Umgang mit dem Luxus zu meistern. Unverbindlich erwiderte Freundlichkeit. Distanz. Selbstsicherheit.
Und doch war sie froh, als wir uns außerhalb des Hotels befanden. Außer Sichtweite der diversen Augenpaare. Weg von den Schönen und Reichen. Von den Verwöhnten und den Bequemen. Auf frohem Wanderkurs. Kraxeln. Auf sanften Bergpfaden und in lauschigen Wäldern. Wir waren unbeobachtet und konnten wieder albern und ausgelassen sein. Wir sangen kitschige Volkslieder, wir schunkelten, während wir liefen. Wir belauschten die rotbunten Kühe, aus deren Euter jeden Abend beim Melken die auffällig verpackten Schweiz-Tafeln purzelten. Wir pflückten schlicht blühende Blumen und langhalmige Gräser, mit denen wir uns gegenseitig kitzelten, bewarfen und schmückten.
Und wir kehrten nach strammer Nachmittagswanderung auf des Berges Gipfel ein. In jenes Café mit dem wunderbarsten Ausblick, den wir uns vorstellen wollten und mit dem profansten Namen, den man sich vorstellen konnte. Berg Café. Es herrschte wenig Betrieb, vielleicht, weil wir uns in der Phase zwischen Kaffeezeit und Abendbrot befanden.
Und doch hätten wir beinahe ihn übersehen. Edward Erster, der mein Onkel war. War er, saß er wirklich hier?
Ich glaubte es zunächst nicht. Es passte kein bisschen in die Beschreibungen seines Tagespensums, zu seinen Auftritten, zu seinen Klagen und dem Stöhnen am Telefon. Nun gut, er, wenn er es war, hatte sich im Wintergarten platziert. Diskret, gedeckt, den Rücken zu uns und den anderen wenigen Gästen gekehrt. Wir sahen sein Gesicht nicht. Aber die Gesten und die Kontur, auch die Kleidung sprachen für sich, für ihn: Dies war Edward Erster, nur er.
Nein, nicht nur er. Nicht allein, sondern zu zweit.
Damengesellschaft. Gut aussehend. Blond, glattes Gesicht, Sonnenbrille, charmant lächelnd. Nicht mal halb so alt wie er.
Guter Geschmack, dachte ich, wie immer.
Eine Eroberung? Aus welch anderem Grund sollte sich Edward Erster hier aufhalten? Zumal er nun auch jene Schlacht verlassen hatte, in der er sich auf jeden Fall hatte behaupten wollen, müssen, sollen. So wie er es voller Nachdruck verkündet hatte. Mir, Tineke. Der Kampf um die Ablehnung des Vorsitz-Postens.
„Soll ich hingehen und ihn ansprechen?“ Ich hatte für einen Augenblick diese Idee. „Nein!“, beschwor mich Tineke. „Es könnte ihm peinlich sein. Es könnte seine Begleiterin in Verlegenheit bringen. Man nennt das kompromittieren. Vor allem, er könnte denken, wir spionieren ihm nach.“ Sie lächelte auf einmal verständnisvoll. „Und wenn es eine Affäre ist, geht uns das rein gar nichts an. Oder? Lass uns verschwinden, solange er uns nicht bemerkt hat.“  

Es war gut, dass wir keine Neuauflage des vorigen Abends, der vorigen Nacht veranstalteten. Wir hatten diesmal mehr Schlaf, wir wurden somit durch das morgendliche Summen des Zimmer-Telefons nicht völlig überrascht.
Überrascht aber wurden wir. Acht Uhr.
Nun gut, ich hörte zunächst nichts als tiefe, unregelmäßige Atemzüge. Doch ich dachte, ahnte, wusste, wer sich an der anderen Seite der Leitung befand. Die aufgeregt hervorgestoßenen Worte bestätigten es sowieso. „Lass uns heute abfahren, Erasmus!“ Es war Edward Erster, der darum bat.
Ich wartete, dass er gleich mehr sagen würde. Nein, es blieb still, nur seine Atemzüge drangen erneut wie die Geräusche eines heftig arbeitenden Blasebalgs zu mir.
Ich dachte, er wird seine Gründe haben. Ich sagte daher: „Meinetwegen. Tineke fängt in Kürze ihren neuen Job an, und für mich ist es auch gut, wenn ich zu Hause einiges regeln kann. Ich bin gegen zehn bei dir am Hotel.“
Edward Erster fand seine Sprache sofort wieder. Aufgeregt, ungeduldig. „Um zehn? Himmel, wir müssen gleich los! Ich bin schon unten in deinem Hotel. Wir nehmen den Hawk; du fährst.“ Er hatte so laut geredet, auf dass Tineke sich aufsetzte im Bett und sich die Augen rieb. „Ist was passiert?“
Ich gab ihre Frage an Edward weiter.
„Das erkläre ich dir, wenn wir unterwegs sind. Vielleicht.“
Damit war das Gespräch zu Ende. Ich ließ mich auf das Kopfkissen zurückfallen. Ich schloss die Augen und versuchte meine Gedanken zu sortieren. Tineke richtete sich auf. Sie sah mich wissend an. „Dein Onkel steckt in der Klemme. Oder?“ Ihre Stimme klang ausgeschlafen. Sie zog an meiner Decke.
„Er will weg hier. Er wartet unten. Es hört sich tatsächlich an, als sei er Schwierigkeiten.“
„Wegen der Vorstandswahl?“ „Ich tippe eher auf die blonde Schönheit, mit der wir ihn gesehen haben. Vermutlich hat er ihr große Versprechungen gemacht, um sie schneller erobern zu können. Seine Spezialstrecke.“
„So kann’s gehen.“ Tineke hüpfte aus dem Bett. Sie kicherte. „Ich will mal stark hoffen, dass du seine Masche bei mir nicht kopierst. Das könnte unangenehme Folgen haben. Für dich.“ Sie verschwand im Sanitärlabyrinth unserer Luxussuite. Doch sie tauchte gleich wieder auf und warf ihren Pyjama nach mir. „Trotzdem sollten wir deinen Ex-Eskimo nicht im Stich lassen. Komm duschen, danach verschwinden wir.“ Schon rauschte das Wasser. 

Das Frühstück entfiel. So sehr eilig hatte es Edward Erster. Er wollte zunächst auch nicht über den Grund der überstürzten Abreise reden. Gar nicht wollte er reden. Ein schlechtes Zeichen. Wir saßen im Silverhawk, wir starteten. Ich sollte fahren. Er hatte es vorhin beschlossen. „Und die Limousine, wer wird sich darum kümmern? Mit der bist du doch gekommen.“
Er winkte ab. Es sah oberflächlich aus. „Darüber müssen wir nicht reden. Vorerst habe ich von der Rezeption meines Hotels aus für einen Monat eine Einzelgarage gemietet. Dorthin wird der Wagen gebracht. Ich lasse ihn irgendwann abholen.“ Und er versprach: „Dass ich euch jetzt so abrupt den Urlaub versaue, tut mir leid. Ich mache das wieder gut.“
Tineke tröstete ihn. „Wir wollten sowieso nicht so lange bleiben.“
Er nickte. Es sah dankbar aus. Danach fiel er auf den Beifahrersitz und schwieg und starrte durch die Frontscheibe. Was mochte ihm durch den Kopf gehen? Tineke und ich schwiegen ebenfalls. Nach zwei Stunden beschloss ich, die Fahrt zu unterbrechen. „Wir haben noch keinen Happen gefrühstückt“, sagte ich. Und: „Und du, Edward, hast du nicht auch Hunger?“ 
Nein, Hunger hatte er nicht. Gerade noch Appetit auf einen Kaffee. Und auch den trank er schweigsam und spürbar missmutig.
Wir ließen ihn zunächst in Ruhe. Wir schwiegen mit. Wir schwiegen uns an. Schließlich fragte ich: „Wie ist das, wenn wir dich nach Berlin gebracht haben, können Tineke und ich dann mit deinem Hawk weiterfahren, an die Küste? Nur ein paar Tage. Dieses eine Mal noch.“ Es war, als würde ihn ein Giftpfeil treffen. Oder wenigstens eine Ladung eiskalten Wassers. Er zuckte zusammen, er schüttelte sich. „Berlin, um Himmels willen. Dort kann ich die nächsten vier Wochen nicht hin.“ Da wir ihn erstaunt anstarrten, sah er sich endlich zu einer Erklärung genötigt. „Ich habe jemandem meine Adresse gegeben. Einer Frau, um genau zu sein.“ Ich griente, und ich stieß Tineke an. Er sah es, er fauchte: „Nein, keine Affäre. Wenn es nur das wäre, hätte ich mich nicht so klammheimlich aus dem Staub gemacht.“ Ich staunte, Tineke ebenfalls. „Ich habe ihr versprochen, in einem Film mitzuwirken. Ein längerer Werbespot, in dem es um rüstige Senioren geht. Die Dreharbeiten sollen nach diesen vier Wochen beendet sein.“
„Was ist daran schlimm? Du bist rüstig. Und Senior bist du auch.“ Er schüttelte den Kopf. Und er starrte, als würde das Gift, das man ihm per Pfeil verabreicht hatte, jetzt wirken. Als würde es aus seinen Augen heraussprühen. „Danke für dieses fadenscheinige Kompliment. Ich fühle mich weder rüstig noch als Senior. Auch wenn die Achtundsiebzig in meinem Ausweis steht. Ich fühle mich mindestens so leistungsfähig wie einer, der halb so alt ist wie ich. Vollwertig. Oder meinst du, ich hätte sonst die Schlacht im Kongress so erfolgreich schlagen und meine Wahl zum Vorsitzenden abwenden können? So heftig wie sie mich mehrere Tage lang bedrängt und bearbeitet haben.“
Ich verstand ihn nicht. Ich sagte ihm das. Und ich sagte auch: „OK, du willst nicht zu deinem Alter stehen. Aber du könntest so tun. Wenn Schauspieler in Kriminalfilmen irgendwelche hinterhältigen Mörder darstellen, sind sie es ja in der Realität auch nicht. Jedenfalls ist mir kein Fall bekannt, in dem es so wäre.“ Er stöhnte. Er wischte mit einer Geste mein Argument vom Tisch. Und mit seiner Erklärung: „Ich habe dieser Frau zugesagt, dass wir den Spot in meiner Villa drehen können. Mit alten und jungen Leuten. Wir wollten so tun, als ob ich allen erlaubt hätte, bei mir zu wohnen.“
„O“, entfuhr es Tineke. „Ein Mehrgenerationen-Projekt. Das ist ja cool.“
Er schüttelte mürrisch den Kopf. „Ich will das nicht. Ich hatte das zuerst nicht so wahrgenommen. Aber inzwischen habe ich das Gefühl, es ist die Realität. Ich spüre, wie ich mich immer weiter hineinsteigere. Und ich erkenne, dass man mich in dieser Realität voll auf die Seite der Alten gestellt hat. Das macht mich depressiv. Und alt.“ Wir hatten das Restaurant verlassen und waren jetzt auf dem Parkplatz. Wir stiegen in seinen Hawk. Er starrte, während wir über die Autopiste sausten, erneut durch die Frontscheibe. Nur das. Er schwieg dabei. Tineke und ich starrten und schwiegen mit. Nicht mehr lange und wir würden das Autobahnkreuz mit dem Abzweig erreicht haben. Berlin, die Küste. Viele andere Ziele. Wohin sollte es gehen?
Ich fand das Schweigen und Starren furchtbar. Ich schlug endlich vor: „Du solltest untertauchen. Im Ausland. Am besten im Ostblock. Oder in China. Dort wird dich niemand vermuten. Niemand wird dich dort finden.“
Er sah ärgerlich aus. Er fauchte: „Spar dir den Zynismus.“
War ich zynisch? „Na gut“, lenkte ich ein. „Dann nimm dir hier ein Hotel. Oder geh in die Staaten.“
Er schüttelte missmutig den Kopf. „Irgendjemand wird mich erkennen. Es geht ganz schnell. Gerade, wenn man’s speziell auf Geheimhaltung angelegt hat. Sofort ist es in der Presse oder in der Glotze, und die besagte Dame bekommt davon Wind und rückt mir auf den Pelz.“ Er schüttelte den Kopf, er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Er schimpfte leise. „Wie konnte ich nur so unbedarft sein.“ Er flüsterte: „Für eine Nacht ...“
Aha, dachte ich, ausgelassen hat er diese Gelegenheit also doch nicht. Ich empfand direkt ein bisschen Schadenfreude.
Dann murmelte er: „Ich hätte die Ferienhäuser nicht verkaufen und in Aktien umwandeln sollen. In dieser Einöde an der See, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, wäre ich jetzt unauffindbar. Regelrecht unsichtbar.“ Er machte ein verbittertes Gesicht. „Dieser Finanzberater mit seinen geldgierigen Ratschlägen, dieser Vollidiot.“ Ferienhäuser – Tineke hatte seinen Monolog ebenfalls mitbekommen. Sie stieß mich an. Sie hätte es nicht tun müssen, ich hatte im Augenblick den gleichen Gedanken wie sie. „Du, Edward“, fragte ich ziemlich zuversichtlich, „was hältst du davon, wenn wir zwei, das heißt wir drei, an die Küste fahren? In ein kleines Landhaus. Mit Familienanschluss.“
Er starrte nun nicht mehr die Frontscheibe, sondern mich an. Ich zeigte nach hinten. Dort saß Tineke. Sie erklärte ihm die Offerte. Ferienwohnung, Henriette, Abgeschiedenheit. Der Deich, die Wiesen, Ebbe und Flut, die blökenden Schafe. Vier Wochen oder mehr. Allerdings: niemand zum Verführen.
Und die Ofenfischer? Nein, die verschwieg sie, denn die würde er ohnedies nicht zu sehen bekommen. Er schon mal gar nicht. Dafür aber galt für ihn: absolutes Inkognito inklusive. Edward Ersters Gesicht wurde hell, es belebte sich. Er bat, ich möge an der nächsten Raststätte halten, denn er habe heute noch nicht gefrühstückt.
Alles konnte, es musste gut werden. Und wenn nicht alles, so doch eine Menge.


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2. Teil (dieser wunderbaren Geschichte)
VOR, HINTER UND AUF DEM DEICH     

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